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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literciturbeurteilung

z. B. die Ästhetik einseitig zu bevorzugen. Bartels verfügt ja auch nicht über
die universale Ausbildung: seine philologischen Schwächen machen sich in der
Darstellung der älteren deutschen Literatur besonders bemerkbar, seine philo¬
sophischen bei der Romantik, seine psychologischen vor allem in der Gegenwarts¬
behandlung, ebenso seine nationalökonomischen Mängel; seine Geschichtskenntnis
wurde in ihrem weiten Umfang durch die Tendenzen beeinträchtigt. Was auf
all diesen Gebieten auffüllt, ist imnier wieder, wie Bartels allein seiner nord¬
deutsch-dithmarsischen Natur, seiner ländlich-dörflichen Abstammung gehorcht, nie¬
mals aber dem notwendigen Streben nach Universalität.

Grundsätzliche Erkenntnisse für die Lehrmethode der Literaturwissenschaft
unter den Anfängern, deren Begabung für die Hauptaufgabe noch nicht feststeht,
lassen sich aus diesen Beobachtungen bei Bartels gewinnen. Die Ausbildung
des Literaturwissenschaftlers in den Hilfswissenschaften hat nicht theoretisch, nicht
vereinzelt, sondern in ihrer Gesamtheit gemeinsam am Objekte praktisch zu
erfolgen. Das heißt: das Objekt, das einzelne Dichtwerk oder auch die Dichtung
im Ganzen ist nicht in diesem Seminar philologisch, in jenem philosophisch, in
einem dritten ästethisch usw. zu betrachten, sondern in einem Seminar zugleich
auf alle Weisen zu behandeln. Wo starke Persönlichkeiten und Universal¬
menschen in den literarturwissenschaftlichen Seminaren tätig sind, ist diese
Behandlungsart auch schon im Schwange, wenn auch noch immer mit zünft-
lerischen Vordrängen alles Philologischen, das allein weder dem zukünftigen
Gymnasiallehrer des Deutschen noch dem Literaturwissenschaftler einen Begriff
von einer Dichtung zu geben, geschweige denn ihr Erlebnis zu vermitteln vermag.




Die Behandlung des Stoffes durch die Hilfsdisziplinen fordert bei Bartels
verschiedentlich die Kritik heraus. Doch ist hier zuzugestehen, daß Bartels mit
seiner "Einführung in die Weltliteratur" nicht eine wissenschaftliche Darstellung
der Weltliteratur in ihrer gründlichsten Vollständigkeit geben will, sondern eben
nur eine wissenschaftliche Einführung die "erste Vertrautheit" mit dem
Stoffe verleiht. Dabei kommt es immer mehr auf den Standpunkt an, von
dem aus die Einführung geschieht, als auf die stoffliche Vollständigkeit und letzt-
mögliche Gründlichkeit.

Der Standpunkt für die Behandlung wird gewählt von der Persönlichkeit
des Einführenden. Seine Anschauungen machen sich, wie wir sahen, subjektiv
"bemerkbar, in Gehalt und Form. Sie traten auch in den ästhetischen Tendenzen
zutage, die noch dazu mit den Fragen der Moral verknüpft werden.

Die Beziehungen zwischen Kunst und Sittlichkeit wendet Bartels ebenso
parteiisch wie alle anderen Erkenntnisse. Wir können für das universale Wert¬
urteil in der Kunst den Begriff des Sittlichen nicht verwenden, da die Kunst
der Niederschlag allen Lebens, des moralischen wie unmoralischen, ist, und da
der Begriff des Sittlichen abhängig von den Zeitströmungen ist. Ein


Die Grundzüge einer Literciturbeurteilung

z. B. die Ästhetik einseitig zu bevorzugen. Bartels verfügt ja auch nicht über
die universale Ausbildung: seine philologischen Schwächen machen sich in der
Darstellung der älteren deutschen Literatur besonders bemerkbar, seine philo¬
sophischen bei der Romantik, seine psychologischen vor allem in der Gegenwarts¬
behandlung, ebenso seine nationalökonomischen Mängel; seine Geschichtskenntnis
wurde in ihrem weiten Umfang durch die Tendenzen beeinträchtigt. Was auf
all diesen Gebieten auffüllt, ist imnier wieder, wie Bartels allein seiner nord¬
deutsch-dithmarsischen Natur, seiner ländlich-dörflichen Abstammung gehorcht, nie¬
mals aber dem notwendigen Streben nach Universalität.

Grundsätzliche Erkenntnisse für die Lehrmethode der Literaturwissenschaft
unter den Anfängern, deren Begabung für die Hauptaufgabe noch nicht feststeht,
lassen sich aus diesen Beobachtungen bei Bartels gewinnen. Die Ausbildung
des Literaturwissenschaftlers in den Hilfswissenschaften hat nicht theoretisch, nicht
vereinzelt, sondern in ihrer Gesamtheit gemeinsam am Objekte praktisch zu
erfolgen. Das heißt: das Objekt, das einzelne Dichtwerk oder auch die Dichtung
im Ganzen ist nicht in diesem Seminar philologisch, in jenem philosophisch, in
einem dritten ästethisch usw. zu betrachten, sondern in einem Seminar zugleich
auf alle Weisen zu behandeln. Wo starke Persönlichkeiten und Universal¬
menschen in den literarturwissenschaftlichen Seminaren tätig sind, ist diese
Behandlungsart auch schon im Schwange, wenn auch noch immer mit zünft-
lerischen Vordrängen alles Philologischen, das allein weder dem zukünftigen
Gymnasiallehrer des Deutschen noch dem Literaturwissenschaftler einen Begriff
von einer Dichtung zu geben, geschweige denn ihr Erlebnis zu vermitteln vermag.




Die Behandlung des Stoffes durch die Hilfsdisziplinen fordert bei Bartels
verschiedentlich die Kritik heraus. Doch ist hier zuzugestehen, daß Bartels mit
seiner „Einführung in die Weltliteratur" nicht eine wissenschaftliche Darstellung
der Weltliteratur in ihrer gründlichsten Vollständigkeit geben will, sondern eben
nur eine wissenschaftliche Einführung die „erste Vertrautheit" mit dem
Stoffe verleiht. Dabei kommt es immer mehr auf den Standpunkt an, von
dem aus die Einführung geschieht, als auf die stoffliche Vollständigkeit und letzt-
mögliche Gründlichkeit.

Der Standpunkt für die Behandlung wird gewählt von der Persönlichkeit
des Einführenden. Seine Anschauungen machen sich, wie wir sahen, subjektiv
"bemerkbar, in Gehalt und Form. Sie traten auch in den ästhetischen Tendenzen
zutage, die noch dazu mit den Fragen der Moral verknüpft werden.

Die Beziehungen zwischen Kunst und Sittlichkeit wendet Bartels ebenso
parteiisch wie alle anderen Erkenntnisse. Wir können für das universale Wert¬
urteil in der Kunst den Begriff des Sittlichen nicht verwenden, da die Kunst
der Niederschlag allen Lebens, des moralischen wie unmoralischen, ist, und da
der Begriff des Sittlichen abhängig von den Zeitströmungen ist. Ein


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[0558] Die Grundzüge einer Literciturbeurteilung z. B. die Ästhetik einseitig zu bevorzugen. Bartels verfügt ja auch nicht über die universale Ausbildung: seine philologischen Schwächen machen sich in der Darstellung der älteren deutschen Literatur besonders bemerkbar, seine philo¬ sophischen bei der Romantik, seine psychologischen vor allem in der Gegenwarts¬ behandlung, ebenso seine nationalökonomischen Mängel; seine Geschichtskenntnis wurde in ihrem weiten Umfang durch die Tendenzen beeinträchtigt. Was auf all diesen Gebieten auffüllt, ist imnier wieder, wie Bartels allein seiner nord¬ deutsch-dithmarsischen Natur, seiner ländlich-dörflichen Abstammung gehorcht, nie¬ mals aber dem notwendigen Streben nach Universalität. Grundsätzliche Erkenntnisse für die Lehrmethode der Literaturwissenschaft unter den Anfängern, deren Begabung für die Hauptaufgabe noch nicht feststeht, lassen sich aus diesen Beobachtungen bei Bartels gewinnen. Die Ausbildung des Literaturwissenschaftlers in den Hilfswissenschaften hat nicht theoretisch, nicht vereinzelt, sondern in ihrer Gesamtheit gemeinsam am Objekte praktisch zu erfolgen. Das heißt: das Objekt, das einzelne Dichtwerk oder auch die Dichtung im Ganzen ist nicht in diesem Seminar philologisch, in jenem philosophisch, in einem dritten ästethisch usw. zu betrachten, sondern in einem Seminar zugleich auf alle Weisen zu behandeln. Wo starke Persönlichkeiten und Universal¬ menschen in den literarturwissenschaftlichen Seminaren tätig sind, ist diese Behandlungsart auch schon im Schwange, wenn auch noch immer mit zünft- lerischen Vordrängen alles Philologischen, das allein weder dem zukünftigen Gymnasiallehrer des Deutschen noch dem Literaturwissenschaftler einen Begriff von einer Dichtung zu geben, geschweige denn ihr Erlebnis zu vermitteln vermag. Die Behandlung des Stoffes durch die Hilfsdisziplinen fordert bei Bartels verschiedentlich die Kritik heraus. Doch ist hier zuzugestehen, daß Bartels mit seiner „Einführung in die Weltliteratur" nicht eine wissenschaftliche Darstellung der Weltliteratur in ihrer gründlichsten Vollständigkeit geben will, sondern eben nur eine wissenschaftliche Einführung die „erste Vertrautheit" mit dem Stoffe verleiht. Dabei kommt es immer mehr auf den Standpunkt an, von dem aus die Einführung geschieht, als auf die stoffliche Vollständigkeit und letzt- mögliche Gründlichkeit. Der Standpunkt für die Behandlung wird gewählt von der Persönlichkeit des Einführenden. Seine Anschauungen machen sich, wie wir sahen, subjektiv "bemerkbar, in Gehalt und Form. Sie traten auch in den ästhetischen Tendenzen zutage, die noch dazu mit den Fragen der Moral verknüpft werden. Die Beziehungen zwischen Kunst und Sittlichkeit wendet Bartels ebenso parteiisch wie alle anderen Erkenntnisse. Wir können für das universale Wert¬ urteil in der Kunst den Begriff des Sittlichen nicht verwenden, da die Kunst der Niederschlag allen Lebens, des moralischen wie unmoralischen, ist, und da der Begriff des Sittlichen abhängig von den Zeitströmungen ist. Ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/558>, abgerufen am 25.07.2024.