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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Zur Frage der deutschen Einheitsschule

Kinder der sogenannten besseren Familien die Volksschule mit dem zehnten
Jahre verlassen, um auf die höhere Schule überzugehen; ihnen schlössen sich jetzt
aber die meisten, wenn nicht alle begabten Schüler an, die bisher wegen Mittel¬
losigkeit der Eltern auf der Volksschule verblieben waren, und es stellt sich in
erhöhtem Maße ein, was man jetzt gegen die Volksschule einwendet, daß
nämlich nicht nur die Kinder der gesellschaftlich besser gestellten Kreise, sondern
fast alle begabten Kinder der Volksschule verloren gehen, daß diese geistig
verödet, zu einer Lehranstalt zweiten Ranges herabsenkt und unter den zurück¬
bleibenden Schülern die Unzufriedenheit weit größer wird, als sie bisher
gewesen ist.

Im Anschluß hieran kann man wohl noch eine andere bedeutsame Frage
aufwerfen. Ist es in der Tat gut, wenn solche Kinder aus den Verhältnissen,
in denen sie geboren und aufgewachsen sind, herausgerissen und wurzellos gemacht
werden? Wenn sie sich der eigenen Familie entfremden und doch in den Kreisen,
für die sie herangebildet werden, kaum die volle Gleichberechtigung erlangen?
Denn solange wir nun einmal unsere jetzige Gesellschaftsordnung mit ihren
übereinander gelagerten Schichten haben, wird ein so weiter Sprung, wie ihn
für manches Kind die Erziehung zum höheren Beruf bedeutet, von dem Auf¬
steigenden aus mancherlei Gründen, nicht nur äußerer Art. fast immer mit zahl¬
reichen schweren Enttäuschungen erkauft werden.

Ist es ferner gut, wenn alle Begabung nur den höheren Berufen zugeführt,
den mittleren und unteren aber entzogen wird? Wir beklagen, daß jetzt alles
den höheren Berufen, möglichst der Beamtenlaufbahn, zudrängt; wir bemühen
uns, den Handwerker- wie den ganzen Mittelstand und die Arbeiter nach
Möglichkeit zu heben. Geschieht dies nun wirklich, handeln wir tatsächlich im
wohlverstandenen Interesse dieser Stände, wenn wir ihnen diejenigen nehmen,
die kraft ihrer besseren Veranlagung zur Führerschaft und zur Mitarbeit an
der Hebung ihres Standes berufen wären, wenn wir diesen Kreisen nur die
stumpfe Masse übrig lassen? Mir will es vielmehr im Interesse einer möglichst
gleichmäßigen Hebung aller Schichten unseres Volkes durchaus ratsam erscheinen,
daß wie bisher einem jeden Stande der ihm angemessene und zugehörige Teil
von höherer Begabung verbleibe, als der Sauerteig, der die ganze Masse
durchdringt, als das Salz, welches das Brot erst schmackhaft macht. Viel
wichtiger als die Einführung der Einheitsschule dünkt mir deshalb die Förde¬
rung solcher Anstalten, durch welche dem Mittelstand wie der Arbeiterbevölkerung
eine tüchtige Berufsausbildung vermittelt wird, der sich zur Hebung der Gesamt-
persönlichkeit zweckmäßig noch weiterer Unterricht in den allgemein bildenden
Fächern anschließt. Volksbibliotheken, geeignete volkstümliche Vorträge, Theater¬
aufführungen usw., deren Einrichtung eine Ehrenpflicht der Gemeinden, der
gemeinnützigen Vereine und der wohlhabenden Gebildeten wäre, hätten der
Weiterbildung der Erwachsenen zu dienen. Solche Anstalten und Veranstaltungen
sind bereits an zahlreichen Orten vorhanden; ihre tatkräftige Förderung wäre


Zur Frage der deutschen Einheitsschule

Kinder der sogenannten besseren Familien die Volksschule mit dem zehnten
Jahre verlassen, um auf die höhere Schule überzugehen; ihnen schlössen sich jetzt
aber die meisten, wenn nicht alle begabten Schüler an, die bisher wegen Mittel¬
losigkeit der Eltern auf der Volksschule verblieben waren, und es stellt sich in
erhöhtem Maße ein, was man jetzt gegen die Volksschule einwendet, daß
nämlich nicht nur die Kinder der gesellschaftlich besser gestellten Kreise, sondern
fast alle begabten Kinder der Volksschule verloren gehen, daß diese geistig
verödet, zu einer Lehranstalt zweiten Ranges herabsenkt und unter den zurück¬
bleibenden Schülern die Unzufriedenheit weit größer wird, als sie bisher
gewesen ist.

Im Anschluß hieran kann man wohl noch eine andere bedeutsame Frage
aufwerfen. Ist es in der Tat gut, wenn solche Kinder aus den Verhältnissen,
in denen sie geboren und aufgewachsen sind, herausgerissen und wurzellos gemacht
werden? Wenn sie sich der eigenen Familie entfremden und doch in den Kreisen,
für die sie herangebildet werden, kaum die volle Gleichberechtigung erlangen?
Denn solange wir nun einmal unsere jetzige Gesellschaftsordnung mit ihren
übereinander gelagerten Schichten haben, wird ein so weiter Sprung, wie ihn
für manches Kind die Erziehung zum höheren Beruf bedeutet, von dem Auf¬
steigenden aus mancherlei Gründen, nicht nur äußerer Art. fast immer mit zahl¬
reichen schweren Enttäuschungen erkauft werden.

Ist es ferner gut, wenn alle Begabung nur den höheren Berufen zugeführt,
den mittleren und unteren aber entzogen wird? Wir beklagen, daß jetzt alles
den höheren Berufen, möglichst der Beamtenlaufbahn, zudrängt; wir bemühen
uns, den Handwerker- wie den ganzen Mittelstand und die Arbeiter nach
Möglichkeit zu heben. Geschieht dies nun wirklich, handeln wir tatsächlich im
wohlverstandenen Interesse dieser Stände, wenn wir ihnen diejenigen nehmen,
die kraft ihrer besseren Veranlagung zur Führerschaft und zur Mitarbeit an
der Hebung ihres Standes berufen wären, wenn wir diesen Kreisen nur die
stumpfe Masse übrig lassen? Mir will es vielmehr im Interesse einer möglichst
gleichmäßigen Hebung aller Schichten unseres Volkes durchaus ratsam erscheinen,
daß wie bisher einem jeden Stande der ihm angemessene und zugehörige Teil
von höherer Begabung verbleibe, als der Sauerteig, der die ganze Masse
durchdringt, als das Salz, welches das Brot erst schmackhaft macht. Viel
wichtiger als die Einführung der Einheitsschule dünkt mir deshalb die Förde¬
rung solcher Anstalten, durch welche dem Mittelstand wie der Arbeiterbevölkerung
eine tüchtige Berufsausbildung vermittelt wird, der sich zur Hebung der Gesamt-
persönlichkeit zweckmäßig noch weiterer Unterricht in den allgemein bildenden
Fächern anschließt. Volksbibliotheken, geeignete volkstümliche Vorträge, Theater¬
aufführungen usw., deren Einrichtung eine Ehrenpflicht der Gemeinden, der
gemeinnützigen Vereine und der wohlhabenden Gebildeten wäre, hätten der
Weiterbildung der Erwachsenen zu dienen. Solche Anstalten und Veranstaltungen
sind bereits an zahlreichen Orten vorhanden; ihre tatkräftige Förderung wäre


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[0549] Zur Frage der deutschen Einheitsschule Kinder der sogenannten besseren Familien die Volksschule mit dem zehnten Jahre verlassen, um auf die höhere Schule überzugehen; ihnen schlössen sich jetzt aber die meisten, wenn nicht alle begabten Schüler an, die bisher wegen Mittel¬ losigkeit der Eltern auf der Volksschule verblieben waren, und es stellt sich in erhöhtem Maße ein, was man jetzt gegen die Volksschule einwendet, daß nämlich nicht nur die Kinder der gesellschaftlich besser gestellten Kreise, sondern fast alle begabten Kinder der Volksschule verloren gehen, daß diese geistig verödet, zu einer Lehranstalt zweiten Ranges herabsenkt und unter den zurück¬ bleibenden Schülern die Unzufriedenheit weit größer wird, als sie bisher gewesen ist. Im Anschluß hieran kann man wohl noch eine andere bedeutsame Frage aufwerfen. Ist es in der Tat gut, wenn solche Kinder aus den Verhältnissen, in denen sie geboren und aufgewachsen sind, herausgerissen und wurzellos gemacht werden? Wenn sie sich der eigenen Familie entfremden und doch in den Kreisen, für die sie herangebildet werden, kaum die volle Gleichberechtigung erlangen? Denn solange wir nun einmal unsere jetzige Gesellschaftsordnung mit ihren übereinander gelagerten Schichten haben, wird ein so weiter Sprung, wie ihn für manches Kind die Erziehung zum höheren Beruf bedeutet, von dem Auf¬ steigenden aus mancherlei Gründen, nicht nur äußerer Art. fast immer mit zahl¬ reichen schweren Enttäuschungen erkauft werden. Ist es ferner gut, wenn alle Begabung nur den höheren Berufen zugeführt, den mittleren und unteren aber entzogen wird? Wir beklagen, daß jetzt alles den höheren Berufen, möglichst der Beamtenlaufbahn, zudrängt; wir bemühen uns, den Handwerker- wie den ganzen Mittelstand und die Arbeiter nach Möglichkeit zu heben. Geschieht dies nun wirklich, handeln wir tatsächlich im wohlverstandenen Interesse dieser Stände, wenn wir ihnen diejenigen nehmen, die kraft ihrer besseren Veranlagung zur Führerschaft und zur Mitarbeit an der Hebung ihres Standes berufen wären, wenn wir diesen Kreisen nur die stumpfe Masse übrig lassen? Mir will es vielmehr im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Hebung aller Schichten unseres Volkes durchaus ratsam erscheinen, daß wie bisher einem jeden Stande der ihm angemessene und zugehörige Teil von höherer Begabung verbleibe, als der Sauerteig, der die ganze Masse durchdringt, als das Salz, welches das Brot erst schmackhaft macht. Viel wichtiger als die Einführung der Einheitsschule dünkt mir deshalb die Förde¬ rung solcher Anstalten, durch welche dem Mittelstand wie der Arbeiterbevölkerung eine tüchtige Berufsausbildung vermittelt wird, der sich zur Hebung der Gesamt- persönlichkeit zweckmäßig noch weiterer Unterricht in den allgemein bildenden Fächern anschließt. Volksbibliotheken, geeignete volkstümliche Vorträge, Theater¬ aufführungen usw., deren Einrichtung eine Ehrenpflicht der Gemeinden, der gemeinnützigen Vereine und der wohlhabenden Gebildeten wäre, hätten der Weiterbildung der Erwachsenen zu dienen. Solche Anstalten und Veranstaltungen sind bereits an zahlreichen Orten vorhanden; ihre tatkräftige Förderung wäre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/549>, abgerufen am 04.07.2024.