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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

Erinnern wir uns weiter, daß Goremykiu es war, der den bis 1906 so
gut wie unbekannten, erst vierundvierzig Jahre zählenden Stolypin von seinem
Gouverneursposten aus Ssamara holte und daß schließlich gerade während der
Präsidentschaft Stolypins die Diplomaten Jswolski und Hartwig eine Politik
treiben durften, die sich gegen Deutschland, Österreich-Ungarn sowie gegen die
Türkei richtete, während Stolypin selbst vorsichtig mit den Polen Ausgleichs¬
verhandlungen führte. Tscherkasski, Herrn Goremykins Lehrmeister, amtierte in den
1870er Jahren bis zu seinem am Tage des Friedensschlusses in San Stefano
erfolgten Tode als Präsident der russischen Zivilverwaltung auf dem Gebiet des
heutigen Bulgarien und Ost-Rumelien. Als durch die Bestimmungen des
Berliner Kongresses eine internationale Kommission ernannt war, die Geschicke
der Balkanvölker mit den Interessen der Türkei in Einklang zu bringen, was
auch eine gewisse Beaufsichtigung der russischen Zivilverwaltung in Bulgarien
notwendig machte, traten Reibungen ein, die noch heute in der Politik nach¬
wirken, die jedenfalls auf die Gemütsverfassung der beteiligten Russen sehr ver¬
stimmend eingewirkt haben. Bei einer der Balkankommissionen, die Alexander
der Zweite in seinen Briefen an Totleben für alles Mißgeschick der russischen
Balkandiplomaten verantwortlich machte, befand sich Herr Jswolski als junger
Attache. In Philippopel aber schaltete Stolypins Vater, der noch heute in
Moskau lebende General, und, wenn man Tatischtschews Angaben hierin Glauben
schenken darf, scheinen gerade dort zwischen den fremden Kommissären und den
Russen "häufige Streitigkeiten und sogar Zusammenstöße" stattgefunden zu
haben. Was liegt näher als der Gedanke, daß Stolyvins und Jswolskis
Politik von den Erinnerungen an die Tatsachen ausgeht, die in jüngeren Jahren
ihre patriotischen Gefühle so stark aufgewühlt hatten? Hatte nicht auch der
Balkankrieg von 1877 der revolutionären Bewegung Halt geboten? Und
weiter: erscheint es sehr willkürlich gefolgert, erscheint die Behauptung, daß
hinter der Agitation des Nowoje Wremja mehr stehe als die private Meinung
politischer Querkopfe, als Willkür, wenn man weiß, daß Stolypins älterer
Bruder Mitglied der Redaktion des genannten Blattes ist? Man kann ein¬
wenden: Stolypin ist tot! Gewiß, aber wie, unter welchen das nationale Gefühl
aufwühlenden Umständen ist er gestorben? Er starb als ein Held und ist ein
Nationalheld geworden, nachdem er den Russen das Selbstvertrauen wieder¬
gegeben hat. Stolypins Vermächtnis gilt heute mehr, als sein lebendiges
Wort galt. Aber derjenige, der im Jahre 1906 der ganzen Ideenwelt
Stolypins Eingang in die Regierung verschaffte, steht heute wieder provisorisch
am Steuer, solange bis er die geeigneten Männer für die entsprechenden Posten
gefunden hat: Goremykin.

Mit diesem Hinweis seien meine Russischen Briefe als Ergebnis meiner
letzten Rußlandfahrt abgeschlossen. Wer mehr aus dem Gefühlsleben der Russen
erfahren will, greife zu den eben erschienenen Briefen Dostojewskis und zu den
ausgewählten Aufsätzen des Philosophen Ssolowjoff. der den Krieg als ein


Russische Briefe

Erinnern wir uns weiter, daß Goremykiu es war, der den bis 1906 so
gut wie unbekannten, erst vierundvierzig Jahre zählenden Stolypin von seinem
Gouverneursposten aus Ssamara holte und daß schließlich gerade während der
Präsidentschaft Stolypins die Diplomaten Jswolski und Hartwig eine Politik
treiben durften, die sich gegen Deutschland, Österreich-Ungarn sowie gegen die
Türkei richtete, während Stolypin selbst vorsichtig mit den Polen Ausgleichs¬
verhandlungen führte. Tscherkasski, Herrn Goremykins Lehrmeister, amtierte in den
1870er Jahren bis zu seinem am Tage des Friedensschlusses in San Stefano
erfolgten Tode als Präsident der russischen Zivilverwaltung auf dem Gebiet des
heutigen Bulgarien und Ost-Rumelien. Als durch die Bestimmungen des
Berliner Kongresses eine internationale Kommission ernannt war, die Geschicke
der Balkanvölker mit den Interessen der Türkei in Einklang zu bringen, was
auch eine gewisse Beaufsichtigung der russischen Zivilverwaltung in Bulgarien
notwendig machte, traten Reibungen ein, die noch heute in der Politik nach¬
wirken, die jedenfalls auf die Gemütsverfassung der beteiligten Russen sehr ver¬
stimmend eingewirkt haben. Bei einer der Balkankommissionen, die Alexander
der Zweite in seinen Briefen an Totleben für alles Mißgeschick der russischen
Balkandiplomaten verantwortlich machte, befand sich Herr Jswolski als junger
Attache. In Philippopel aber schaltete Stolypins Vater, der noch heute in
Moskau lebende General, und, wenn man Tatischtschews Angaben hierin Glauben
schenken darf, scheinen gerade dort zwischen den fremden Kommissären und den
Russen „häufige Streitigkeiten und sogar Zusammenstöße" stattgefunden zu
haben. Was liegt näher als der Gedanke, daß Stolyvins und Jswolskis
Politik von den Erinnerungen an die Tatsachen ausgeht, die in jüngeren Jahren
ihre patriotischen Gefühle so stark aufgewühlt hatten? Hatte nicht auch der
Balkankrieg von 1877 der revolutionären Bewegung Halt geboten? Und
weiter: erscheint es sehr willkürlich gefolgert, erscheint die Behauptung, daß
hinter der Agitation des Nowoje Wremja mehr stehe als die private Meinung
politischer Querkopfe, als Willkür, wenn man weiß, daß Stolypins älterer
Bruder Mitglied der Redaktion des genannten Blattes ist? Man kann ein¬
wenden: Stolypin ist tot! Gewiß, aber wie, unter welchen das nationale Gefühl
aufwühlenden Umständen ist er gestorben? Er starb als ein Held und ist ein
Nationalheld geworden, nachdem er den Russen das Selbstvertrauen wieder¬
gegeben hat. Stolypins Vermächtnis gilt heute mehr, als sein lebendiges
Wort galt. Aber derjenige, der im Jahre 1906 der ganzen Ideenwelt
Stolypins Eingang in die Regierung verschaffte, steht heute wieder provisorisch
am Steuer, solange bis er die geeigneten Männer für die entsprechenden Posten
gefunden hat: Goremykin.

Mit diesem Hinweis seien meine Russischen Briefe als Ergebnis meiner
letzten Rußlandfahrt abgeschlossen. Wer mehr aus dem Gefühlsleben der Russen
erfahren will, greife zu den eben erschienenen Briefen Dostojewskis und zu den
ausgewählten Aufsätzen des Philosophen Ssolowjoff. der den Krieg als ein


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[0485] Russische Briefe Erinnern wir uns weiter, daß Goremykiu es war, der den bis 1906 so gut wie unbekannten, erst vierundvierzig Jahre zählenden Stolypin von seinem Gouverneursposten aus Ssamara holte und daß schließlich gerade während der Präsidentschaft Stolypins die Diplomaten Jswolski und Hartwig eine Politik treiben durften, die sich gegen Deutschland, Österreich-Ungarn sowie gegen die Türkei richtete, während Stolypin selbst vorsichtig mit den Polen Ausgleichs¬ verhandlungen führte. Tscherkasski, Herrn Goremykins Lehrmeister, amtierte in den 1870er Jahren bis zu seinem am Tage des Friedensschlusses in San Stefano erfolgten Tode als Präsident der russischen Zivilverwaltung auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien und Ost-Rumelien. Als durch die Bestimmungen des Berliner Kongresses eine internationale Kommission ernannt war, die Geschicke der Balkanvölker mit den Interessen der Türkei in Einklang zu bringen, was auch eine gewisse Beaufsichtigung der russischen Zivilverwaltung in Bulgarien notwendig machte, traten Reibungen ein, die noch heute in der Politik nach¬ wirken, die jedenfalls auf die Gemütsverfassung der beteiligten Russen sehr ver¬ stimmend eingewirkt haben. Bei einer der Balkankommissionen, die Alexander der Zweite in seinen Briefen an Totleben für alles Mißgeschick der russischen Balkandiplomaten verantwortlich machte, befand sich Herr Jswolski als junger Attache. In Philippopel aber schaltete Stolypins Vater, der noch heute in Moskau lebende General, und, wenn man Tatischtschews Angaben hierin Glauben schenken darf, scheinen gerade dort zwischen den fremden Kommissären und den Russen „häufige Streitigkeiten und sogar Zusammenstöße" stattgefunden zu haben. Was liegt näher als der Gedanke, daß Stolyvins und Jswolskis Politik von den Erinnerungen an die Tatsachen ausgeht, die in jüngeren Jahren ihre patriotischen Gefühle so stark aufgewühlt hatten? Hatte nicht auch der Balkankrieg von 1877 der revolutionären Bewegung Halt geboten? Und weiter: erscheint es sehr willkürlich gefolgert, erscheint die Behauptung, daß hinter der Agitation des Nowoje Wremja mehr stehe als die private Meinung politischer Querkopfe, als Willkür, wenn man weiß, daß Stolypins älterer Bruder Mitglied der Redaktion des genannten Blattes ist? Man kann ein¬ wenden: Stolypin ist tot! Gewiß, aber wie, unter welchen das nationale Gefühl aufwühlenden Umständen ist er gestorben? Er starb als ein Held und ist ein Nationalheld geworden, nachdem er den Russen das Selbstvertrauen wieder¬ gegeben hat. Stolypins Vermächtnis gilt heute mehr, als sein lebendiges Wort galt. Aber derjenige, der im Jahre 1906 der ganzen Ideenwelt Stolypins Eingang in die Regierung verschaffte, steht heute wieder provisorisch am Steuer, solange bis er die geeigneten Männer für die entsprechenden Posten gefunden hat: Goremykin. Mit diesem Hinweis seien meine Russischen Briefe als Ergebnis meiner letzten Rußlandfahrt abgeschlossen. Wer mehr aus dem Gefühlsleben der Russen erfahren will, greife zu den eben erschienenen Briefen Dostojewskis und zu den ausgewählten Aufsätzen des Philosophen Ssolowjoff. der den Krieg als ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/485>, abgerufen am 30.06.2024.