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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

kraft ist eins der allgemeinsten Merkmale echten, unverdorbenen Russentums,
ein unermeßlicher Reichtum und doch zugleich eine schwere Bürde: dies Ge¬
dächtnis steht bei aktiven Persönlichkeiten nur selten im Dienst eines wohl
disziplinierten Verstandes, läßt sich aber um so häufiger und nachhaltiger vom
Gefühl fortreißen. Die Gabe, Erlebnisse mit einer Zähigkeit festzuhalten, wie
es der Russe tut, im Zusammenhang mit dem starken Einfluß alles Gefühls-
mäßigen, das das Wesen des Erlebnisses ganz individuell ausgestaltet, bildet
meines Erachtens den Ausgangspunkt für jene Erscheinungen, die von deutschen
Beurteilern so häufig und unzutreffend als Unwahrhaftigkeit und Untreue bewertet
werden. Im Treffpunkte von Wissen und Gefühl liegt auch wegen des starken
Einflusses des Gefühls die Wurzel für Radikalismus und Fatalismus, die
beide nebeneinander hergehend das russische Volk zu unerhörten Leistungen
körperlicher und geistiger Art befähigen, und schließlich auch zur radikalen
Scheidung der Geister ohne Kompromiß treiben. Die Spaltung des russischen
Volkes in Rechtgläubige und Altgläubige ist ein großes historisches Zeugnis
für diesen Radikalismus, -- die großen Reformen Alexanders des Zweiten,
die Art, wie sie dann modifiziert wurden, die Agrarreform Stolnpins und die
Art, wie unter des Grafen Witte Anleitung früher und jetzt wieder die Wirt¬
schaftsreformen in Rußland angefaßt werden, sind die jüngsten Beweise.

Was mich nur immer wieder in Erstaunen setzt, ist, daß solche Typen, wie
mein Kutscher sich in allen Schichten auch in Se. Petersburg erhalten können.
In diesem Menschensumpf, in dem gegen zwanzig selbständige Sprachen durch¬
einanderschwirren (mehr als in Moskau und San Francisco!) und mehr als
fünfzig Dialekte gesprochen werden! Gerade dieser Umstand ist es, der die
Bedeutung des agrarischen Charakters des Landes für die nationale Struktur
des Volks recht beleuchtet. Der Russe war bis vor ganz kurzer Zeit noch eng
mit dem Boden verwachsen und wenn er auch nur vier Quadratmeter Hütten¬
raum auf dem Dorf sein Eigen nannte.

Rußland und das russische Leben ist durch seinen agrarischen Hintergrund
stark konservativ und voller Mißtrauen gegen das Fremde. Seine innere Ent¬
wicklung ging und geht langsam vor sich, trotz Eisenbahn und Automobil und
drahtlosem Funkspruch und obwohl das gegenwärtig größte Flugzeug der Welt,
das mit sechzehn Menschen an Bord die Kuppel der Jsaakskathedrale umkreiste,
von einem Russen konstruiert wurde. Die Russen lassen sich Zeit -- uns West¬
ländern scheint es fälschlich Trägheit und Indolenz -- über sich und ihre Um¬
gebung nachzudenken. l'isLne jecie8et, 8lcvro buäesck! Fährst du langsam,
wirst du schnell ans Ziel gelangen! ist eins der gebräuchlichsten Sprichworte
der Russen. Erst wenn ihr Denken ins Bereich des Gefühls gerät, nehmen
sie Stellung, nehmen sie plötzlich, unvermittelt, radikal Stellung und handeln
entsprechend radikal. Sie kehren der Kirche den Rücken, greifen zur Mordwaffe,
schließen sich Sekten an oder "bespucken sich" würdelos selbst. Turgeniew kann,
wegen der schlechten Aufnahme seines Romans "Rauch" durch die Nationalisten


Russische Briefe

kraft ist eins der allgemeinsten Merkmale echten, unverdorbenen Russentums,
ein unermeßlicher Reichtum und doch zugleich eine schwere Bürde: dies Ge¬
dächtnis steht bei aktiven Persönlichkeiten nur selten im Dienst eines wohl
disziplinierten Verstandes, läßt sich aber um so häufiger und nachhaltiger vom
Gefühl fortreißen. Die Gabe, Erlebnisse mit einer Zähigkeit festzuhalten, wie
es der Russe tut, im Zusammenhang mit dem starken Einfluß alles Gefühls-
mäßigen, das das Wesen des Erlebnisses ganz individuell ausgestaltet, bildet
meines Erachtens den Ausgangspunkt für jene Erscheinungen, die von deutschen
Beurteilern so häufig und unzutreffend als Unwahrhaftigkeit und Untreue bewertet
werden. Im Treffpunkte von Wissen und Gefühl liegt auch wegen des starken
Einflusses des Gefühls die Wurzel für Radikalismus und Fatalismus, die
beide nebeneinander hergehend das russische Volk zu unerhörten Leistungen
körperlicher und geistiger Art befähigen, und schließlich auch zur radikalen
Scheidung der Geister ohne Kompromiß treiben. Die Spaltung des russischen
Volkes in Rechtgläubige und Altgläubige ist ein großes historisches Zeugnis
für diesen Radikalismus, — die großen Reformen Alexanders des Zweiten,
die Art, wie sie dann modifiziert wurden, die Agrarreform Stolnpins und die
Art, wie unter des Grafen Witte Anleitung früher und jetzt wieder die Wirt¬
schaftsreformen in Rußland angefaßt werden, sind die jüngsten Beweise.

Was mich nur immer wieder in Erstaunen setzt, ist, daß solche Typen, wie
mein Kutscher sich in allen Schichten auch in Se. Petersburg erhalten können.
In diesem Menschensumpf, in dem gegen zwanzig selbständige Sprachen durch¬
einanderschwirren (mehr als in Moskau und San Francisco!) und mehr als
fünfzig Dialekte gesprochen werden! Gerade dieser Umstand ist es, der die
Bedeutung des agrarischen Charakters des Landes für die nationale Struktur
des Volks recht beleuchtet. Der Russe war bis vor ganz kurzer Zeit noch eng
mit dem Boden verwachsen und wenn er auch nur vier Quadratmeter Hütten¬
raum auf dem Dorf sein Eigen nannte.

Rußland und das russische Leben ist durch seinen agrarischen Hintergrund
stark konservativ und voller Mißtrauen gegen das Fremde. Seine innere Ent¬
wicklung ging und geht langsam vor sich, trotz Eisenbahn und Automobil und
drahtlosem Funkspruch und obwohl das gegenwärtig größte Flugzeug der Welt,
das mit sechzehn Menschen an Bord die Kuppel der Jsaakskathedrale umkreiste,
von einem Russen konstruiert wurde. Die Russen lassen sich Zeit — uns West¬
ländern scheint es fälschlich Trägheit und Indolenz — über sich und ihre Um¬
gebung nachzudenken. l'isLne jecie8et, 8lcvro buäesck! Fährst du langsam,
wirst du schnell ans Ziel gelangen! ist eins der gebräuchlichsten Sprichworte
der Russen. Erst wenn ihr Denken ins Bereich des Gefühls gerät, nehmen
sie Stellung, nehmen sie plötzlich, unvermittelt, radikal Stellung und handeln
entsprechend radikal. Sie kehren der Kirche den Rücken, greifen zur Mordwaffe,
schließen sich Sekten an oder „bespucken sich" würdelos selbst. Turgeniew kann,
wegen der schlechten Aufnahme seines Romans „Rauch" durch die Nationalisten


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[0483] Russische Briefe kraft ist eins der allgemeinsten Merkmale echten, unverdorbenen Russentums, ein unermeßlicher Reichtum und doch zugleich eine schwere Bürde: dies Ge¬ dächtnis steht bei aktiven Persönlichkeiten nur selten im Dienst eines wohl disziplinierten Verstandes, läßt sich aber um so häufiger und nachhaltiger vom Gefühl fortreißen. Die Gabe, Erlebnisse mit einer Zähigkeit festzuhalten, wie es der Russe tut, im Zusammenhang mit dem starken Einfluß alles Gefühls- mäßigen, das das Wesen des Erlebnisses ganz individuell ausgestaltet, bildet meines Erachtens den Ausgangspunkt für jene Erscheinungen, die von deutschen Beurteilern so häufig und unzutreffend als Unwahrhaftigkeit und Untreue bewertet werden. Im Treffpunkte von Wissen und Gefühl liegt auch wegen des starken Einflusses des Gefühls die Wurzel für Radikalismus und Fatalismus, die beide nebeneinander hergehend das russische Volk zu unerhörten Leistungen körperlicher und geistiger Art befähigen, und schließlich auch zur radikalen Scheidung der Geister ohne Kompromiß treiben. Die Spaltung des russischen Volkes in Rechtgläubige und Altgläubige ist ein großes historisches Zeugnis für diesen Radikalismus, — die großen Reformen Alexanders des Zweiten, die Art, wie sie dann modifiziert wurden, die Agrarreform Stolnpins und die Art, wie unter des Grafen Witte Anleitung früher und jetzt wieder die Wirt¬ schaftsreformen in Rußland angefaßt werden, sind die jüngsten Beweise. Was mich nur immer wieder in Erstaunen setzt, ist, daß solche Typen, wie mein Kutscher sich in allen Schichten auch in Se. Petersburg erhalten können. In diesem Menschensumpf, in dem gegen zwanzig selbständige Sprachen durch¬ einanderschwirren (mehr als in Moskau und San Francisco!) und mehr als fünfzig Dialekte gesprochen werden! Gerade dieser Umstand ist es, der die Bedeutung des agrarischen Charakters des Landes für die nationale Struktur des Volks recht beleuchtet. Der Russe war bis vor ganz kurzer Zeit noch eng mit dem Boden verwachsen und wenn er auch nur vier Quadratmeter Hütten¬ raum auf dem Dorf sein Eigen nannte. Rußland und das russische Leben ist durch seinen agrarischen Hintergrund stark konservativ und voller Mißtrauen gegen das Fremde. Seine innere Ent¬ wicklung ging und geht langsam vor sich, trotz Eisenbahn und Automobil und drahtlosem Funkspruch und obwohl das gegenwärtig größte Flugzeug der Welt, das mit sechzehn Menschen an Bord die Kuppel der Jsaakskathedrale umkreiste, von einem Russen konstruiert wurde. Die Russen lassen sich Zeit — uns West¬ ländern scheint es fälschlich Trägheit und Indolenz — über sich und ihre Um¬ gebung nachzudenken. l'isLne jecie8et, 8lcvro buäesck! Fährst du langsam, wirst du schnell ans Ziel gelangen! ist eins der gebräuchlichsten Sprichworte der Russen. Erst wenn ihr Denken ins Bereich des Gefühls gerät, nehmen sie Stellung, nehmen sie plötzlich, unvermittelt, radikal Stellung und handeln entsprechend radikal. Sie kehren der Kirche den Rücken, greifen zur Mordwaffe, schließen sich Sekten an oder „bespucken sich" würdelos selbst. Turgeniew kann, wegen der schlechten Aufnahme seines Romans „Rauch" durch die Nationalisten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/483>, abgerufen am 22.06.2024.