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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

tief verstimmt, ohne zu erröten um die Mitte der sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts zu Dostojewski sagen, er sei ein.Deutscher geworden und hat den
für einen Russen traurigen Mut fortzufahren: "Wenn Rußland heute vom
Erdboden verschwinden sollte, so würde es keinen Verlust für die Menschheit
bedeuten und sie würde es sogar nicht spüren. . .", "alle Versuche, eine selb¬
ständige russische Kultur zu schaffen, seien nichts als Dummheit und Schweinerei".
Und Dostojewski, der nichts dabei findet, daß "man auf allen (russischen) Sta¬
tionen die Preise verdreifachte", als er und andere Verbannte auf dem Etappen-
wege "gefesselt" nach Sibirien transportiert wurden, nennt alle Deutschen
Wucherer, Schurken und Betrüger, weil die Zimmervermieterin in Baden-
Baden ihn, den leichtsinnigen Spieler, in einer finanziellen Notlage aus¬
beutete!

Wie der einzelne so ist auch die Regierung in Rußland dem rein Gefühls¬
mäßigen stärker unterworfen als etwa in England, Deutschland und Frankreich.
Bismarck hat diese "Imponderabilien" für seine Friedenspolitik sehr wohl aus¬
zunutzen verstanden. Wenn ihn deshalb gerade ein Mann deutscher Abstammung,
der schon erwähnte Finanzminister Graf Reutern, stark beargwohnte, er treibe
Rußland in den Orientkrieg (1877), ohne daß es die Russen merkten, so ist
das kaum verwunderlich. Wenn aber die panslawistischen Kriegstreiber damals
das Gefühl gehabt haben sollten, von Bismarck moralisch unterstützt zu werden,
so gäbe das den Schlüssel für die Wut, die sich nach dem Berliner Kongreß
gerade von dieser Seite aus gegen den Fürsten Bismarck und die deutsche
Politik richtete. Die Nationalrusseu fühlten sich in ihrem Vertrauen getäuscht, sie
waren in ihren Empfindungen berührt, weil sie die Realitäten nicht genügend
in Rechnung gestellt hatten. Wir heutigen Deutschen aber können aus der
Tatsache, daß uns in Rußland vorgeworfen wird, wir hätten die Russen nicht
nur um den Siegespreis von San Stefano gebracht, wo doch, abgesehen von
der Macht der Umstände, Salisbury und Andrassn die Karnickel waren, sondern
daß wir auch ihre Notlage im Jahre 1905 besonders ausgenutzt haben sollen,
folgern, daß die Ereignisse von 1877/78 den Treffpunkt von Gedächtnis und
Gefühl auch für die amtliche russische Politik bilden, von dem aus die Gesamt¬
aktion der neuesten Phase der russischen Politik ihren Ausgang nimmt. Wenn
aber Bismarck noch im Hinblick aus den Staatskanzler Gortschakow gering¬
schätzig von verletzter Eitelkeit bei einzelnen sprechen durfte, so würde ich es
für gefährlich halten, wollte man in Deutschland die Aufregung in der russischen
Presse über den Ausgang der letzten großen Balkankrise, lediglich als Pikiertheit
bewerten und behandeln. Der Unmut sitzt tatsächlich tiefer. Er sitzt im Gefühl.
Einige historische Erinnerungen mögen meine Auffassung beleuchten.

Die regelmäßigen Leser der Grenzboten werden vielleicht, noch im Ge¬
dächtnis haben, daß ich in Heft 8 den heutigen russischen Ministerpräsidenten
Goremykin als einen "Jünger Tscherkasskis", der vorher ein "rationalistischer
Heißsporn" genannt worden war, bezeichnete.


Russische Briefe

tief verstimmt, ohne zu erröten um die Mitte der sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts zu Dostojewski sagen, er sei ein.Deutscher geworden und hat den
für einen Russen traurigen Mut fortzufahren: „Wenn Rußland heute vom
Erdboden verschwinden sollte, so würde es keinen Verlust für die Menschheit
bedeuten und sie würde es sogar nicht spüren. . .", „alle Versuche, eine selb¬
ständige russische Kultur zu schaffen, seien nichts als Dummheit und Schweinerei".
Und Dostojewski, der nichts dabei findet, daß „man auf allen (russischen) Sta¬
tionen die Preise verdreifachte", als er und andere Verbannte auf dem Etappen-
wege „gefesselt" nach Sibirien transportiert wurden, nennt alle Deutschen
Wucherer, Schurken und Betrüger, weil die Zimmervermieterin in Baden-
Baden ihn, den leichtsinnigen Spieler, in einer finanziellen Notlage aus¬
beutete!

Wie der einzelne so ist auch die Regierung in Rußland dem rein Gefühls¬
mäßigen stärker unterworfen als etwa in England, Deutschland und Frankreich.
Bismarck hat diese „Imponderabilien" für seine Friedenspolitik sehr wohl aus¬
zunutzen verstanden. Wenn ihn deshalb gerade ein Mann deutscher Abstammung,
der schon erwähnte Finanzminister Graf Reutern, stark beargwohnte, er treibe
Rußland in den Orientkrieg (1877), ohne daß es die Russen merkten, so ist
das kaum verwunderlich. Wenn aber die panslawistischen Kriegstreiber damals
das Gefühl gehabt haben sollten, von Bismarck moralisch unterstützt zu werden,
so gäbe das den Schlüssel für die Wut, die sich nach dem Berliner Kongreß
gerade von dieser Seite aus gegen den Fürsten Bismarck und die deutsche
Politik richtete. Die Nationalrusseu fühlten sich in ihrem Vertrauen getäuscht, sie
waren in ihren Empfindungen berührt, weil sie die Realitäten nicht genügend
in Rechnung gestellt hatten. Wir heutigen Deutschen aber können aus der
Tatsache, daß uns in Rußland vorgeworfen wird, wir hätten die Russen nicht
nur um den Siegespreis von San Stefano gebracht, wo doch, abgesehen von
der Macht der Umstände, Salisbury und Andrassn die Karnickel waren, sondern
daß wir auch ihre Notlage im Jahre 1905 besonders ausgenutzt haben sollen,
folgern, daß die Ereignisse von 1877/78 den Treffpunkt von Gedächtnis und
Gefühl auch für die amtliche russische Politik bilden, von dem aus die Gesamt¬
aktion der neuesten Phase der russischen Politik ihren Ausgang nimmt. Wenn
aber Bismarck noch im Hinblick aus den Staatskanzler Gortschakow gering¬
schätzig von verletzter Eitelkeit bei einzelnen sprechen durfte, so würde ich es
für gefährlich halten, wollte man in Deutschland die Aufregung in der russischen
Presse über den Ausgang der letzten großen Balkankrise, lediglich als Pikiertheit
bewerten und behandeln. Der Unmut sitzt tatsächlich tiefer. Er sitzt im Gefühl.
Einige historische Erinnerungen mögen meine Auffassung beleuchten.

Die regelmäßigen Leser der Grenzboten werden vielleicht, noch im Ge¬
dächtnis haben, daß ich in Heft 8 den heutigen russischen Ministerpräsidenten
Goremykin als einen „Jünger Tscherkasskis", der vorher ein „rationalistischer
Heißsporn" genannt worden war, bezeichnete.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/484>, abgerufen am 27.06.2024.