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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Zur Frage der deutschen Einheitsschule

unter solchen Umständen irgend etwas gebessert wäre, dürfte niemand behaupten.
Dann bliebe nur das eine Mittel übrig: die Gesetzgebung auch gegen die
privaten Vorschulen aufzubieten. Das aber stünde -- genau so wie im Grunde
bereits das Vorgehen gegen die öffentlichen Vorschulen -- mit dem gerade von
den Anhängern der Einheitsschule vertretenen Grundsatz der Erziehungsfreiheit
im Widerspruch, wonach die Staatsgemeinschaft private Schuleinrichtungen außer¬
halb der allgemeinen öffentlichen Schule zu genehmigen hat, "a) solange oder
soweit die privaten Erziehungsabsichten nicht dem Gesamtwohle der Gemeinschaft
zuwiderlaufen, b) soweit die privaten Erziehungseinrichtungen mindestens das
gleiche leisten, wie die öffentlichen, c) solange die Mitglieder keine öffentlichen
Mittel für ihre nicht allen gleichmäßig zugänglichen Einrichtungen verlangen."
Es bleibt somit abzuwarten, wie die Anhänger der Einheitsschule ihren Kampf
gegen die Vorschule weiter führen wollen, ohne gegen ihre eigenen Grundsätze
zu verstoßen und ohne ihre Haltung lediglich vom Standpunkt der Volksschule
aus zu begründen.

Wenn nun die Freunde der Einheitsschule in folgerichtiger Entwicklung
ihres Gedankens fordern, daß jedem mittellosen Begabten durch Schulgeld¬
erlaß und Erziehungsbeihilfen die Möglichkeit geboten werde, sich eine
höhere Bildung anzueignen (Kerschensteiner, Leitsatz 6), so klingt dies
gewiß sehr schön und bestechend; denn wer sollte sich nicht freuen,
wenn er dazu verhelfen könnte, wohlbegabter fleißigen Schülern den Weg
zur Höhe freizugeben! Und doch erheben sich auch hier wieder die schwersten
Bedenken. Es ist genügend bekannt, wie gerade die höheren Berufe die längste
Vorbereitungszeit erfordern und wie der studierte Mann kaum mit dreißig
Jahren hoffen darf, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen. Schon den
Familien des sogenannten guten Mittelstandes wird es schwer genug, einen
Sohn oder gar mehrere durch das Studium hindurchzudringen. Wovon will
nun der mittellose Begabte die Kosten der Studienjahre bestreiten? Denn die
erwähnten Erziehungsbeihilfen können sich doch nur auf die Dauer der eigent¬
lichen Schulzeit erstrecken. Anderseits, einem jungen Menschen bis zur Pforte
der Universität durchzuhelfen und dann ihn mittellos sich selbst zu überlassen,
das ist doch weit grausamer, als ihn gar nicht erst auf den Weg zur höheren
Bildung zu führen. Mir selbst ist es geschehen, daß eine Mutter, deren Sohn
durch Freistellen und durch Erziehungsbeihilfen freundlicher Gönner durch die
Schule gebracht worden war, kurz vor der Prüfung zu mir kam und mich vor¬
wurfsvoll fragte: "Und was nun?" Sollen also Freischule und Beihilfen nicht
geradezu zur Grausamkeit werden, so müssen sie dem mittellosen Begabten bis
zur Erlangung einer wirtschaftlich ausreichenden Stellung weiter gewährt werden.
Welche Belastung der öffentlichen Mittel dadurch bedingt werden würde, entzieht
sich meiner Schätzung, dürfte aber nicht unerheblich sein.

Nehmen wir aber an, die erforderlichen Mittel würden aufgebracht, welche
Folgerung ergäbe sich nun für die Volksschulen? Wie bisher würden die meisten


Zur Frage der deutschen Einheitsschule

unter solchen Umständen irgend etwas gebessert wäre, dürfte niemand behaupten.
Dann bliebe nur das eine Mittel übrig: die Gesetzgebung auch gegen die
privaten Vorschulen aufzubieten. Das aber stünde — genau so wie im Grunde
bereits das Vorgehen gegen die öffentlichen Vorschulen — mit dem gerade von
den Anhängern der Einheitsschule vertretenen Grundsatz der Erziehungsfreiheit
im Widerspruch, wonach die Staatsgemeinschaft private Schuleinrichtungen außer¬
halb der allgemeinen öffentlichen Schule zu genehmigen hat, „a) solange oder
soweit die privaten Erziehungsabsichten nicht dem Gesamtwohle der Gemeinschaft
zuwiderlaufen, b) soweit die privaten Erziehungseinrichtungen mindestens das
gleiche leisten, wie die öffentlichen, c) solange die Mitglieder keine öffentlichen
Mittel für ihre nicht allen gleichmäßig zugänglichen Einrichtungen verlangen."
Es bleibt somit abzuwarten, wie die Anhänger der Einheitsschule ihren Kampf
gegen die Vorschule weiter führen wollen, ohne gegen ihre eigenen Grundsätze
zu verstoßen und ohne ihre Haltung lediglich vom Standpunkt der Volksschule
aus zu begründen.

Wenn nun die Freunde der Einheitsschule in folgerichtiger Entwicklung
ihres Gedankens fordern, daß jedem mittellosen Begabten durch Schulgeld¬
erlaß und Erziehungsbeihilfen die Möglichkeit geboten werde, sich eine
höhere Bildung anzueignen (Kerschensteiner, Leitsatz 6), so klingt dies
gewiß sehr schön und bestechend; denn wer sollte sich nicht freuen,
wenn er dazu verhelfen könnte, wohlbegabter fleißigen Schülern den Weg
zur Höhe freizugeben! Und doch erheben sich auch hier wieder die schwersten
Bedenken. Es ist genügend bekannt, wie gerade die höheren Berufe die längste
Vorbereitungszeit erfordern und wie der studierte Mann kaum mit dreißig
Jahren hoffen darf, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen. Schon den
Familien des sogenannten guten Mittelstandes wird es schwer genug, einen
Sohn oder gar mehrere durch das Studium hindurchzudringen. Wovon will
nun der mittellose Begabte die Kosten der Studienjahre bestreiten? Denn die
erwähnten Erziehungsbeihilfen können sich doch nur auf die Dauer der eigent¬
lichen Schulzeit erstrecken. Anderseits, einem jungen Menschen bis zur Pforte
der Universität durchzuhelfen und dann ihn mittellos sich selbst zu überlassen,
das ist doch weit grausamer, als ihn gar nicht erst auf den Weg zur höheren
Bildung zu führen. Mir selbst ist es geschehen, daß eine Mutter, deren Sohn
durch Freistellen und durch Erziehungsbeihilfen freundlicher Gönner durch die
Schule gebracht worden war, kurz vor der Prüfung zu mir kam und mich vor¬
wurfsvoll fragte: „Und was nun?" Sollen also Freischule und Beihilfen nicht
geradezu zur Grausamkeit werden, so müssen sie dem mittellosen Begabten bis
zur Erlangung einer wirtschaftlich ausreichenden Stellung weiter gewährt werden.
Welche Belastung der öffentlichen Mittel dadurch bedingt werden würde, entzieht
sich meiner Schätzung, dürfte aber nicht unerheblich sein.

Nehmen wir aber an, die erforderlichen Mittel würden aufgebracht, welche
Folgerung ergäbe sich nun für die Volksschulen? Wie bisher würden die meisten


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[0548] Zur Frage der deutschen Einheitsschule unter solchen Umständen irgend etwas gebessert wäre, dürfte niemand behaupten. Dann bliebe nur das eine Mittel übrig: die Gesetzgebung auch gegen die privaten Vorschulen aufzubieten. Das aber stünde — genau so wie im Grunde bereits das Vorgehen gegen die öffentlichen Vorschulen — mit dem gerade von den Anhängern der Einheitsschule vertretenen Grundsatz der Erziehungsfreiheit im Widerspruch, wonach die Staatsgemeinschaft private Schuleinrichtungen außer¬ halb der allgemeinen öffentlichen Schule zu genehmigen hat, „a) solange oder soweit die privaten Erziehungsabsichten nicht dem Gesamtwohle der Gemeinschaft zuwiderlaufen, b) soweit die privaten Erziehungseinrichtungen mindestens das gleiche leisten, wie die öffentlichen, c) solange die Mitglieder keine öffentlichen Mittel für ihre nicht allen gleichmäßig zugänglichen Einrichtungen verlangen." Es bleibt somit abzuwarten, wie die Anhänger der Einheitsschule ihren Kampf gegen die Vorschule weiter führen wollen, ohne gegen ihre eigenen Grundsätze zu verstoßen und ohne ihre Haltung lediglich vom Standpunkt der Volksschule aus zu begründen. Wenn nun die Freunde der Einheitsschule in folgerichtiger Entwicklung ihres Gedankens fordern, daß jedem mittellosen Begabten durch Schulgeld¬ erlaß und Erziehungsbeihilfen die Möglichkeit geboten werde, sich eine höhere Bildung anzueignen (Kerschensteiner, Leitsatz 6), so klingt dies gewiß sehr schön und bestechend; denn wer sollte sich nicht freuen, wenn er dazu verhelfen könnte, wohlbegabter fleißigen Schülern den Weg zur Höhe freizugeben! Und doch erheben sich auch hier wieder die schwersten Bedenken. Es ist genügend bekannt, wie gerade die höheren Berufe die längste Vorbereitungszeit erfordern und wie der studierte Mann kaum mit dreißig Jahren hoffen darf, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen. Schon den Familien des sogenannten guten Mittelstandes wird es schwer genug, einen Sohn oder gar mehrere durch das Studium hindurchzudringen. Wovon will nun der mittellose Begabte die Kosten der Studienjahre bestreiten? Denn die erwähnten Erziehungsbeihilfen können sich doch nur auf die Dauer der eigent¬ lichen Schulzeit erstrecken. Anderseits, einem jungen Menschen bis zur Pforte der Universität durchzuhelfen und dann ihn mittellos sich selbst zu überlassen, das ist doch weit grausamer, als ihn gar nicht erst auf den Weg zur höheren Bildung zu führen. Mir selbst ist es geschehen, daß eine Mutter, deren Sohn durch Freistellen und durch Erziehungsbeihilfen freundlicher Gönner durch die Schule gebracht worden war, kurz vor der Prüfung zu mir kam und mich vor¬ wurfsvoll fragte: „Und was nun?" Sollen also Freischule und Beihilfen nicht geradezu zur Grausamkeit werden, so müssen sie dem mittellosen Begabten bis zur Erlangung einer wirtschaftlich ausreichenden Stellung weiter gewährt werden. Welche Belastung der öffentlichen Mittel dadurch bedingt werden würde, entzieht sich meiner Schätzung, dürfte aber nicht unerheblich sein. Nehmen wir aber an, die erforderlichen Mittel würden aufgebracht, welche Folgerung ergäbe sich nun für die Volksschulen? Wie bisher würden die meisten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/548>, abgerufen am 25.07.2024.