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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Wisby

felsen drohend in den Himmel dringen? Endlich kann das Auge sondern und
sichten. Hier ragt der Staffelgiebel der Alten Apotheke frei und kühn über
das armselige Häusergewimmel um ihn heraus. Dort sucht der Palast eines
hansischen Handelsherren es ihm gleich zu tun. Mörtel und Putz sind freilich
zum großen Teil vom Wetter abgenagt, und das nackte Gestein klagt die Ver¬
ständnis- und Pietätlosigkeit der jetzigen Herren an. Trutzig und sicher, fest
und breit strebt die letzte Giebelwand von Wisborg Stoll empor. Zeugen
längst entschwundener Pracht und regen kirchlichen Lebens sind die Ruinen der
Kirchen. Deren achtzehn hat es einst gegeben, elf sind in Trümmern erhalten.
Eine herbe, kraftvolle Schönheit bringen sie zum Ausdruck, und die wehniut-
volle Stimmung, die über den Resten entschwundener Herrlichkeit liegt, teilt
sich dem Beschauer mit. Freilich, wo einst fromme Meßgesänge erschallten,
da gurren die Tauben, oder es klingt traumverloren der Ruf eines Finken oder
einer Goldammer durch das Kirchenschiff. Wilder Wein und Efeu wuchern an
Pfeilern und Giebeln empor oder hängen voll und schwer in die Fenster herein.
Ebereschensträuche mit glühroten Beerenbüscheln fristen an Wänden oder auf
Gewölberippen ein kärglich Leben.

Grabsteine aus Kalkstein oder Basalt liegen hin und wieder verstreut
umher, wer kann heute noch ihre Zeichen deuten? In dem geheimnis¬
vollen Halbdunkel der Kirchen halten die vergangenen Jahrhunderte verschwiegene
Zwiesprache. "Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand", so raunt es
drinnen. Ganz deutsch unter einen die Kirchen in ihrem zielsicheren und stolzen
Aufbau an neben dem charakterlosen Ausdruck der Häuser der jetzigen Bewohner
Wisbys. Es scheint, als ob es vor sechshundert Jahren in die See versunken
und jetzt -- ein vergessenes Stück Mittelalter -- wieder aufgetaucht sei. Noch
heute geht der Besucher Wisbys durch die Bremer, Rostocker, Hamburger,
Danziger, Lübecker, Nowgoroder Grund oder trinkt einen Schoppen schwer ein¬
gebrauten Pilsner oder Münchener "Öls" in einer "Bierhalle". Noch heute
umläuft fast in ihrem alten Zustande die mit Türmen bewehrte Mauer bergauf,
bergab die Stadt und umschließt einen Bezirk, der für die neuntausend Ein¬
wohner Wisbys viel zu groß ist. Noch heute sind vor der Nordmauer drei¬
fache Wall- und Grabenanlagen zu sehen, von zinnengekrönten Türmen bewacht
wie vor Zeiten.

Das ist Wisby, "die Stadt der Ruinen und Rosen", die einstige Banner¬
trägerin des deutschen Gedankens in der Ostsee.

Wisby ist nach Ed. Heycks Urteil die einzige Stadt, die das den deutschen
Städten des Mittelalters eigentümliche Stadtbild bis auf den heutigen Tag
unberührt und unverfälscht erhalten hat.




Wisby

felsen drohend in den Himmel dringen? Endlich kann das Auge sondern und
sichten. Hier ragt der Staffelgiebel der Alten Apotheke frei und kühn über
das armselige Häusergewimmel um ihn heraus. Dort sucht der Palast eines
hansischen Handelsherren es ihm gleich zu tun. Mörtel und Putz sind freilich
zum großen Teil vom Wetter abgenagt, und das nackte Gestein klagt die Ver¬
ständnis- und Pietätlosigkeit der jetzigen Herren an. Trutzig und sicher, fest
und breit strebt die letzte Giebelwand von Wisborg Stoll empor. Zeugen
längst entschwundener Pracht und regen kirchlichen Lebens sind die Ruinen der
Kirchen. Deren achtzehn hat es einst gegeben, elf sind in Trümmern erhalten.
Eine herbe, kraftvolle Schönheit bringen sie zum Ausdruck, und die wehniut-
volle Stimmung, die über den Resten entschwundener Herrlichkeit liegt, teilt
sich dem Beschauer mit. Freilich, wo einst fromme Meßgesänge erschallten,
da gurren die Tauben, oder es klingt traumverloren der Ruf eines Finken oder
einer Goldammer durch das Kirchenschiff. Wilder Wein und Efeu wuchern an
Pfeilern und Giebeln empor oder hängen voll und schwer in die Fenster herein.
Ebereschensträuche mit glühroten Beerenbüscheln fristen an Wänden oder auf
Gewölberippen ein kärglich Leben.

Grabsteine aus Kalkstein oder Basalt liegen hin und wieder verstreut
umher, wer kann heute noch ihre Zeichen deuten? In dem geheimnis¬
vollen Halbdunkel der Kirchen halten die vergangenen Jahrhunderte verschwiegene
Zwiesprache. „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand", so raunt es
drinnen. Ganz deutsch unter einen die Kirchen in ihrem zielsicheren und stolzen
Aufbau an neben dem charakterlosen Ausdruck der Häuser der jetzigen Bewohner
Wisbys. Es scheint, als ob es vor sechshundert Jahren in die See versunken
und jetzt — ein vergessenes Stück Mittelalter — wieder aufgetaucht sei. Noch
heute geht der Besucher Wisbys durch die Bremer, Rostocker, Hamburger,
Danziger, Lübecker, Nowgoroder Grund oder trinkt einen Schoppen schwer ein¬
gebrauten Pilsner oder Münchener „Öls" in einer „Bierhalle". Noch heute
umläuft fast in ihrem alten Zustande die mit Türmen bewehrte Mauer bergauf,
bergab die Stadt und umschließt einen Bezirk, der für die neuntausend Ein¬
wohner Wisbys viel zu groß ist. Noch heute sind vor der Nordmauer drei¬
fache Wall- und Grabenanlagen zu sehen, von zinnengekrönten Türmen bewacht
wie vor Zeiten.

Das ist Wisby, „die Stadt der Ruinen und Rosen", die einstige Banner¬
trägerin des deutschen Gedankens in der Ostsee.

Wisby ist nach Ed. Heycks Urteil die einzige Stadt, die das den deutschen
Städten des Mittelalters eigentümliche Stadtbild bis auf den heutigen Tag
unberührt und unverfälscht erhalten hat.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/574>, abgerufen am 27.06.2024.