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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Illusion von Saloniki

und die Vollendung der Taucrnbahn hat Süddeutschland und die Schweiz Trieft
näher gebracht. Aber wenn Hamburg noch immer, trotz der österreichischen Tarif¬
politik, für das Zentrum der österreichischen Industrie tarifarisch näher liegt als
Trieft, so läßt sich aus dieser Tatsache auch entnehmen, einen wie großen
natürlichen Vorsprung Trieft für den österreichischen Außenhandel vor Saloniki
besitzt. Man kann sich kaum vorstellen, daß Saloniki, dessen Entfernung von
Wien 1250 Kilometer (Bahnstrecke) beträgt, mit Trieft ernstlich wetteifern könnte,
selbst wenn man die sehr hohen Gütertarife der orientalischen Bahnen gar nicht
berücksichtigt. Man hat seinerzeit ausgerechnet, daß der Seetransport von Mar¬
seille nach Saloniki etwa ein Zehntel der Bahnfracht von Marseille nach Belgrad
ausmacht. Saloniki hat als Seehafen gewiß eine bedeutende Zukunft vor sich.
Aber sein eigentliches Hinterland ist Serbien und Mazedonien, und nicht Öster¬
reich-Ungarn, und noch viel weniger Deutschland.

Die ganze Frage von Saloniki ist von einem Teil der deutschen Presse so
behandelt worden, als ob Deutschland an dem Handel von Saloniki und an
einer schließlichen Einverleibung der Stadt in die Donaumonarchie beinahe
ebenso interessiert sei als unsere Bundesgenossen selbst. Wir haben es hier mit
jenen Ideen zu tun, die teils wirtschaftlichen, teils politischen Ursprungs siud,
und die eine Identität der deutschen und österreichischen Interessen am Balkan
voraussetzen. Zeitlich stammen diese Ideen aus der Periode vor 1866, und
sie sind österreichischen, bezw. großdeutsch-österreichischen Ursprungs. Sie wurden
von neuem belebt durch die Beziehungen der Zentrumspartei nach Österreich,
ferner durch altdeutsche Sympathien für die Deutschen in Österreich, und zuletzt
durch die wieder von Österreich ausgehenden Bestrebungen, "Mitteleuropa" als
ein eigenes wirtschaftliches Interessengebiet zu konstituieren. Die ursprüngliche
Idee war, daß die drei Weltreiche: das britische Reich, die Vereinigten
Staaten und Rußland, sich von der übrigen Welt durch hohe Zollmauern
abschließen würden, und daß sich daher das festländische Europa eben¬
falls zollpolitisch einigen müßte, wenn es wirtschaftlich lebensfähig
bleiben wollte. Namentlich hat der verstorbene Alexander von Peez in
diesem Sinne gewirkt, der zweifellos eine bedeutende Persönlichkeit
und ein guter Deutscher war, der aber nicht reichsdeutsche, sondern
österreichische Interessen vertrat, und der durch seine gänzlich falsche Beurteilung
Englands, daS er gar nicht kannte, die öffentliche Meinung in Teutschland lange
ungünstig beeinflußt hat. Die Entwicklungen der anderthalb Jahrzehnte, die
auf die Veröffentlichung feiner "Studien zur neuesten Handelspolitik" gefolgt
sind, haben die Unrichtigkeit seiner Prognose dargetan. Vor allem hat England am
Freihandel festgehalten. Nußland hat sich gegen den "mitteleuropäischen", zumal den
deutschen Handel keineswegs abgesperrt, und noch viel weniger gegen das deutsche
Kapital; und wenn wir vielleicht damit rechnen müssen, daß der nächste Handels¬
vertrag mit Rußland weniger günstig ausfällt als der von 1904. so ist damit noch
lange nicht bewiesen, daß Nußland bald in die Lage kommen wird, sich gegen


Die Illusion von Saloniki

und die Vollendung der Taucrnbahn hat Süddeutschland und die Schweiz Trieft
näher gebracht. Aber wenn Hamburg noch immer, trotz der österreichischen Tarif¬
politik, für das Zentrum der österreichischen Industrie tarifarisch näher liegt als
Trieft, so läßt sich aus dieser Tatsache auch entnehmen, einen wie großen
natürlichen Vorsprung Trieft für den österreichischen Außenhandel vor Saloniki
besitzt. Man kann sich kaum vorstellen, daß Saloniki, dessen Entfernung von
Wien 1250 Kilometer (Bahnstrecke) beträgt, mit Trieft ernstlich wetteifern könnte,
selbst wenn man die sehr hohen Gütertarife der orientalischen Bahnen gar nicht
berücksichtigt. Man hat seinerzeit ausgerechnet, daß der Seetransport von Mar¬
seille nach Saloniki etwa ein Zehntel der Bahnfracht von Marseille nach Belgrad
ausmacht. Saloniki hat als Seehafen gewiß eine bedeutende Zukunft vor sich.
Aber sein eigentliches Hinterland ist Serbien und Mazedonien, und nicht Öster¬
reich-Ungarn, und noch viel weniger Deutschland.

Die ganze Frage von Saloniki ist von einem Teil der deutschen Presse so
behandelt worden, als ob Deutschland an dem Handel von Saloniki und an
einer schließlichen Einverleibung der Stadt in die Donaumonarchie beinahe
ebenso interessiert sei als unsere Bundesgenossen selbst. Wir haben es hier mit
jenen Ideen zu tun, die teils wirtschaftlichen, teils politischen Ursprungs siud,
und die eine Identität der deutschen und österreichischen Interessen am Balkan
voraussetzen. Zeitlich stammen diese Ideen aus der Periode vor 1866, und
sie sind österreichischen, bezw. großdeutsch-österreichischen Ursprungs. Sie wurden
von neuem belebt durch die Beziehungen der Zentrumspartei nach Österreich,
ferner durch altdeutsche Sympathien für die Deutschen in Österreich, und zuletzt
durch die wieder von Österreich ausgehenden Bestrebungen, „Mitteleuropa" als
ein eigenes wirtschaftliches Interessengebiet zu konstituieren. Die ursprüngliche
Idee war, daß die drei Weltreiche: das britische Reich, die Vereinigten
Staaten und Rußland, sich von der übrigen Welt durch hohe Zollmauern
abschließen würden, und daß sich daher das festländische Europa eben¬
falls zollpolitisch einigen müßte, wenn es wirtschaftlich lebensfähig
bleiben wollte. Namentlich hat der verstorbene Alexander von Peez in
diesem Sinne gewirkt, der zweifellos eine bedeutende Persönlichkeit
und ein guter Deutscher war, der aber nicht reichsdeutsche, sondern
österreichische Interessen vertrat, und der durch seine gänzlich falsche Beurteilung
Englands, daS er gar nicht kannte, die öffentliche Meinung in Teutschland lange
ungünstig beeinflußt hat. Die Entwicklungen der anderthalb Jahrzehnte, die
auf die Veröffentlichung feiner „Studien zur neuesten Handelspolitik" gefolgt
sind, haben die Unrichtigkeit seiner Prognose dargetan. Vor allem hat England am
Freihandel festgehalten. Nußland hat sich gegen den „mitteleuropäischen", zumal den
deutschen Handel keineswegs abgesperrt, und noch viel weniger gegen das deutsche
Kapital; und wenn wir vielleicht damit rechnen müssen, daß der nächste Handels¬
vertrag mit Rußland weniger günstig ausfällt als der von 1904. so ist damit noch
lange nicht bewiesen, daß Nußland bald in die Lage kommen wird, sich gegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/515>, abgerufen am 25.07.2024.