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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das polnische Problem und die preußische Gstmarkenpolitik

Schon im Jahre 1746 hatte der König geschrieben: "Von allen Nachbarn
Preußens ist das russische Reich der gefährlichste, sowohl durch seine Macht,
wie durch seine örtliche Lage."

Gilt dieser Satz heute noch oder heute wieder? Der große König
begründete damals seine Ansicht mit dem Hinweis auf "die ungeheure Zahl
ihrer leichten Truppen, die Preußen von Grund aus zu verwüsten imstande wären,
während man ihnen den Schaden, den sie anrichten, nicht vergelten kann."
Mit dieser Begründung ist heute sicher nichts anzufangen, wenn auch in
Rußland, wie ich in meinen "Russischen Briefen" nachgewiesen habe, Stimmungen
wirksam sind, die uns fast gewaltsam zu den Ausfassungen des großen Königs
zurückführen. Immerhin: stellt man die Verschiebung der politischen Konstellation
seit den Unterredungen zwischen Bismarck und Jgnatjew in Rechnung, erinnert
man sich der Tatsache des franko-russischen Bündnisses, zieht man weiter in
Betracht, wie energisch Rußland sich einerseits von neuem der europäischen
Politik zugewandt hat und wie anderseits die deutsche Industrie- und Export¬
politik Rußland mit geradezu elementarer Gewalt zu zwingen scheinen -- man
könne meinen, gegen den Willen der Machthaber -- auf unseren Osten zu
drücken, dann freilich erscheinen die deutsch-russischen Beziehungen unter einem
Licht, das uns auf die Auffassungen des großen Preußenkönigs zurückführen kann.

Man wird freilich, um nicht in bodenlosen Pessimismus zu verfallen, gut
tun, sich dessen bewußt zu bleiben, daß heutzutage im Kampfe der Völker die
Mittel vielseitiger geworden sind, so daß das Vorhandensein zahlreicher "leichter
Truppen" allein keinen Grund zur Besorgnis mehr bilden könnte. Wohl aber
spielen moralische Kräfte bei den beteiligten Völkern eine umso größere Rolle.
Bei den Polen ist nun folgende eigentümliche, früher noch nicht beobachtete
Tatsache eingetreten: das in drei Staatsgebiete eingeordnete Volk spielt,
obwohl es kein in sich geschlossenes Wirtschaftsgebiet beherrscht, obwohl es keine
eigenen, den Weltmarkt beeinflussenden Finanzen hat, wirtschaftlich eine so
bedeutende Rolle, daß Deutschland und Rußland mit ihm wirtschaftlich rechnen,
und daß jeder dieser Staaten vom anderen gezwungen werden kann, mit den
Polen politisch zu rechnen. Die Tatsache, daß Deutschland eine halbe Million
Polen, die außerhalb der Reichsgrenze beheimatet sind, und eine Million eigene
Polen unbedingt braucht, um die Anforderungen der heimischen Wirtschaft zu
befriedigen, ist nicht aus der Welt zu schaffen. Die weitere Tatsache, daß unsere
die Weltpolitik umspannende Industrie- und Exportpolitik zu einem guten
Teil auf dem Vorhandensein der polnischen Arbeitskräfte beruht, ist im Auslande
so bekannt und wird in Rußland und Frankreich schon so oft in den Bereich
politischer Erwägungen gezogen, daß wir uns nicht mehr scheuen dürfen, sie
auch uns einzugestehen. Jede Tonne Eisen oder Kohle, die wir mehr aus¬
führen, jeder Kilometer Eisenbahn, den wir in Oberschlesien oder in den ent¬
ferntesten Kolonien strecken, bedeutet eine Bereicherung für die Polen, die außerhalb
Deutschlands wohnen, also auch für Rußland!


Das polnische Problem und die preußische Gstmarkenpolitik

Schon im Jahre 1746 hatte der König geschrieben: „Von allen Nachbarn
Preußens ist das russische Reich der gefährlichste, sowohl durch seine Macht,
wie durch seine örtliche Lage."

Gilt dieser Satz heute noch oder heute wieder? Der große König
begründete damals seine Ansicht mit dem Hinweis auf „die ungeheure Zahl
ihrer leichten Truppen, die Preußen von Grund aus zu verwüsten imstande wären,
während man ihnen den Schaden, den sie anrichten, nicht vergelten kann."
Mit dieser Begründung ist heute sicher nichts anzufangen, wenn auch in
Rußland, wie ich in meinen „Russischen Briefen" nachgewiesen habe, Stimmungen
wirksam sind, die uns fast gewaltsam zu den Ausfassungen des großen Königs
zurückführen. Immerhin: stellt man die Verschiebung der politischen Konstellation
seit den Unterredungen zwischen Bismarck und Jgnatjew in Rechnung, erinnert
man sich der Tatsache des franko-russischen Bündnisses, zieht man weiter in
Betracht, wie energisch Rußland sich einerseits von neuem der europäischen
Politik zugewandt hat und wie anderseits die deutsche Industrie- und Export¬
politik Rußland mit geradezu elementarer Gewalt zu zwingen scheinen — man
könne meinen, gegen den Willen der Machthaber — auf unseren Osten zu
drücken, dann freilich erscheinen die deutsch-russischen Beziehungen unter einem
Licht, das uns auf die Auffassungen des großen Preußenkönigs zurückführen kann.

Man wird freilich, um nicht in bodenlosen Pessimismus zu verfallen, gut
tun, sich dessen bewußt zu bleiben, daß heutzutage im Kampfe der Völker die
Mittel vielseitiger geworden sind, so daß das Vorhandensein zahlreicher „leichter
Truppen" allein keinen Grund zur Besorgnis mehr bilden könnte. Wohl aber
spielen moralische Kräfte bei den beteiligten Völkern eine umso größere Rolle.
Bei den Polen ist nun folgende eigentümliche, früher noch nicht beobachtete
Tatsache eingetreten: das in drei Staatsgebiete eingeordnete Volk spielt,
obwohl es kein in sich geschlossenes Wirtschaftsgebiet beherrscht, obwohl es keine
eigenen, den Weltmarkt beeinflussenden Finanzen hat, wirtschaftlich eine so
bedeutende Rolle, daß Deutschland und Rußland mit ihm wirtschaftlich rechnen,
und daß jeder dieser Staaten vom anderen gezwungen werden kann, mit den
Polen politisch zu rechnen. Die Tatsache, daß Deutschland eine halbe Million
Polen, die außerhalb der Reichsgrenze beheimatet sind, und eine Million eigene
Polen unbedingt braucht, um die Anforderungen der heimischen Wirtschaft zu
befriedigen, ist nicht aus der Welt zu schaffen. Die weitere Tatsache, daß unsere
die Weltpolitik umspannende Industrie- und Exportpolitik zu einem guten
Teil auf dem Vorhandensein der polnischen Arbeitskräfte beruht, ist im Auslande
so bekannt und wird in Rußland und Frankreich schon so oft in den Bereich
politischer Erwägungen gezogen, daß wir uns nicht mehr scheuen dürfen, sie
auch uns einzugestehen. Jede Tonne Eisen oder Kohle, die wir mehr aus¬
führen, jeder Kilometer Eisenbahn, den wir in Oberschlesien oder in den ent¬
ferntesten Kolonien strecken, bedeutet eine Bereicherung für die Polen, die außerhalb
Deutschlands wohnen, also auch für Rußland!


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[0593] Das polnische Problem und die preußische Gstmarkenpolitik Schon im Jahre 1746 hatte der König geschrieben: „Von allen Nachbarn Preußens ist das russische Reich der gefährlichste, sowohl durch seine Macht, wie durch seine örtliche Lage." Gilt dieser Satz heute noch oder heute wieder? Der große König begründete damals seine Ansicht mit dem Hinweis auf „die ungeheure Zahl ihrer leichten Truppen, die Preußen von Grund aus zu verwüsten imstande wären, während man ihnen den Schaden, den sie anrichten, nicht vergelten kann." Mit dieser Begründung ist heute sicher nichts anzufangen, wenn auch in Rußland, wie ich in meinen „Russischen Briefen" nachgewiesen habe, Stimmungen wirksam sind, die uns fast gewaltsam zu den Ausfassungen des großen Königs zurückführen. Immerhin: stellt man die Verschiebung der politischen Konstellation seit den Unterredungen zwischen Bismarck und Jgnatjew in Rechnung, erinnert man sich der Tatsache des franko-russischen Bündnisses, zieht man weiter in Betracht, wie energisch Rußland sich einerseits von neuem der europäischen Politik zugewandt hat und wie anderseits die deutsche Industrie- und Export¬ politik Rußland mit geradezu elementarer Gewalt zu zwingen scheinen — man könne meinen, gegen den Willen der Machthaber — auf unseren Osten zu drücken, dann freilich erscheinen die deutsch-russischen Beziehungen unter einem Licht, das uns auf die Auffassungen des großen Preußenkönigs zurückführen kann. Man wird freilich, um nicht in bodenlosen Pessimismus zu verfallen, gut tun, sich dessen bewußt zu bleiben, daß heutzutage im Kampfe der Völker die Mittel vielseitiger geworden sind, so daß das Vorhandensein zahlreicher „leichter Truppen" allein keinen Grund zur Besorgnis mehr bilden könnte. Wohl aber spielen moralische Kräfte bei den beteiligten Völkern eine umso größere Rolle. Bei den Polen ist nun folgende eigentümliche, früher noch nicht beobachtete Tatsache eingetreten: das in drei Staatsgebiete eingeordnete Volk spielt, obwohl es kein in sich geschlossenes Wirtschaftsgebiet beherrscht, obwohl es keine eigenen, den Weltmarkt beeinflussenden Finanzen hat, wirtschaftlich eine so bedeutende Rolle, daß Deutschland und Rußland mit ihm wirtschaftlich rechnen, und daß jeder dieser Staaten vom anderen gezwungen werden kann, mit den Polen politisch zu rechnen. Die Tatsache, daß Deutschland eine halbe Million Polen, die außerhalb der Reichsgrenze beheimatet sind, und eine Million eigene Polen unbedingt braucht, um die Anforderungen der heimischen Wirtschaft zu befriedigen, ist nicht aus der Welt zu schaffen. Die weitere Tatsache, daß unsere die Weltpolitik umspannende Industrie- und Exportpolitik zu einem guten Teil auf dem Vorhandensein der polnischen Arbeitskräfte beruht, ist im Auslande so bekannt und wird in Rußland und Frankreich schon so oft in den Bereich politischer Erwägungen gezogen, daß wir uns nicht mehr scheuen dürfen, sie auch uns einzugestehen. Jede Tonne Eisen oder Kohle, die wir mehr aus¬ führen, jeder Kilometer Eisenbahn, den wir in Oberschlesien oder in den ent¬ ferntesten Kolonien strecken, bedeutet eine Bereicherung für die Polen, die außerhalb Deutschlands wohnen, also auch für Rußland!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/593>, abgerufen am 25.07.2024.