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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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begonnen haben. Denn das Stadtbild, das Johann Ludwig Gottfried in seinem
1632 erschienenen Inventarium Lueciae auf Seite 59 bringt, zeigt noch elf
unversehrte Kirchen.

Eine Stadt mit deutscher Umgangssprache ist Wisby jedoch bis weit in das
achtzehnte Jahrhundert gewesen. Das geht aus zahlreichen Grabinschriften
hervor, die ich auf dem ehemaligen Kirchhofe von Se. Marien gesehen und
gelesen habe. Weit ausgesponnen sind noch die Schisfahrts- und Handels-
beziehungen der Stadt auch in späterer Zeit gewesen, als ihr Stern längst
untergegangen war. Das bezeugt folgende Grabschrift: "Anno 1630, den
16. Juli, starb de erbare Man Kaptein Hans Fleming mit siner Fruwen Arne,
Jürgen ff?f Agers dochter, beide in Schotland geboren. Der Seelen Got
gnedig si." Wie lebhaft übrigens in den Hansestädten die alte kaufmännische
Überlieferung gewesen sein mag, sieht man auch daraus, daß die Gilde der
Nowgorodfahrer zu Lübeck im Jahre 1768, also beinahe dreihundert Jahre
nach der Schließung des dortigen "Kontors", in der Marienkirche zu Lübeck
einen Leuchter aufgehängt hat. Ein Beweis für das hansische Zusammen¬
gehörigkeitsgefühl späterer Zeit ist schließlich auch das Haus, das sich im
Jahre 1661 der indische Ratsherr Hans Burmeister in Wisby auf der heutigen
Strandgata hat bauen lassen.

Bilder von unsagbarer Schönheit und märchenhaften Zauber stellt mir die
Erinnerung an Wisby, die hochgebaute Stadt, immer wieder vor die Seele.
In mondheller, sternenklarer Nacht bringt mich die "Thjelvar" nach Gotland.
Das Wühlen der Schiffsschraube in den Wogen, die in regelmäßigen Zeit¬
abständen eintönig an das Schiff prallen, das surren des Logs an der Log¬
leine, das Stampfen der Maschinen sind die einzigen Geräusche, die an mich
heranbringen. Sonst ist tiefer Friede über den Wassern. Da blitzen die Blink¬
feuer von der Küste Gotlands auf. Gespenstisch weiß ragen die steilen
Kalkwände im Mondlichte aus der blauen Tiefe heraus. Wälder und Wiesen
sind darüber zu erkennen. Der Tag bricht an. Vom Frührot umglüht und
bald vom grellen Sonnenlichte Übergossen steigen schroff und steil die Karls¬
inseln vor uns auf. Wir halten unentwegt den Kurs nach Norden, und immer
begleitet uns die gotländische Steilküste. Keine menschliche Niederlassung ist
sichtbar, nur ab und zu hat ein liebliches Wiesental Bresche in die eintönige
Linie und Fläche der Küste gelegt. Da tauchen in der Ferne die Türme von
Wisby aus dem Morgennebel, rätselhaft und gespenstisch zugleich. Endlich
laufen wir in Wisbys kleinen Hafen ein. Ein Bild mit einer verwirrenden
Fülle von Eindrücken breitet sich vor uns aus. In einer Mulde liegt die Stadt
und zieht sich breit den Berg hinauf. Es ist, als ob ein Holzstich Albrecht
Dürers räumliche Gestalt angenommen hätte. Wo soll der Blick hasten bleiben?
An den holländischen Windmühlen, die südlich der Stadt hoch auf der Ufer¬
höhe stehen? Oder an den hohen Türmen von Sancta ?^ana ^entonicvrum?
Oder am Galgen, dessen drei Steinsäulen nördlich der Stadt auf hohem Kalk-


Grenzboten II 1914 36

begonnen haben. Denn das Stadtbild, das Johann Ludwig Gottfried in seinem
1632 erschienenen Inventarium Lueciae auf Seite 59 bringt, zeigt noch elf
unversehrte Kirchen.

Eine Stadt mit deutscher Umgangssprache ist Wisby jedoch bis weit in das
achtzehnte Jahrhundert gewesen. Das geht aus zahlreichen Grabinschriften
hervor, die ich auf dem ehemaligen Kirchhofe von Se. Marien gesehen und
gelesen habe. Weit ausgesponnen sind noch die Schisfahrts- und Handels-
beziehungen der Stadt auch in späterer Zeit gewesen, als ihr Stern längst
untergegangen war. Das bezeugt folgende Grabschrift: „Anno 1630, den
16. Juli, starb de erbare Man Kaptein Hans Fleming mit siner Fruwen Arne,
Jürgen ff?f Agers dochter, beide in Schotland geboren. Der Seelen Got
gnedig si." Wie lebhaft übrigens in den Hansestädten die alte kaufmännische
Überlieferung gewesen sein mag, sieht man auch daraus, daß die Gilde der
Nowgorodfahrer zu Lübeck im Jahre 1768, also beinahe dreihundert Jahre
nach der Schließung des dortigen „Kontors", in der Marienkirche zu Lübeck
einen Leuchter aufgehängt hat. Ein Beweis für das hansische Zusammen¬
gehörigkeitsgefühl späterer Zeit ist schließlich auch das Haus, das sich im
Jahre 1661 der indische Ratsherr Hans Burmeister in Wisby auf der heutigen
Strandgata hat bauen lassen.

Bilder von unsagbarer Schönheit und märchenhaften Zauber stellt mir die
Erinnerung an Wisby, die hochgebaute Stadt, immer wieder vor die Seele.
In mondheller, sternenklarer Nacht bringt mich die „Thjelvar" nach Gotland.
Das Wühlen der Schiffsschraube in den Wogen, die in regelmäßigen Zeit¬
abständen eintönig an das Schiff prallen, das surren des Logs an der Log¬
leine, das Stampfen der Maschinen sind die einzigen Geräusche, die an mich
heranbringen. Sonst ist tiefer Friede über den Wassern. Da blitzen die Blink¬
feuer von der Küste Gotlands auf. Gespenstisch weiß ragen die steilen
Kalkwände im Mondlichte aus der blauen Tiefe heraus. Wälder und Wiesen
sind darüber zu erkennen. Der Tag bricht an. Vom Frührot umglüht und
bald vom grellen Sonnenlichte Übergossen steigen schroff und steil die Karls¬
inseln vor uns auf. Wir halten unentwegt den Kurs nach Norden, und immer
begleitet uns die gotländische Steilküste. Keine menschliche Niederlassung ist
sichtbar, nur ab und zu hat ein liebliches Wiesental Bresche in die eintönige
Linie und Fläche der Küste gelegt. Da tauchen in der Ferne die Türme von
Wisby aus dem Morgennebel, rätselhaft und gespenstisch zugleich. Endlich
laufen wir in Wisbys kleinen Hafen ein. Ein Bild mit einer verwirrenden
Fülle von Eindrücken breitet sich vor uns aus. In einer Mulde liegt die Stadt
und zieht sich breit den Berg hinauf. Es ist, als ob ein Holzstich Albrecht
Dürers räumliche Gestalt angenommen hätte. Wo soll der Blick hasten bleiben?
An den holländischen Windmühlen, die südlich der Stadt hoch auf der Ufer¬
höhe stehen? Oder an den hohen Türmen von Sancta ?^ana ^entonicvrum?
Oder am Galgen, dessen drei Steinsäulen nördlich der Stadt auf hohem Kalk-


Grenzboten II 1914 36
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/573>, abgerufen am 25.07.2024.