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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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aschgraue Mittelalter, wo Naturwissenschaft und Medizin noch im ärgsten lagen.
Es macht auf deu Zuschauer unserer Art einen sonderbaren und unverständ¬
lichen, aber keinen herzerschütternden Eindruck, wenn wir sehen, wie kräftige
und gebrechliche Männer ihre kostbare körperliche Energie schweißtriefend beim
Ausüben des anstrengenden Dreisprunges verschwenden Die zu beobachtende
religiöse Andacht ist recht uneinheitlich. Die Geistlichen singen, aber sie springen
nicht, wohl weil sie die Buße nicht so nötig haben oder weil ihnen die
Anstrengung zu groß ist. Plaudernde und lachende Gruppen sind im Zuge
zu beobachten, solche, die nur vorwärts und auf der Stelle springen,
Greise und die große Zahl der alten Weiber, die es mit der Prozedur
äußerst ernst nehmen. Frauen, die desgleichen tun und ein drei- oder
vierjähriges Kindlein mit den Händen vor sich halten oder neben sich führen,
um auch ihm schon im frühen Alter das Springen beizubringen. Da zieht
eine Gruppe fremder Damen und Herren vorüber, bitter ernst mit feierlichem
Gesichtsausdrucke nach dem Polkamarsche tanzend und nach wenigen hundert
Schritten aus dem Zuge mit Gelächter wieder verschwindend. Wohl sehr viel
Prozessionsteilnehmer werden darunter sein, die "traditionell" springen, weil
sie es nicht anders und besser wissen, als daß eben am Pfingstdienstage ge¬
sprungen werden muß.

Dom Calmet (f 1757) berichtet, daß die hartgesottensten Sünderherzen
beim Anblick einer solchen Frömmigkeit erweicht und erschüttert werden, und
auch in diesem Jahre schreibt der Echternacher Anzeiger, daß der ergreifende
und überwültigeude Anblick einem unwillkürlich die Tränen in die Augen führt.
Bei uus war von alledem nichts zu merken. Wir trösten uns damit, daß wir
nicht die einzigen dieser Art sind. Auch anderen ist es so ergangen, auch solchen,
die dazu berufen waren, über das Sein oder Nichtsein der Springprozession zu
entscheiden. Bereits im Jahre 1696 sprach der von der Feier wenig befriedigte
Weihbischof von Trier von Abschaffung, während anderseits im Jahre 1721 der
Kurfürst von Trier sich an ihr erbaute und dem Kaiser Karl dem Sechsten, von
der "mit seltener Andacht ausgeübten Zeremonie" Mitteilung machen wollte.
Im Jahre 1777 wurde die Springprozession unter dem Neuerungskaiser Josef
dem Zweiten in eine Bittprozession ohne Instrumentalmusik umgewandelt und
auch diese bis 1790 völlig abgeschafft. Bis 1794 fand dann die Spring¬
prozession wieder statt, unterblieb aber dann nach dem Einfall der Franzosen
bis zum Jahre 1802. 1819 wurde sie auf den ersten Pfingstfeiertag verlegt.
Der Klerus wurde aber vom Volke und den fremden Pilgern im Stich gelassen,
die der Überlieferung gemäß die Prozession am Pfingstdienstag abhielten. An
diesem Tage findet sie auch heute noch statt; werden die Echternachter schon mit
Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen sich dieselbe je nehmen lassen?

Der große Tag von Echternach ging für uus zu Ende. Lange noch klang
uns die Litanei des heiligen Willibrord, "des Lichtes der Blinden", "der Blume
der Demut", "der Lilie der Keuschheit" in den Ohren. Interessant war es,


aschgraue Mittelalter, wo Naturwissenschaft und Medizin noch im ärgsten lagen.
Es macht auf deu Zuschauer unserer Art einen sonderbaren und unverständ¬
lichen, aber keinen herzerschütternden Eindruck, wenn wir sehen, wie kräftige
und gebrechliche Männer ihre kostbare körperliche Energie schweißtriefend beim
Ausüben des anstrengenden Dreisprunges verschwenden Die zu beobachtende
religiöse Andacht ist recht uneinheitlich. Die Geistlichen singen, aber sie springen
nicht, wohl weil sie die Buße nicht so nötig haben oder weil ihnen die
Anstrengung zu groß ist. Plaudernde und lachende Gruppen sind im Zuge
zu beobachten, solche, die nur vorwärts und auf der Stelle springen,
Greise und die große Zahl der alten Weiber, die es mit der Prozedur
äußerst ernst nehmen. Frauen, die desgleichen tun und ein drei- oder
vierjähriges Kindlein mit den Händen vor sich halten oder neben sich führen,
um auch ihm schon im frühen Alter das Springen beizubringen. Da zieht
eine Gruppe fremder Damen und Herren vorüber, bitter ernst mit feierlichem
Gesichtsausdrucke nach dem Polkamarsche tanzend und nach wenigen hundert
Schritten aus dem Zuge mit Gelächter wieder verschwindend. Wohl sehr viel
Prozessionsteilnehmer werden darunter sein, die „traditionell" springen, weil
sie es nicht anders und besser wissen, als daß eben am Pfingstdienstage ge¬
sprungen werden muß.

Dom Calmet (f 1757) berichtet, daß die hartgesottensten Sünderherzen
beim Anblick einer solchen Frömmigkeit erweicht und erschüttert werden, und
auch in diesem Jahre schreibt der Echternacher Anzeiger, daß der ergreifende
und überwültigeude Anblick einem unwillkürlich die Tränen in die Augen führt.
Bei uus war von alledem nichts zu merken. Wir trösten uns damit, daß wir
nicht die einzigen dieser Art sind. Auch anderen ist es so ergangen, auch solchen,
die dazu berufen waren, über das Sein oder Nichtsein der Springprozession zu
entscheiden. Bereits im Jahre 1696 sprach der von der Feier wenig befriedigte
Weihbischof von Trier von Abschaffung, während anderseits im Jahre 1721 der
Kurfürst von Trier sich an ihr erbaute und dem Kaiser Karl dem Sechsten, von
der „mit seltener Andacht ausgeübten Zeremonie" Mitteilung machen wollte.
Im Jahre 1777 wurde die Springprozession unter dem Neuerungskaiser Josef
dem Zweiten in eine Bittprozession ohne Instrumentalmusik umgewandelt und
auch diese bis 1790 völlig abgeschafft. Bis 1794 fand dann die Spring¬
prozession wieder statt, unterblieb aber dann nach dem Einfall der Franzosen
bis zum Jahre 1802. 1819 wurde sie auf den ersten Pfingstfeiertag verlegt.
Der Klerus wurde aber vom Volke und den fremden Pilgern im Stich gelassen,
die der Überlieferung gemäß die Prozession am Pfingstdienstag abhielten. An
diesem Tage findet sie auch heute noch statt; werden die Echternachter schon mit
Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen sich dieselbe je nehmen lassen?

Der große Tag von Echternach ging für uus zu Ende. Lange noch klang
uns die Litanei des heiligen Willibrord, „des Lichtes der Blinden", „der Blume
der Demut", „der Lilie der Keuschheit" in den Ohren. Interessant war es,


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[0617] aschgraue Mittelalter, wo Naturwissenschaft und Medizin noch im ärgsten lagen. Es macht auf deu Zuschauer unserer Art einen sonderbaren und unverständ¬ lichen, aber keinen herzerschütternden Eindruck, wenn wir sehen, wie kräftige und gebrechliche Männer ihre kostbare körperliche Energie schweißtriefend beim Ausüben des anstrengenden Dreisprunges verschwenden Die zu beobachtende religiöse Andacht ist recht uneinheitlich. Die Geistlichen singen, aber sie springen nicht, wohl weil sie die Buße nicht so nötig haben oder weil ihnen die Anstrengung zu groß ist. Plaudernde und lachende Gruppen sind im Zuge zu beobachten, solche, die nur vorwärts und auf der Stelle springen, Greise und die große Zahl der alten Weiber, die es mit der Prozedur äußerst ernst nehmen. Frauen, die desgleichen tun und ein drei- oder vierjähriges Kindlein mit den Händen vor sich halten oder neben sich führen, um auch ihm schon im frühen Alter das Springen beizubringen. Da zieht eine Gruppe fremder Damen und Herren vorüber, bitter ernst mit feierlichem Gesichtsausdrucke nach dem Polkamarsche tanzend und nach wenigen hundert Schritten aus dem Zuge mit Gelächter wieder verschwindend. Wohl sehr viel Prozessionsteilnehmer werden darunter sein, die „traditionell" springen, weil sie es nicht anders und besser wissen, als daß eben am Pfingstdienstage ge¬ sprungen werden muß. Dom Calmet (f 1757) berichtet, daß die hartgesottensten Sünderherzen beim Anblick einer solchen Frömmigkeit erweicht und erschüttert werden, und auch in diesem Jahre schreibt der Echternacher Anzeiger, daß der ergreifende und überwültigeude Anblick einem unwillkürlich die Tränen in die Augen führt. Bei uus war von alledem nichts zu merken. Wir trösten uns damit, daß wir nicht die einzigen dieser Art sind. Auch anderen ist es so ergangen, auch solchen, die dazu berufen waren, über das Sein oder Nichtsein der Springprozession zu entscheiden. Bereits im Jahre 1696 sprach der von der Feier wenig befriedigte Weihbischof von Trier von Abschaffung, während anderseits im Jahre 1721 der Kurfürst von Trier sich an ihr erbaute und dem Kaiser Karl dem Sechsten, von der „mit seltener Andacht ausgeübten Zeremonie" Mitteilung machen wollte. Im Jahre 1777 wurde die Springprozession unter dem Neuerungskaiser Josef dem Zweiten in eine Bittprozession ohne Instrumentalmusik umgewandelt und auch diese bis 1790 völlig abgeschafft. Bis 1794 fand dann die Spring¬ prozession wieder statt, unterblieb aber dann nach dem Einfall der Franzosen bis zum Jahre 1802. 1819 wurde sie auf den ersten Pfingstfeiertag verlegt. Der Klerus wurde aber vom Volke und den fremden Pilgern im Stich gelassen, die der Überlieferung gemäß die Prozession am Pfingstdienstag abhielten. An diesem Tage findet sie auch heute noch statt; werden die Echternachter schon mit Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen sich dieselbe je nehmen lassen? Der große Tag von Echternach ging für uus zu Ende. Lange noch klang uns die Litanei des heiligen Willibrord, „des Lichtes der Blinden", „der Blume der Demut", „der Lilie der Keuschheit" in den Ohren. Interessant war es,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/617>, abgerufen am 25.07.2024.