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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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raturwissenschast, die universal zu nennen ist. Solche Zusammenarbeit
wurde bisher im literaturwissenschaftlichen Betriebe nur dort erreicht, wo eine
universale Persönlichkeit ihm vorstand. Das war selten genug der Fall. Denn
die Literaturwissenschaft erkor bisher immer durch Schule und Tradition die
Philologie zu ihrer Hauptdisziplin und -aufgäbe, wie noch Erich Schmidt nach
Schererschem Vorbilde es tat. Die Literatur darf aber nicht nur philologisch
betrachtet werden, sondern auch all ihren anderen Eigenschaften gemäß. Nur
durch solche allseitige BeHandlungsweise vermag der Literatmwissenschaftler
das gehabte Nacherlebnis fruchtbar zu verwenden, zu ihm hinzuführen.

Die Berechtigung der Hilfsdisziplinen anzuzweifeln, hieße die Wissenschaft¬
lichkeit der Verwaltung untergraben. Und sie ist durch ihren Wahrheitsgehalt
das erste Gebot für den Verwalter, für den, der es werden will, und für die
Behandlung. Niemals aber darf, wie es jetzt meist geschieht, eine der Hilfs¬
disziplinen Selbstzweck werden: dadurch wird der Sinn der Aufgabe verschoben,
wird die Gesinnung derer, die die Aufgabe lösen wollen, getrübt, auf "Ideale"
gelenkt, wie das Spezialistentum sie pflegt. Spezialist aber soll sein und werden,
wer nicht den Beruf für die Hauptaufgabe in sich fühlt, dessen Begabungen
nicht ausreichen. Denn Spezialisten sind auch notwendig für die Literatur¬
forschung und für die Grundlagen, die Unterlagen der Wissenschaft selbst. Wir
haben also gegen spezialistische Philologen, gegen spezialistische Literaturphilo¬
sophen, -Psychologen, -Ästhetiker, -Historiker usw. nichts einzuwenden, wenn sie
nicht die Geltung beanspruchen, die allein dem Literaturwissenschaftler zukommt,
der über allem Spezialistentum steht vermöge seines Besitzes einer universalen
d. h. alle Hilfsdisziplinen und die Gabe des Erlebens umfassenden Bildung
und Ausbildung.

Diese Bildung und Ausbildung zeigt sich darin, daß der Literaturwissen'
schaftler ein Vollmensch seiner Zeit ist, der mitten im Leben der Gegenwart
steht, deren Bildung innerlich besitzt, nicht als ein Kopfwissen für die Einzel¬
heiten, sondern einem tiefen Erleben gleich, aus dem der Gehalt und die Form
der Eigenpersönlichkeit organisch herauswächst. Jenes Kopfwissen für die Einzel¬
heiten wird ja von den Spezialisten und Methodikern in Handbüchern. Lexikas.
Enzyklopädien usw. derart aufgestapelt, daß jeder mit der Technik aller Lexiko¬
graphie Vertraute sofort das Notwendige nachschlagen und präzisieren kann.
Denn nicht das Gedächtnis zeigt den Grad des Bildungsbesitzes absolut an,
sondern der ganze Mensch in seiner Lebensform.

Solcher Einheit des Bildungsbesitzes entbehrt Adolf Barrels gänzlich, wie
schon aus seiner Anwendung von Tendenzen hervorgeht. Er besitzt nur die
Bildung, deren Erwerb eine einseitige, parteiische Natur zuließ. Wenn er also
gegen das Überwuchern einzelner HilfdiszipKnen wie z. B. gegen die Philologie in
ihrer Vormachtstellung Front macht, geschieht es nicht aus der universalen An-
schauung vom Wesen der Literaturwissenschaft heraus, sondern allein, weil ihn
seine Natur dazu drängt, eine andere, ihr mehr liegende "Hilfsdisziplin" wie


Grenzboten II 1914 SS

raturwissenschast, die universal zu nennen ist. Solche Zusammenarbeit
wurde bisher im literaturwissenschaftlichen Betriebe nur dort erreicht, wo eine
universale Persönlichkeit ihm vorstand. Das war selten genug der Fall. Denn
die Literaturwissenschaft erkor bisher immer durch Schule und Tradition die
Philologie zu ihrer Hauptdisziplin und -aufgäbe, wie noch Erich Schmidt nach
Schererschem Vorbilde es tat. Die Literatur darf aber nicht nur philologisch
betrachtet werden, sondern auch all ihren anderen Eigenschaften gemäß. Nur
durch solche allseitige BeHandlungsweise vermag der Literatmwissenschaftler
das gehabte Nacherlebnis fruchtbar zu verwenden, zu ihm hinzuführen.

Die Berechtigung der Hilfsdisziplinen anzuzweifeln, hieße die Wissenschaft¬
lichkeit der Verwaltung untergraben. Und sie ist durch ihren Wahrheitsgehalt
das erste Gebot für den Verwalter, für den, der es werden will, und für die
Behandlung. Niemals aber darf, wie es jetzt meist geschieht, eine der Hilfs¬
disziplinen Selbstzweck werden: dadurch wird der Sinn der Aufgabe verschoben,
wird die Gesinnung derer, die die Aufgabe lösen wollen, getrübt, auf „Ideale"
gelenkt, wie das Spezialistentum sie pflegt. Spezialist aber soll sein und werden,
wer nicht den Beruf für die Hauptaufgabe in sich fühlt, dessen Begabungen
nicht ausreichen. Denn Spezialisten sind auch notwendig für die Literatur¬
forschung und für die Grundlagen, die Unterlagen der Wissenschaft selbst. Wir
haben also gegen spezialistische Philologen, gegen spezialistische Literaturphilo¬
sophen, -Psychologen, -Ästhetiker, -Historiker usw. nichts einzuwenden, wenn sie
nicht die Geltung beanspruchen, die allein dem Literaturwissenschaftler zukommt,
der über allem Spezialistentum steht vermöge seines Besitzes einer universalen
d. h. alle Hilfsdisziplinen und die Gabe des Erlebens umfassenden Bildung
und Ausbildung.

Diese Bildung und Ausbildung zeigt sich darin, daß der Literaturwissen'
schaftler ein Vollmensch seiner Zeit ist, der mitten im Leben der Gegenwart
steht, deren Bildung innerlich besitzt, nicht als ein Kopfwissen für die Einzel¬
heiten, sondern einem tiefen Erleben gleich, aus dem der Gehalt und die Form
der Eigenpersönlichkeit organisch herauswächst. Jenes Kopfwissen für die Einzel¬
heiten wird ja von den Spezialisten und Methodikern in Handbüchern. Lexikas.
Enzyklopädien usw. derart aufgestapelt, daß jeder mit der Technik aller Lexiko¬
graphie Vertraute sofort das Notwendige nachschlagen und präzisieren kann.
Denn nicht das Gedächtnis zeigt den Grad des Bildungsbesitzes absolut an,
sondern der ganze Mensch in seiner Lebensform.

Solcher Einheit des Bildungsbesitzes entbehrt Adolf Barrels gänzlich, wie
schon aus seiner Anwendung von Tendenzen hervorgeht. Er besitzt nur die
Bildung, deren Erwerb eine einseitige, parteiische Natur zuließ. Wenn er also
gegen das Überwuchern einzelner HilfdiszipKnen wie z. B. gegen die Philologie in
ihrer Vormachtstellung Front macht, geschieht es nicht aus der universalen An-
schauung vom Wesen der Literaturwissenschaft heraus, sondern allein, weil ihn
seine Natur dazu drängt, eine andere, ihr mehr liegende „Hilfsdisziplin" wie


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[0557] raturwissenschast, die universal zu nennen ist. Solche Zusammenarbeit wurde bisher im literaturwissenschaftlichen Betriebe nur dort erreicht, wo eine universale Persönlichkeit ihm vorstand. Das war selten genug der Fall. Denn die Literaturwissenschaft erkor bisher immer durch Schule und Tradition die Philologie zu ihrer Hauptdisziplin und -aufgäbe, wie noch Erich Schmidt nach Schererschem Vorbilde es tat. Die Literatur darf aber nicht nur philologisch betrachtet werden, sondern auch all ihren anderen Eigenschaften gemäß. Nur durch solche allseitige BeHandlungsweise vermag der Literatmwissenschaftler das gehabte Nacherlebnis fruchtbar zu verwenden, zu ihm hinzuführen. Die Berechtigung der Hilfsdisziplinen anzuzweifeln, hieße die Wissenschaft¬ lichkeit der Verwaltung untergraben. Und sie ist durch ihren Wahrheitsgehalt das erste Gebot für den Verwalter, für den, der es werden will, und für die Behandlung. Niemals aber darf, wie es jetzt meist geschieht, eine der Hilfs¬ disziplinen Selbstzweck werden: dadurch wird der Sinn der Aufgabe verschoben, wird die Gesinnung derer, die die Aufgabe lösen wollen, getrübt, auf „Ideale" gelenkt, wie das Spezialistentum sie pflegt. Spezialist aber soll sein und werden, wer nicht den Beruf für die Hauptaufgabe in sich fühlt, dessen Begabungen nicht ausreichen. Denn Spezialisten sind auch notwendig für die Literatur¬ forschung und für die Grundlagen, die Unterlagen der Wissenschaft selbst. Wir haben also gegen spezialistische Philologen, gegen spezialistische Literaturphilo¬ sophen, -Psychologen, -Ästhetiker, -Historiker usw. nichts einzuwenden, wenn sie nicht die Geltung beanspruchen, die allein dem Literaturwissenschaftler zukommt, der über allem Spezialistentum steht vermöge seines Besitzes einer universalen d. h. alle Hilfsdisziplinen und die Gabe des Erlebens umfassenden Bildung und Ausbildung. Diese Bildung und Ausbildung zeigt sich darin, daß der Literaturwissen' schaftler ein Vollmensch seiner Zeit ist, der mitten im Leben der Gegenwart steht, deren Bildung innerlich besitzt, nicht als ein Kopfwissen für die Einzel¬ heiten, sondern einem tiefen Erleben gleich, aus dem der Gehalt und die Form der Eigenpersönlichkeit organisch herauswächst. Jenes Kopfwissen für die Einzel¬ heiten wird ja von den Spezialisten und Methodikern in Handbüchern. Lexikas. Enzyklopädien usw. derart aufgestapelt, daß jeder mit der Technik aller Lexiko¬ graphie Vertraute sofort das Notwendige nachschlagen und präzisieren kann. Denn nicht das Gedächtnis zeigt den Grad des Bildungsbesitzes absolut an, sondern der ganze Mensch in seiner Lebensform. Solcher Einheit des Bildungsbesitzes entbehrt Adolf Barrels gänzlich, wie schon aus seiner Anwendung von Tendenzen hervorgeht. Er besitzt nur die Bildung, deren Erwerb eine einseitige, parteiische Natur zuließ. Wenn er also gegen das Überwuchern einzelner HilfdiszipKnen wie z. B. gegen die Philologie in ihrer Vormachtstellung Front macht, geschieht es nicht aus der universalen An- schauung vom Wesen der Literaturwissenschaft heraus, sondern allein, weil ihn seine Natur dazu drängt, eine andere, ihr mehr liegende „Hilfsdisziplin" wie Grenzboten II 1914 SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/557>, abgerufen am 24.07.2024.