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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das polnische Problem und die preußische Gstmarkenpolitik

diese Vereinbarung zurückgekommen, obwohl von französischer, angeblich heeres¬
amtlicher Seite den Russen im vorigen Jahre nachgewiesen worden ist, daß sie
ihre Streitkräfte an der Westgrenze ohne weiteres um dreihunderttausend Mann
durch die Polen vermehren könnten, wenn sie den Polen die Autonomie im
Königreich gewähren wollten. So darf man zwar feststellen, daß die Not¬
wendigkeiten der praktischen Politik immer noch über die Köpfe der Polen
hinweg zu einer Verständigung zwischen Deutschland und Rußland geführt
haben, daß aber doch immer wieder Momente eingetreten sind, die die Polen
als wichtige Bundesgenossen in Fragen der großen Politik erscheinen ließen,
woraus denn gefolgert werden darf, daß solche Momente auch späterhin immer
wieder einmal werden eintreten können. Es ist selbstverständlich, daß sich die
Polen dieser Eigentümlichkeit ihrer politischen Stellung zwischen den herrschenden
Völkern wohl bewußt sind und daß sie daraus als lebensvolles, selbstbewußtes
Volk die Pflicht für sich herleiten, für den großen Augenblick, in dem sich ihr
Schicksal erfüllen könnte, gerüstet zu sein.

Des Zusammenhanges der preußischen Ostmarkenpolitik mit den Fragen der
europäischen Politik, wie er in den angeführten Tatsachen zum Ausdruck kommt,
wird sich jeder preußische Staatsmann und Politiker erinnern, der eine sichere
Basis für die Beurteilung unserer Ostmarkenpolitik zu gewinnen strebt. Gelingt
ihm das, so wird ihm auch ohne weiteres einleuchten, daß wir es bei den
preußischen Polen nicht allein mit einem Bevölkerungssplitter von etwa vier
bis viereinhalb Millionen Menschen zu tun haben, der für sich genommen
wohl von einem funfzehnmal größeren Volke allmählich aufgesogen werden könnte,
sondern mit einem organischen Teil des Zwanzigmillionenvolkes, das zu
assimilieren den Deutschen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der Staatsmann
und Politiker, der dies Verhältnis zwischen der Zahl der Polen und der Deutschen
in den Rahmen der großen Politik einzusetzen weiß, wird kaum die Verant¬
wortung dafür übernehmen wollen, einer der beiden radikalen Parolen, die
bei uns ausgegeben werden, also entweder der sogenannten Ausrottungs¬
politik oder einer Versöhnungspolitik zu folgen. Ein Volk von zwanzig
Millionen mit der nationalen Regsamkeit der Polen läßt sich durch keinerlei Gewalt¬
maßregeln ausrotten, schon weil es eine Idee verkörpert, die nicht an den Leib
gebunden ist; ein Fünftel dieses, Volkes aber sich durch versöhnliche Politik assi¬
milieren wollen, ohne dabei die übrigen vier Fünftel zu berücksichtigen, käme
dem Versuch einer Amputation gleich, den man praktisch nicht höher bewerten
dürfte, wie den Ausrottungsversuch.

Man muß sich diesen Jdeengang einmal in Ruhe klargemacht haben, um
daran anschließend zu der Feststellung zu gelangen, daß es nur böswillige Ver¬
leumdung sein kann, den Führern des Ostmarkenvereins vorzuwerfen, sie wollten
die Polen in Preußen ausrotten! Man findet solche Behauptung in der pol¬
nischen Presse, die sie zur Agitation braucht, um das hier und da vielleicht
erlahmende Nationalbewußtsein bei den Polen immer von neuem zu beleben.


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Das polnische Problem und die preußische Gstmarkenpolitik

diese Vereinbarung zurückgekommen, obwohl von französischer, angeblich heeres¬
amtlicher Seite den Russen im vorigen Jahre nachgewiesen worden ist, daß sie
ihre Streitkräfte an der Westgrenze ohne weiteres um dreihunderttausend Mann
durch die Polen vermehren könnten, wenn sie den Polen die Autonomie im
Königreich gewähren wollten. So darf man zwar feststellen, daß die Not¬
wendigkeiten der praktischen Politik immer noch über die Köpfe der Polen
hinweg zu einer Verständigung zwischen Deutschland und Rußland geführt
haben, daß aber doch immer wieder Momente eingetreten sind, die die Polen
als wichtige Bundesgenossen in Fragen der großen Politik erscheinen ließen,
woraus denn gefolgert werden darf, daß solche Momente auch späterhin immer
wieder einmal werden eintreten können. Es ist selbstverständlich, daß sich die
Polen dieser Eigentümlichkeit ihrer politischen Stellung zwischen den herrschenden
Völkern wohl bewußt sind und daß sie daraus als lebensvolles, selbstbewußtes
Volk die Pflicht für sich herleiten, für den großen Augenblick, in dem sich ihr
Schicksal erfüllen könnte, gerüstet zu sein.

Des Zusammenhanges der preußischen Ostmarkenpolitik mit den Fragen der
europäischen Politik, wie er in den angeführten Tatsachen zum Ausdruck kommt,
wird sich jeder preußische Staatsmann und Politiker erinnern, der eine sichere
Basis für die Beurteilung unserer Ostmarkenpolitik zu gewinnen strebt. Gelingt
ihm das, so wird ihm auch ohne weiteres einleuchten, daß wir es bei den
preußischen Polen nicht allein mit einem Bevölkerungssplitter von etwa vier
bis viereinhalb Millionen Menschen zu tun haben, der für sich genommen
wohl von einem funfzehnmal größeren Volke allmählich aufgesogen werden könnte,
sondern mit einem organischen Teil des Zwanzigmillionenvolkes, das zu
assimilieren den Deutschen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der Staatsmann
und Politiker, der dies Verhältnis zwischen der Zahl der Polen und der Deutschen
in den Rahmen der großen Politik einzusetzen weiß, wird kaum die Verant¬
wortung dafür übernehmen wollen, einer der beiden radikalen Parolen, die
bei uns ausgegeben werden, also entweder der sogenannten Ausrottungs¬
politik oder einer Versöhnungspolitik zu folgen. Ein Volk von zwanzig
Millionen mit der nationalen Regsamkeit der Polen läßt sich durch keinerlei Gewalt¬
maßregeln ausrotten, schon weil es eine Idee verkörpert, die nicht an den Leib
gebunden ist; ein Fünftel dieses, Volkes aber sich durch versöhnliche Politik assi¬
milieren wollen, ohne dabei die übrigen vier Fünftel zu berücksichtigen, käme
dem Versuch einer Amputation gleich, den man praktisch nicht höher bewerten
dürfte, wie den Ausrottungsversuch.

Man muß sich diesen Jdeengang einmal in Ruhe klargemacht haben, um
daran anschließend zu der Feststellung zu gelangen, daß es nur böswillige Ver¬
leumdung sein kann, den Führern des Ostmarkenvereins vorzuwerfen, sie wollten
die Polen in Preußen ausrotten! Man findet solche Behauptung in der pol¬
nischen Presse, die sie zur Agitation braucht, um das hier und da vielleicht
erlahmende Nationalbewußtsein bei den Polen immer von neuem zu beleben.


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[0591] Das polnische Problem und die preußische Gstmarkenpolitik diese Vereinbarung zurückgekommen, obwohl von französischer, angeblich heeres¬ amtlicher Seite den Russen im vorigen Jahre nachgewiesen worden ist, daß sie ihre Streitkräfte an der Westgrenze ohne weiteres um dreihunderttausend Mann durch die Polen vermehren könnten, wenn sie den Polen die Autonomie im Königreich gewähren wollten. So darf man zwar feststellen, daß die Not¬ wendigkeiten der praktischen Politik immer noch über die Köpfe der Polen hinweg zu einer Verständigung zwischen Deutschland und Rußland geführt haben, daß aber doch immer wieder Momente eingetreten sind, die die Polen als wichtige Bundesgenossen in Fragen der großen Politik erscheinen ließen, woraus denn gefolgert werden darf, daß solche Momente auch späterhin immer wieder einmal werden eintreten können. Es ist selbstverständlich, daß sich die Polen dieser Eigentümlichkeit ihrer politischen Stellung zwischen den herrschenden Völkern wohl bewußt sind und daß sie daraus als lebensvolles, selbstbewußtes Volk die Pflicht für sich herleiten, für den großen Augenblick, in dem sich ihr Schicksal erfüllen könnte, gerüstet zu sein. Des Zusammenhanges der preußischen Ostmarkenpolitik mit den Fragen der europäischen Politik, wie er in den angeführten Tatsachen zum Ausdruck kommt, wird sich jeder preußische Staatsmann und Politiker erinnern, der eine sichere Basis für die Beurteilung unserer Ostmarkenpolitik zu gewinnen strebt. Gelingt ihm das, so wird ihm auch ohne weiteres einleuchten, daß wir es bei den preußischen Polen nicht allein mit einem Bevölkerungssplitter von etwa vier bis viereinhalb Millionen Menschen zu tun haben, der für sich genommen wohl von einem funfzehnmal größeren Volke allmählich aufgesogen werden könnte, sondern mit einem organischen Teil des Zwanzigmillionenvolkes, das zu assimilieren den Deutschen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der Staatsmann und Politiker, der dies Verhältnis zwischen der Zahl der Polen und der Deutschen in den Rahmen der großen Politik einzusetzen weiß, wird kaum die Verant¬ wortung dafür übernehmen wollen, einer der beiden radikalen Parolen, die bei uns ausgegeben werden, also entweder der sogenannten Ausrottungs¬ politik oder einer Versöhnungspolitik zu folgen. Ein Volk von zwanzig Millionen mit der nationalen Regsamkeit der Polen läßt sich durch keinerlei Gewalt¬ maßregeln ausrotten, schon weil es eine Idee verkörpert, die nicht an den Leib gebunden ist; ein Fünftel dieses, Volkes aber sich durch versöhnliche Politik assi¬ milieren wollen, ohne dabei die übrigen vier Fünftel zu berücksichtigen, käme dem Versuch einer Amputation gleich, den man praktisch nicht höher bewerten dürfte, wie den Ausrottungsversuch. Man muß sich diesen Jdeengang einmal in Ruhe klargemacht haben, um daran anschließend zu der Feststellung zu gelangen, daß es nur böswillige Ver¬ leumdung sein kann, den Führern des Ostmarkenvereins vorzuwerfen, sie wollten die Polen in Preußen ausrotten! Man findet solche Behauptung in der pol¬ nischen Presse, die sie zur Agitation braucht, um das hier und da vielleicht erlahmende Nationalbewußtsein bei den Polen immer von neuem zu beleben. 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/591>, abgerufen am 27.06.2024.