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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

Erziehungsmittel zur Nächstenliebe verherrlicht*). Unsere konkrete Frage lautete:
Ist die russische amtliche Politik zurzeit kriegerisch? Nein! Denn es liegen
genügend innere Gründe für Rußland vor, keinen Krieg in Europa zu be¬
ginnen, der nicht sehr sorgfältig vorbereitet wäre. Rüstet man für einen euro¬
päischen Krieg? Ja! Aber ist es nicht überflüssig, die Frage so zu stellen?
Rüster nicht alle Völker und Staaten, die leben wollen, für den Kriegsfall?
Berechtigter erscheint mir die Frage, ob die russische Politik aktiv ist und positiv
oder passiv. Sie ist ohne Zweifel durchaus aktiv! Aktiv auf der ganzen
Linie: in den diplomatischen Verhandlungen, in der Heeres- und Flotten¬
politik, in der Wirtschaft. In einzelnen ihrer Äußerungen darf man sie mehr
als aktiv, darf man sie ohne Übertreibung aggressiv nennen! Und darin
liegt die große Gefahr für die nähere oder fernere Zukunft. Denn mögen
die Friedensabsichten des Zaren und Goremykins und Ssasonows heute noch
so bestimmt und gefestigt sein, wer will es verantworten, zu behaupten,
daß nicht sie alle von einem vermeintlichen Vollswillen, von der nationalen
Begeisterung mit fortgerissen werden, wie einst Alexander der Zweite, der nicht
mehr zurückkonnte, nachdem er seine berühmte Rede an den Adel von Moskau
gehalten hatte? In Rußland mehr als bei uns gilt es die Gefühlsregungen
einzudämmen und zu bestimmten Zielen zu leiten. Wird die russische Regierung
imstande sein, bei den Verhandlungen um den neuen Handelsvertrag mit
Deutschland auf dem Boden des sachlichen zu bleiben, nachdem schon soviel
Gefühle noch vor Beginn der Verhandlungen haben mitsprechen dürfen? Wird
sie nicht von dem Strome, dessen Entfesselung sie zum mindesten stillschweigend
geduldet hat, vorwärts gerissen und zu einer Agressivität verleitet werden, die
sachliches Verhandeln unmöglich macht? Das sind die Fragen, die bis auf
weiteres offen bleiben. Eine innerlich starke russische Regierung bietet jeden¬
falls eine weit größere Bürgschaft für eine friedliche Abwicklung der euro¬
päischen Politik als eine schwache, die unklaren Gefühlen eines Volkes nachgibt.





*) F. M. Dostojewski, Briefe, deutsch von Alexander Eliasberg; R. Piper K Co.
Verlag, München 1914 (Preis 8 -- M,, geb. 10 -- M.). Wladimir Ssolowjoff "Die geistigen
Grundlagen des Lebens", deutsch von Harry Köhler, I. Bd. Verlegt bei Eugen Diederichs,
Jena 1914 (Preis 7.-- M., geb. 8.so M,).
Russische Briefe

Erziehungsmittel zur Nächstenliebe verherrlicht*). Unsere konkrete Frage lautete:
Ist die russische amtliche Politik zurzeit kriegerisch? Nein! Denn es liegen
genügend innere Gründe für Rußland vor, keinen Krieg in Europa zu be¬
ginnen, der nicht sehr sorgfältig vorbereitet wäre. Rüstet man für einen euro¬
päischen Krieg? Ja! Aber ist es nicht überflüssig, die Frage so zu stellen?
Rüster nicht alle Völker und Staaten, die leben wollen, für den Kriegsfall?
Berechtigter erscheint mir die Frage, ob die russische Politik aktiv ist und positiv
oder passiv. Sie ist ohne Zweifel durchaus aktiv! Aktiv auf der ganzen
Linie: in den diplomatischen Verhandlungen, in der Heeres- und Flotten¬
politik, in der Wirtschaft. In einzelnen ihrer Äußerungen darf man sie mehr
als aktiv, darf man sie ohne Übertreibung aggressiv nennen! Und darin
liegt die große Gefahr für die nähere oder fernere Zukunft. Denn mögen
die Friedensabsichten des Zaren und Goremykins und Ssasonows heute noch
so bestimmt und gefestigt sein, wer will es verantworten, zu behaupten,
daß nicht sie alle von einem vermeintlichen Vollswillen, von der nationalen
Begeisterung mit fortgerissen werden, wie einst Alexander der Zweite, der nicht
mehr zurückkonnte, nachdem er seine berühmte Rede an den Adel von Moskau
gehalten hatte? In Rußland mehr als bei uns gilt es die Gefühlsregungen
einzudämmen und zu bestimmten Zielen zu leiten. Wird die russische Regierung
imstande sein, bei den Verhandlungen um den neuen Handelsvertrag mit
Deutschland auf dem Boden des sachlichen zu bleiben, nachdem schon soviel
Gefühle noch vor Beginn der Verhandlungen haben mitsprechen dürfen? Wird
sie nicht von dem Strome, dessen Entfesselung sie zum mindesten stillschweigend
geduldet hat, vorwärts gerissen und zu einer Agressivität verleitet werden, die
sachliches Verhandeln unmöglich macht? Das sind die Fragen, die bis auf
weiteres offen bleiben. Eine innerlich starke russische Regierung bietet jeden¬
falls eine weit größere Bürgschaft für eine friedliche Abwicklung der euro¬
päischen Politik als eine schwache, die unklaren Gefühlen eines Volkes nachgibt.





*) F. M. Dostojewski, Briefe, deutsch von Alexander Eliasberg; R. Piper K Co.
Verlag, München 1914 (Preis 8 — M,, geb. 10 — M.). Wladimir Ssolowjoff „Die geistigen
Grundlagen des Lebens", deutsch von Harry Köhler, I. Bd. Verlegt bei Eugen Diederichs,
Jena 1914 (Preis 7.— M., geb. 8.so M,).
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[0486] Russische Briefe Erziehungsmittel zur Nächstenliebe verherrlicht*). Unsere konkrete Frage lautete: Ist die russische amtliche Politik zurzeit kriegerisch? Nein! Denn es liegen genügend innere Gründe für Rußland vor, keinen Krieg in Europa zu be¬ ginnen, der nicht sehr sorgfältig vorbereitet wäre. Rüstet man für einen euro¬ päischen Krieg? Ja! Aber ist es nicht überflüssig, die Frage so zu stellen? Rüster nicht alle Völker und Staaten, die leben wollen, für den Kriegsfall? Berechtigter erscheint mir die Frage, ob die russische Politik aktiv ist und positiv oder passiv. Sie ist ohne Zweifel durchaus aktiv! Aktiv auf der ganzen Linie: in den diplomatischen Verhandlungen, in der Heeres- und Flotten¬ politik, in der Wirtschaft. In einzelnen ihrer Äußerungen darf man sie mehr als aktiv, darf man sie ohne Übertreibung aggressiv nennen! Und darin liegt die große Gefahr für die nähere oder fernere Zukunft. Denn mögen die Friedensabsichten des Zaren und Goremykins und Ssasonows heute noch so bestimmt und gefestigt sein, wer will es verantworten, zu behaupten, daß nicht sie alle von einem vermeintlichen Vollswillen, von der nationalen Begeisterung mit fortgerissen werden, wie einst Alexander der Zweite, der nicht mehr zurückkonnte, nachdem er seine berühmte Rede an den Adel von Moskau gehalten hatte? In Rußland mehr als bei uns gilt es die Gefühlsregungen einzudämmen und zu bestimmten Zielen zu leiten. Wird die russische Regierung imstande sein, bei den Verhandlungen um den neuen Handelsvertrag mit Deutschland auf dem Boden des sachlichen zu bleiben, nachdem schon soviel Gefühle noch vor Beginn der Verhandlungen haben mitsprechen dürfen? Wird sie nicht von dem Strome, dessen Entfesselung sie zum mindesten stillschweigend geduldet hat, vorwärts gerissen und zu einer Agressivität verleitet werden, die sachliches Verhandeln unmöglich macht? Das sind die Fragen, die bis auf weiteres offen bleiben. Eine innerlich starke russische Regierung bietet jeden¬ falls eine weit größere Bürgschaft für eine friedliche Abwicklung der euro¬ päischen Politik als eine schwache, die unklaren Gefühlen eines Volkes nachgibt. *) F. M. Dostojewski, Briefe, deutsch von Alexander Eliasberg; R. Piper K Co. Verlag, München 1914 (Preis 8 — M,, geb. 10 — M.). Wladimir Ssolowjoff „Die geistigen Grundlagen des Lebens", deutsch von Harry Köhler, I. Bd. Verlegt bei Eugen Diederichs, Jena 1914 (Preis 7.— M., geb. 8.so M,).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/486>, abgerufen am 02.07.2024.