Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hoetzsch: Rußland

literatur hat Hoetzsch ebenso ignoriert wie die zahlreichen Memoirenwerke, die
bis 1911 erschienen waren. So wird es zu erklären sein, wenn Männer von
der Bedeutung eines W. A. Goltzew oder M. M. Stassjulewilsch nicht mit einem
Wort erwähnt sind. Bei Erörterung des Schulwesens ist Pirogows, des großen
russischen Pädagogen, nicht gedacht, bei Skizzierung der Polenfrage ist der 1906
verstorbene, hochbedeutsame W, D. Spassowitsch nicht genannt, dagegen sein
weniger einflußreicher lebender Redakteur E. Pilz.

Nachdem ich hiermit die beim Studium der Einführung von Hoetsch zu
beachtenden Gesichtspunkte herausgehoben und so den Blick des Lesers geschärft
habe, halte ich mich für berechtigt, das Werk im übrigen zu empfehlen. Es ist
ein sehr interessanter Versuch, der "russischen Sphinx" näher zu kommen. Die
beiden ersten Kapitel: "Erbteil der Vergangenheit" und "Die Voraussetzungen
der Revolution" geben einen knappen historischen Überblick; die Kapitel drei und
vier ("Krieg mitJapan" und "Die drei ersten Dünen") stellen das darüber bekannte
Material übersichtlich, aber nicht erschöpfend zusammen. Kapitel fünf, "Agrar¬
frage und Agrarreform", beruht hauptsächlich auf den Anschauungen des Baron
Menendorf, eines bedeutenden Dumaabgeordneten, der praktisch viel in der
entsprechenden Gesetzgebung mitgewirkt hat. Der Leser wird meines Erachtens
in diesen Teil des russischen Lebens besser durch die Arbeiten von Professor
Dr. Auhagen eingeführt, der fünf Jahre ununterbrochen dem Studium der
Agrarfrage in Rußland selbst widmen konnte. Recht gut ist auch das Buch des
Straßburger Professors Dr. W. D. Preyer "Die russische Agrarreform" (Jena,
Verlag von Gustav Fischer. 1914), das die gesamte umfangreiche Literatur
der Sjemstwoleute berücksichtigt und die Frage in allen ihren kulturellen Aus¬
strahlungen von russischen und europäischen Gesichtspunkten aus klar und an¬
regend, freilich mit starker Sympathie für den Grafen Witte vor uns entrollt.
-- Bei den Kapiteln sechs bis acht wird der Leser gut tun, die beiden Bände
von Masaryk fleißig mit zu benutzen, damit er Fleisch auf das von Hoetzsch
gegebene Gerippe bekommt. Auch die bei Eugen Diederichs in Jena 1914
erschienenen "Geistigen Grundlagen des Lebens" von Wladimir Solovjeff werden
zum Verständnis der Darstellung von Hoetzsch beitragen. -- Sehr gut, wenn
auch, wie das ganze Buch, unter allzu scharfer Zusammenpressung des Stoffs
leidend, ist Kapitel neun, "das die Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik in den
verfassungsmäßigen Rahmen stellt. -- Alles übrige ist ein übersichtlich zusammen¬
gestelltes Material, von dem der für die russichen Dinge interessierte Leser
mit Nutzen für weitere Studien ausgehen kann.




Hoetzsch: Rußland

literatur hat Hoetzsch ebenso ignoriert wie die zahlreichen Memoirenwerke, die
bis 1911 erschienen waren. So wird es zu erklären sein, wenn Männer von
der Bedeutung eines W. A. Goltzew oder M. M. Stassjulewilsch nicht mit einem
Wort erwähnt sind. Bei Erörterung des Schulwesens ist Pirogows, des großen
russischen Pädagogen, nicht gedacht, bei Skizzierung der Polenfrage ist der 1906
verstorbene, hochbedeutsame W, D. Spassowitsch nicht genannt, dagegen sein
weniger einflußreicher lebender Redakteur E. Pilz.

Nachdem ich hiermit die beim Studium der Einführung von Hoetsch zu
beachtenden Gesichtspunkte herausgehoben und so den Blick des Lesers geschärft
habe, halte ich mich für berechtigt, das Werk im übrigen zu empfehlen. Es ist
ein sehr interessanter Versuch, der „russischen Sphinx" näher zu kommen. Die
beiden ersten Kapitel: „Erbteil der Vergangenheit" und „Die Voraussetzungen
der Revolution" geben einen knappen historischen Überblick; die Kapitel drei und
vier („Krieg mitJapan" und „Die drei ersten Dünen") stellen das darüber bekannte
Material übersichtlich, aber nicht erschöpfend zusammen. Kapitel fünf, „Agrar¬
frage und Agrarreform", beruht hauptsächlich auf den Anschauungen des Baron
Menendorf, eines bedeutenden Dumaabgeordneten, der praktisch viel in der
entsprechenden Gesetzgebung mitgewirkt hat. Der Leser wird meines Erachtens
in diesen Teil des russischen Lebens besser durch die Arbeiten von Professor
Dr. Auhagen eingeführt, der fünf Jahre ununterbrochen dem Studium der
Agrarfrage in Rußland selbst widmen konnte. Recht gut ist auch das Buch des
Straßburger Professors Dr. W. D. Preyer „Die russische Agrarreform" (Jena,
Verlag von Gustav Fischer. 1914), das die gesamte umfangreiche Literatur
der Sjemstwoleute berücksichtigt und die Frage in allen ihren kulturellen Aus¬
strahlungen von russischen und europäischen Gesichtspunkten aus klar und an¬
regend, freilich mit starker Sympathie für den Grafen Witte vor uns entrollt.
— Bei den Kapiteln sechs bis acht wird der Leser gut tun, die beiden Bände
von Masaryk fleißig mit zu benutzen, damit er Fleisch auf das von Hoetzsch
gegebene Gerippe bekommt. Auch die bei Eugen Diederichs in Jena 1914
erschienenen „Geistigen Grundlagen des Lebens" von Wladimir Solovjeff werden
zum Verständnis der Darstellung von Hoetzsch beitragen. — Sehr gut, wenn
auch, wie das ganze Buch, unter allzu scharfer Zusammenpressung des Stoffs
leidend, ist Kapitel neun, "das die Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik in den
verfassungsmäßigen Rahmen stellt. — Alles übrige ist ein übersichtlich zusammen¬
gestelltes Material, von dem der für die russichen Dinge interessierte Leser
mit Nutzen für weitere Studien ausgehen kann.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0535" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328635"/>
          <fw type="header" place="top"> Hoetzsch: Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2161" prev="#ID_2160"> literatur hat Hoetzsch ebenso ignoriert wie die zahlreichen Memoirenwerke, die<lb/>
bis 1911 erschienen waren. So wird es zu erklären sein, wenn Männer von<lb/>
der Bedeutung eines W. A. Goltzew oder M. M. Stassjulewilsch nicht mit einem<lb/>
Wort erwähnt sind. Bei Erörterung des Schulwesens ist Pirogows, des großen<lb/>
russischen Pädagogen, nicht gedacht, bei Skizzierung der Polenfrage ist der 1906<lb/>
verstorbene, hochbedeutsame W, D. Spassowitsch nicht genannt, dagegen sein<lb/>
weniger einflußreicher lebender Redakteur E. Pilz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2162"> Nachdem ich hiermit die beim Studium der Einführung von Hoetsch zu<lb/>
beachtenden Gesichtspunkte herausgehoben und so den Blick des Lesers geschärft<lb/>
habe, halte ich mich für berechtigt, das Werk im übrigen zu empfehlen. Es ist<lb/>
ein sehr interessanter Versuch, der &#x201E;russischen Sphinx" näher zu kommen. Die<lb/>
beiden ersten Kapitel: &#x201E;Erbteil der Vergangenheit" und &#x201E;Die Voraussetzungen<lb/>
der Revolution" geben einen knappen historischen Überblick; die Kapitel drei und<lb/>
vier (&#x201E;Krieg mitJapan" und &#x201E;Die drei ersten Dünen") stellen das darüber bekannte<lb/>
Material übersichtlich, aber nicht erschöpfend zusammen. Kapitel fünf, &#x201E;Agrar¬<lb/>
frage und Agrarreform", beruht hauptsächlich auf den Anschauungen des Baron<lb/>
Menendorf, eines bedeutenden Dumaabgeordneten, der praktisch viel in der<lb/>
entsprechenden Gesetzgebung mitgewirkt hat. Der Leser wird meines Erachtens<lb/>
in diesen Teil des russischen Lebens besser durch die Arbeiten von Professor<lb/>
Dr. Auhagen eingeführt, der fünf Jahre ununterbrochen dem Studium der<lb/>
Agrarfrage in Rußland selbst widmen konnte. Recht gut ist auch das Buch des<lb/>
Straßburger Professors Dr. W. D. Preyer &#x201E;Die russische Agrarreform" (Jena,<lb/>
Verlag von Gustav Fischer. 1914), das die gesamte umfangreiche Literatur<lb/>
der Sjemstwoleute berücksichtigt und die Frage in allen ihren kulturellen Aus¬<lb/>
strahlungen von russischen und europäischen Gesichtspunkten aus klar und an¬<lb/>
regend, freilich mit starker Sympathie für den Grafen Witte vor uns entrollt.<lb/>
&#x2014; Bei den Kapiteln sechs bis acht wird der Leser gut tun, die beiden Bände<lb/>
von Masaryk fleißig mit zu benutzen, damit er Fleisch auf das von Hoetzsch<lb/>
gegebene Gerippe bekommt. Auch die bei Eugen Diederichs in Jena 1914<lb/>
erschienenen &#x201E;Geistigen Grundlagen des Lebens" von Wladimir Solovjeff werden<lb/>
zum Verständnis der Darstellung von Hoetzsch beitragen. &#x2014; Sehr gut, wenn<lb/>
auch, wie das ganze Buch, unter allzu scharfer Zusammenpressung des Stoffs<lb/>
leidend, ist Kapitel neun, "das die Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik in den<lb/>
verfassungsmäßigen Rahmen stellt. &#x2014; Alles übrige ist ein übersichtlich zusammen¬<lb/>
gestelltes Material, von dem der für die russichen Dinge interessierte Leser<lb/>
mit Nutzen für weitere Studien ausgehen kann.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0535] Hoetzsch: Rußland literatur hat Hoetzsch ebenso ignoriert wie die zahlreichen Memoirenwerke, die bis 1911 erschienen waren. So wird es zu erklären sein, wenn Männer von der Bedeutung eines W. A. Goltzew oder M. M. Stassjulewilsch nicht mit einem Wort erwähnt sind. Bei Erörterung des Schulwesens ist Pirogows, des großen russischen Pädagogen, nicht gedacht, bei Skizzierung der Polenfrage ist der 1906 verstorbene, hochbedeutsame W, D. Spassowitsch nicht genannt, dagegen sein weniger einflußreicher lebender Redakteur E. Pilz. Nachdem ich hiermit die beim Studium der Einführung von Hoetsch zu beachtenden Gesichtspunkte herausgehoben und so den Blick des Lesers geschärft habe, halte ich mich für berechtigt, das Werk im übrigen zu empfehlen. Es ist ein sehr interessanter Versuch, der „russischen Sphinx" näher zu kommen. Die beiden ersten Kapitel: „Erbteil der Vergangenheit" und „Die Voraussetzungen der Revolution" geben einen knappen historischen Überblick; die Kapitel drei und vier („Krieg mitJapan" und „Die drei ersten Dünen") stellen das darüber bekannte Material übersichtlich, aber nicht erschöpfend zusammen. Kapitel fünf, „Agrar¬ frage und Agrarreform", beruht hauptsächlich auf den Anschauungen des Baron Menendorf, eines bedeutenden Dumaabgeordneten, der praktisch viel in der entsprechenden Gesetzgebung mitgewirkt hat. Der Leser wird meines Erachtens in diesen Teil des russischen Lebens besser durch die Arbeiten von Professor Dr. Auhagen eingeführt, der fünf Jahre ununterbrochen dem Studium der Agrarfrage in Rußland selbst widmen konnte. Recht gut ist auch das Buch des Straßburger Professors Dr. W. D. Preyer „Die russische Agrarreform" (Jena, Verlag von Gustav Fischer. 1914), das die gesamte umfangreiche Literatur der Sjemstwoleute berücksichtigt und die Frage in allen ihren kulturellen Aus¬ strahlungen von russischen und europäischen Gesichtspunkten aus klar und an¬ regend, freilich mit starker Sympathie für den Grafen Witte vor uns entrollt. — Bei den Kapiteln sechs bis acht wird der Leser gut tun, die beiden Bände von Masaryk fleißig mit zu benutzen, damit er Fleisch auf das von Hoetzsch gegebene Gerippe bekommt. Auch die bei Eugen Diederichs in Jena 1914 erschienenen „Geistigen Grundlagen des Lebens" von Wladimir Solovjeff werden zum Verständnis der Darstellung von Hoetzsch beitragen. — Sehr gut, wenn auch, wie das ganze Buch, unter allzu scharfer Zusammenpressung des Stoffs leidend, ist Kapitel neun, "das die Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik in den verfassungsmäßigen Rahmen stellt. — Alles übrige ist ein übersichtlich zusammen¬ gestelltes Material, von dem der für die russichen Dinge interessierte Leser mit Nutzen für weitere Studien ausgehen kann.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/535
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/535>, abgerufen am 04.07.2024.