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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Hoetzsch: Rußland

den Zaren, den "Großgrundbesitzer von Rußland", zum allein maßgebenden
großkapitalistischen Unternehmer in Rußland umzuwandeln und so die moderne
Wirtschastsentwicklung in die Vorstellungswelt der Slavjanophilen und des
Selbstherrschers zu pressen. Damit aber wäre die Brücke zwischen meinen
Wünschen und den Darlegungen von Hoetzsch hergestellt, die sich im Kapitel
"Neue Wirtschafts- und Finanzpolitik seit 1912" finden. Das waren auch in
der Zeit von 1901 bis 1912. wie schon seit 1863 und noch früher, die Leit¬
motive, die dem Verfassungshistoriker besonders eindringlich in das Ohr klingen.
Der Autor hätte dann frei bestimmen können, wie weit er in der Geschichte
zurückblättern wollte: bis 1902. 1894, 1882, 1863 oder 950. Er hätte
dann die Wahl gehabt, einen Band oder sechs Bände zu schreiben.

Der Mangel eines eingehenden Studiums der Sjemstwobewegung ist
meines Erachtens auch der Hauptgrund dafür, wenn das Urteil von Hoetzsch
vielfach abhängig ist von Männern, die dem Wesen des Russentums und des
russischen Staates fern stehen. Baltische Grundherren, die in den Anschauungen
des römischen Rechts erzogen sind, haben ihm vor allen Dingen die Wege
gewiesen. Russische Einflüsse lassen sich in den Darlegungen von Hoetzsch nur
wenig erkennen. So nur lassen sich einige direkt irreführende Angaben erklären,
die ich wegen ihrer politischen Bedeutung hervorhebe. Es heißt bei Hoetzsch:
"Die große Verfassungsbewegung innerhalb der Kirche selbst ... ist im Sande
verlaufen...... Die Gedanken an eine Neichssynode und eine Wieder¬
belebung des Patriarchats sind rasch wieder verflogen." Diese Darstellung
entspricht nicht den Tatsachen. Um das Patriarchat wird mit steigender Heftigkeit
am Hofe und im Heiligsten spröd gekämpft, nur hat die strenge Handhabung
der Zensur den literarischen Kampf um die Kirchenreform vorläufig in die amt¬
lichen Denkschriften zurückgedrängt. -- Die Behauptung, das regierende Zarenhaus
sei deutsch, läßt sich vom biologischen Standpunkte aus nicht ohne weiteres auf¬
recht halten, besonders nach Veröffentlichung der Memoiren der Kaiserin
Katharina der Zweiten; aber selbst, wenn der sein Material kritisch würdigende
Historiker diese Memoiren als historisches Dokument ablehnen wollte, so war
doch in einer "Einführung" der Hinweis erforderlich, daß eine russische Gelehrten¬
schule glaubt, die russische Herkunft des Zaren wenigstens im männlichen Stamm
nachgewiesen zu haben, und daß diese Feststellung seitens der moskowitischen,
monarchisch gesinnten Kreise politisch benutzt wird. Peter der Dritte, der
Holsteiner aus Gottorp, wird also als Stammvater abgelehnt. -- Der Be¬
hauptung des Autors, daß Nußland seit 1905 in die Reihe der konstitutionell
regierten Staaten eingerückt wäre, steht die Auffassung der russischen Regierung
gegenüber, daß sich an den Grundlagen der Verfassung seit Alerander dem Zweiten
nichts geändert habe, weshalb man verstehen kann, daß die Volksvertretung nicht
als gesetzgebende, sondern als beratende Körperschaft behandelt wird.

Auch im Buchstudium hat Hoetzsch sich nicht immer genügend an die
Russen gehalten. Die für die Erkenntnis Rußlands unentbehrliche Zeitschriften-


Hoetzsch: Rußland

den Zaren, den „Großgrundbesitzer von Rußland", zum allein maßgebenden
großkapitalistischen Unternehmer in Rußland umzuwandeln und so die moderne
Wirtschastsentwicklung in die Vorstellungswelt der Slavjanophilen und des
Selbstherrschers zu pressen. Damit aber wäre die Brücke zwischen meinen
Wünschen und den Darlegungen von Hoetzsch hergestellt, die sich im Kapitel
„Neue Wirtschafts- und Finanzpolitik seit 1912" finden. Das waren auch in
der Zeit von 1901 bis 1912. wie schon seit 1863 und noch früher, die Leit¬
motive, die dem Verfassungshistoriker besonders eindringlich in das Ohr klingen.
Der Autor hätte dann frei bestimmen können, wie weit er in der Geschichte
zurückblättern wollte: bis 1902. 1894, 1882, 1863 oder 950. Er hätte
dann die Wahl gehabt, einen Band oder sechs Bände zu schreiben.

Der Mangel eines eingehenden Studiums der Sjemstwobewegung ist
meines Erachtens auch der Hauptgrund dafür, wenn das Urteil von Hoetzsch
vielfach abhängig ist von Männern, die dem Wesen des Russentums und des
russischen Staates fern stehen. Baltische Grundherren, die in den Anschauungen
des römischen Rechts erzogen sind, haben ihm vor allen Dingen die Wege
gewiesen. Russische Einflüsse lassen sich in den Darlegungen von Hoetzsch nur
wenig erkennen. So nur lassen sich einige direkt irreführende Angaben erklären,
die ich wegen ihrer politischen Bedeutung hervorhebe. Es heißt bei Hoetzsch:
„Die große Verfassungsbewegung innerhalb der Kirche selbst ... ist im Sande
verlaufen...... Die Gedanken an eine Neichssynode und eine Wieder¬
belebung des Patriarchats sind rasch wieder verflogen." Diese Darstellung
entspricht nicht den Tatsachen. Um das Patriarchat wird mit steigender Heftigkeit
am Hofe und im Heiligsten spröd gekämpft, nur hat die strenge Handhabung
der Zensur den literarischen Kampf um die Kirchenreform vorläufig in die amt¬
lichen Denkschriften zurückgedrängt. — Die Behauptung, das regierende Zarenhaus
sei deutsch, läßt sich vom biologischen Standpunkte aus nicht ohne weiteres auf¬
recht halten, besonders nach Veröffentlichung der Memoiren der Kaiserin
Katharina der Zweiten; aber selbst, wenn der sein Material kritisch würdigende
Historiker diese Memoiren als historisches Dokument ablehnen wollte, so war
doch in einer „Einführung" der Hinweis erforderlich, daß eine russische Gelehrten¬
schule glaubt, die russische Herkunft des Zaren wenigstens im männlichen Stamm
nachgewiesen zu haben, und daß diese Feststellung seitens der moskowitischen,
monarchisch gesinnten Kreise politisch benutzt wird. Peter der Dritte, der
Holsteiner aus Gottorp, wird also als Stammvater abgelehnt. — Der Be¬
hauptung des Autors, daß Nußland seit 1905 in die Reihe der konstitutionell
regierten Staaten eingerückt wäre, steht die Auffassung der russischen Regierung
gegenüber, daß sich an den Grundlagen der Verfassung seit Alerander dem Zweiten
nichts geändert habe, weshalb man verstehen kann, daß die Volksvertretung nicht
als gesetzgebende, sondern als beratende Körperschaft behandelt wird.

Auch im Buchstudium hat Hoetzsch sich nicht immer genügend an die
Russen gehalten. Die für die Erkenntnis Rußlands unentbehrliche Zeitschriften-


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[0534] Hoetzsch: Rußland den Zaren, den „Großgrundbesitzer von Rußland", zum allein maßgebenden großkapitalistischen Unternehmer in Rußland umzuwandeln und so die moderne Wirtschastsentwicklung in die Vorstellungswelt der Slavjanophilen und des Selbstherrschers zu pressen. Damit aber wäre die Brücke zwischen meinen Wünschen und den Darlegungen von Hoetzsch hergestellt, die sich im Kapitel „Neue Wirtschafts- und Finanzpolitik seit 1912" finden. Das waren auch in der Zeit von 1901 bis 1912. wie schon seit 1863 und noch früher, die Leit¬ motive, die dem Verfassungshistoriker besonders eindringlich in das Ohr klingen. Der Autor hätte dann frei bestimmen können, wie weit er in der Geschichte zurückblättern wollte: bis 1902. 1894, 1882, 1863 oder 950. Er hätte dann die Wahl gehabt, einen Band oder sechs Bände zu schreiben. Der Mangel eines eingehenden Studiums der Sjemstwobewegung ist meines Erachtens auch der Hauptgrund dafür, wenn das Urteil von Hoetzsch vielfach abhängig ist von Männern, die dem Wesen des Russentums und des russischen Staates fern stehen. Baltische Grundherren, die in den Anschauungen des römischen Rechts erzogen sind, haben ihm vor allen Dingen die Wege gewiesen. Russische Einflüsse lassen sich in den Darlegungen von Hoetzsch nur wenig erkennen. So nur lassen sich einige direkt irreführende Angaben erklären, die ich wegen ihrer politischen Bedeutung hervorhebe. Es heißt bei Hoetzsch: „Die große Verfassungsbewegung innerhalb der Kirche selbst ... ist im Sande verlaufen...... Die Gedanken an eine Neichssynode und eine Wieder¬ belebung des Patriarchats sind rasch wieder verflogen." Diese Darstellung entspricht nicht den Tatsachen. Um das Patriarchat wird mit steigender Heftigkeit am Hofe und im Heiligsten spröd gekämpft, nur hat die strenge Handhabung der Zensur den literarischen Kampf um die Kirchenreform vorläufig in die amt¬ lichen Denkschriften zurückgedrängt. — Die Behauptung, das regierende Zarenhaus sei deutsch, läßt sich vom biologischen Standpunkte aus nicht ohne weiteres auf¬ recht halten, besonders nach Veröffentlichung der Memoiren der Kaiserin Katharina der Zweiten; aber selbst, wenn der sein Material kritisch würdigende Historiker diese Memoiren als historisches Dokument ablehnen wollte, so war doch in einer „Einführung" der Hinweis erforderlich, daß eine russische Gelehrten¬ schule glaubt, die russische Herkunft des Zaren wenigstens im männlichen Stamm nachgewiesen zu haben, und daß diese Feststellung seitens der moskowitischen, monarchisch gesinnten Kreise politisch benutzt wird. Peter der Dritte, der Holsteiner aus Gottorp, wird also als Stammvater abgelehnt. — Der Be¬ hauptung des Autors, daß Nußland seit 1905 in die Reihe der konstitutionell regierten Staaten eingerückt wäre, steht die Auffassung der russischen Regierung gegenüber, daß sich an den Grundlagen der Verfassung seit Alerander dem Zweiten nichts geändert habe, weshalb man verstehen kann, daß die Volksvertretung nicht als gesetzgebende, sondern als beratende Körperschaft behandelt wird. Auch im Buchstudium hat Hoetzsch sich nicht immer genügend an die Russen gehalten. Die für die Erkenntnis Rußlands unentbehrliche Zeitschriften-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/534>, abgerufen am 04.07.2024.