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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Hoetzsch: Rußland

den Großrussen einflußreiche Kreise gibt, die das föderative System sür Ru߬
lands staatlichen Aufbau gutheißen, ist für das Verständnis der innerrussischen
Kämpfe von großer Bedeutung und gäbe Hoetzschs Kapitel "Erbteil der Ver¬
gangenheit" eine für die Einführung praktische Bedeutung, die der Leser jetzt
nicht ohne weiteres festzustellen in der Lage ist. In der offenkundiger Hin¬
neigung bedeutender Sjemstwomänner zum Föderativsystem liegt der wichtigste
Grund, weshalb alle noch so wertvollen Dienste der Selbstverwaltung seitens
der Regierung nicht entsprechend hoch eingeschätzt wurden und werden, und daß
sich die gesamte Regierungskunst von 1882 bis 1904, und seit 1906 von neuem
darauf richtete, jenen zentrifugalen Bestrebungen eine um so rücksichtslosere Zen-
tralisation in Finanzen und Verwaltung entgegenzustellen; hieraus erklärt sich
auch das Bestreben der Regierung, direkten Einfluß auf die Sjemstwo-
versammlungen zu erhalten und ihn durch die Adelsmarschälle ausüben zu lassen.
Wenn Hoetzsch dennoch des Auftretens des Adelsmarschalls von Tschernigow,
Muchcmow, im Herbst 1904 und des scharfen Verweises, den er dafür vom
Zaren öffentlich erhalten hat, nicht gedenkt, so ist auch das ein wichtiger Beweis
dafür, wie notwendig gerade für die Einführung auf Grund der Geschichte von
1904 bis 1912 das eingehende Studium der konstitutionellen Sjemstwobewegung
als Vorarbeit war.

Die Berechtigung meiner Forderung für die Durchführung der von Hoetzsch
gestellten Aufgabe schöpfe ich im übrigen aus der Bedeutung, die die konsti¬
tutionelle Sjemstwopartei für die Entwicklung aller Zweige des kulturellen und
sozialen Lebens in Rußland gehabt hat. Es gibt kein Gebiet, das durch die
Tätigkeit der Sjemstwo nicht berührt worden wäre: Agrarfrage, Schulpolitik,
Finanzen, Kirche, Sozialpolitik; auf die Nationalitätenfrage wurde schon hin¬
gewiesen, -- mit einem Wort alle die Fragen, die Hoetzsch in seinem Buche
erörtert. Von der Sjemstwobewegung ausgehend, wäre die Aufgabe auch für
das erste Kapitel leicht gewesen; sie hieß: die Feststellung dessen, worum in den
Jahren 1904 bis 1912 gekämpft wurde und wie sich die kämpfenden Parteien
zusammensetzten. Hie Selbstherrschaft! hie Volksvertretung! Hie Zentralisation!
hie Dezentralisation! Dabei war festzustellen, wie sowohl die Anhänger der
Selbstherrschaft wie die Konstitutionalisten in sich tief gespalten waren, vor
allen Dingen, was bei Hoetzsch nicht genügend herausgearbeitet ist, der
Kampf,- den seit Wildes Eintritt in das Finanzministerium dieses gegen
das Ministerium des Innern führte. Einen für die Verfassungsentwicklung des
Zarenreichs höchst bedeutsamen Gedanken läßt Hoetzsch nur anklingen, wenn er
auf Seite 182 schreibt: "Nachfolger . . . wurde Wildes entschiedener Gegner
Goremykin, in dem man gegenüber den: industriefreundlichen, für liberal
geltenden Witte den konservativen Vertreter der Landgentry. . ., also der
agrarisch-großgrundbesitzlicheu Interessen sah." Witte erscheint mir heute --
übrigens in Übereinstimmung mit Hoetzsch (Seite 350) -- mehr, wie der
industriefreundliche Finanzminister: er ist es, der den kühnen Versuch macht,


Hoetzsch: Rußland

den Großrussen einflußreiche Kreise gibt, die das föderative System sür Ru߬
lands staatlichen Aufbau gutheißen, ist für das Verständnis der innerrussischen
Kämpfe von großer Bedeutung und gäbe Hoetzschs Kapitel „Erbteil der Ver¬
gangenheit" eine für die Einführung praktische Bedeutung, die der Leser jetzt
nicht ohne weiteres festzustellen in der Lage ist. In der offenkundiger Hin¬
neigung bedeutender Sjemstwomänner zum Föderativsystem liegt der wichtigste
Grund, weshalb alle noch so wertvollen Dienste der Selbstverwaltung seitens
der Regierung nicht entsprechend hoch eingeschätzt wurden und werden, und daß
sich die gesamte Regierungskunst von 1882 bis 1904, und seit 1906 von neuem
darauf richtete, jenen zentrifugalen Bestrebungen eine um so rücksichtslosere Zen-
tralisation in Finanzen und Verwaltung entgegenzustellen; hieraus erklärt sich
auch das Bestreben der Regierung, direkten Einfluß auf die Sjemstwo-
versammlungen zu erhalten und ihn durch die Adelsmarschälle ausüben zu lassen.
Wenn Hoetzsch dennoch des Auftretens des Adelsmarschalls von Tschernigow,
Muchcmow, im Herbst 1904 und des scharfen Verweises, den er dafür vom
Zaren öffentlich erhalten hat, nicht gedenkt, so ist auch das ein wichtiger Beweis
dafür, wie notwendig gerade für die Einführung auf Grund der Geschichte von
1904 bis 1912 das eingehende Studium der konstitutionellen Sjemstwobewegung
als Vorarbeit war.

Die Berechtigung meiner Forderung für die Durchführung der von Hoetzsch
gestellten Aufgabe schöpfe ich im übrigen aus der Bedeutung, die die konsti¬
tutionelle Sjemstwopartei für die Entwicklung aller Zweige des kulturellen und
sozialen Lebens in Rußland gehabt hat. Es gibt kein Gebiet, das durch die
Tätigkeit der Sjemstwo nicht berührt worden wäre: Agrarfrage, Schulpolitik,
Finanzen, Kirche, Sozialpolitik; auf die Nationalitätenfrage wurde schon hin¬
gewiesen, — mit einem Wort alle die Fragen, die Hoetzsch in seinem Buche
erörtert. Von der Sjemstwobewegung ausgehend, wäre die Aufgabe auch für
das erste Kapitel leicht gewesen; sie hieß: die Feststellung dessen, worum in den
Jahren 1904 bis 1912 gekämpft wurde und wie sich die kämpfenden Parteien
zusammensetzten. Hie Selbstherrschaft! hie Volksvertretung! Hie Zentralisation!
hie Dezentralisation! Dabei war festzustellen, wie sowohl die Anhänger der
Selbstherrschaft wie die Konstitutionalisten in sich tief gespalten waren, vor
allen Dingen, was bei Hoetzsch nicht genügend herausgearbeitet ist, der
Kampf,- den seit Wildes Eintritt in das Finanzministerium dieses gegen
das Ministerium des Innern führte. Einen für die Verfassungsentwicklung des
Zarenreichs höchst bedeutsamen Gedanken läßt Hoetzsch nur anklingen, wenn er
auf Seite 182 schreibt: „Nachfolger . . . wurde Wildes entschiedener Gegner
Goremykin, in dem man gegenüber den: industriefreundlichen, für liberal
geltenden Witte den konservativen Vertreter der Landgentry. . ., also der
agrarisch-großgrundbesitzlicheu Interessen sah." Witte erscheint mir heute —
übrigens in Übereinstimmung mit Hoetzsch (Seite 350) — mehr, wie der
industriefreundliche Finanzminister: er ist es, der den kühnen Versuch macht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/533>, abgerufen am 04.07.2024.