Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung in der Umkehrung einfach eine Spielerei des Geistes, denn es lautet in logischer Aber Bartels will die Auslegung der Begriffe "Universalmensch" und Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung in der Umkehrung einfach eine Spielerei des Geistes, denn es lautet in logischer Aber Bartels will die Auslegung der Begriffe „Universalmensch" und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0464" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328564"/> <fw type="header" place="top"> Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1867" prev="#ID_1866"> in der Umkehrung einfach eine Spielerei des Geistes, denn es lautet in logischer<lb/> Definition: „Die Stammesgeschichte, festgestellt aus den Entwicklungen der<lb/> Stammesindividuen, ist die verbreitetste Wiederholung der Entwicklung des großen<lb/> Individuums." Und das ist eine Selbstverständlichkeit, die Bartels freilich nicht<lb/> sieht; weil er die Konstruktion beabsichtigt, darzutun, wie „Goethes literarische<lb/> und dichterische Entwicklung in der deutschen Gesamtliteratur seiner und der<lb/> nachfolgenden Zeit deutlich wiederzufinden" sei. Das liegt für jeden, der hier<lb/> einfach den Begriff des Universaüschen zusammen mit dem des typischen Dichters<lb/> verbindet, geradezu auf der Hand.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_1868" next="#ID_1869"> Aber Bartels will die Auslegung der Begriffe „Universalmensch" und<lb/> „typischer Dichter" (I, S. 8) ja ablenken auf seine Anschauung hin, daß das<lb/> Nationale das Universale überwuchern oder zum mindesten beaufsichtigen<lb/> müsse. Solche Auffassung gleicht dem katholischen Standpunkt aufs Genaueste:<lb/> das freie literarische Schaffen soll in seinem Weltanschauungsausdruck eine höhere<lb/> Instanz anerkennen, eine allgemeine Knebelung ertragen, gegen die das deutsche<lb/> Volk seit Luthers Zeiten protestiert und ankämpft. Die Tatsachen unserer<lb/> gegenwärtigen Entwicklung zwingen Bartels freilich, zuzugeben, daß wir der<lb/> Weltliteratur, also der universalen, nahegekommen find (1,13). Dies Zugeständnis<lb/> schwächt er sofort und später nochmals ab, indem er Vergangenes und Zukünftiges,<lb/> geschichtliche Erkenntnisse und subjektive Vermutungen vermengt, kurz: tendenziös<lb/> meint I, 16 f.: „So sicher nun auch für Mittelalter und Neuzeit bei den<lb/> europäischen Kulturvölkern die großen Gesichtspunkte zu gewinnen sind, zwingend<lb/> kann zumal die Darstellung der Geschichte der Weltdichtung nicht so leicht werden,<lb/> denn, wenn wir auch von Weltliteratur reden, gehabt in dem Sinne, daß die<lb/> Produktion wesentlich im Zeichen des geistigen Verkehrs stand, haben wir sie<lb/> nie, trotz zahlreicher Einflüsse hinüber und herüber ist allezeit das Beste und<lb/> Bedeutendste, was die Nationalliteraturen hervorgebracht haben, in seinem Entstehen<lb/> und Werden ganz selbständig, eben Nationalliteratur, völkische Dichtung gewesen."<lb/> Dies „in seinem Entstehen und Werden ganz selbständig" sei, bevor wir weiter<lb/> zitieren, erst einmal zurückgewiesen. Noch heute können wir z. B. in Rußland<lb/> oder Japan die Beobachtung machen, daß eine Literatur, die für die Welt<lb/> in Betracht kommt, erst entsteht nach der Befruchtung und Anregung durch die<lb/> Dichtung der anderen Nationen! Wer die Entwicklung der deutschen Literatur<lb/> im siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert kennt, muß die gleiche Beobachtung<lb/> zugeben. Etwas anderes ist es, was dann die befruchtete Nation aus dem<lb/> Keim, dem Samen, der Anregung macht! Wie z. B. Grimmelshausen den<lb/> spanisch-italienisch-französischen Abenteuerroman umbildet. In diesem „Wie"<lb/> und „Was" zeigt sich dann das Nationale! Für die Vergangenheit treffen<lb/> Bartels' Gedanken schon nicht zu; um wie viel weniger dann seine Folgerungen<lb/> für die Zukunft: „Und das wird, selbst wenn wir den allseitigen Weltliteratur-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0464]
Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung
in der Umkehrung einfach eine Spielerei des Geistes, denn es lautet in logischer
Definition: „Die Stammesgeschichte, festgestellt aus den Entwicklungen der
Stammesindividuen, ist die verbreitetste Wiederholung der Entwicklung des großen
Individuums." Und das ist eine Selbstverständlichkeit, die Bartels freilich nicht
sieht; weil er die Konstruktion beabsichtigt, darzutun, wie „Goethes literarische
und dichterische Entwicklung in der deutschen Gesamtliteratur seiner und der
nachfolgenden Zeit deutlich wiederzufinden" sei. Das liegt für jeden, der hier
einfach den Begriff des Universaüschen zusammen mit dem des typischen Dichters
verbindet, geradezu auf der Hand.
Aber Bartels will die Auslegung der Begriffe „Universalmensch" und
„typischer Dichter" (I, S. 8) ja ablenken auf seine Anschauung hin, daß das
Nationale das Universale überwuchern oder zum mindesten beaufsichtigen
müsse. Solche Auffassung gleicht dem katholischen Standpunkt aufs Genaueste:
das freie literarische Schaffen soll in seinem Weltanschauungsausdruck eine höhere
Instanz anerkennen, eine allgemeine Knebelung ertragen, gegen die das deutsche
Volk seit Luthers Zeiten protestiert und ankämpft. Die Tatsachen unserer
gegenwärtigen Entwicklung zwingen Bartels freilich, zuzugeben, daß wir der
Weltliteratur, also der universalen, nahegekommen find (1,13). Dies Zugeständnis
schwächt er sofort und später nochmals ab, indem er Vergangenes und Zukünftiges,
geschichtliche Erkenntnisse und subjektive Vermutungen vermengt, kurz: tendenziös
meint I, 16 f.: „So sicher nun auch für Mittelalter und Neuzeit bei den
europäischen Kulturvölkern die großen Gesichtspunkte zu gewinnen sind, zwingend
kann zumal die Darstellung der Geschichte der Weltdichtung nicht so leicht werden,
denn, wenn wir auch von Weltliteratur reden, gehabt in dem Sinne, daß die
Produktion wesentlich im Zeichen des geistigen Verkehrs stand, haben wir sie
nie, trotz zahlreicher Einflüsse hinüber und herüber ist allezeit das Beste und
Bedeutendste, was die Nationalliteraturen hervorgebracht haben, in seinem Entstehen
und Werden ganz selbständig, eben Nationalliteratur, völkische Dichtung gewesen."
Dies „in seinem Entstehen und Werden ganz selbständig" sei, bevor wir weiter
zitieren, erst einmal zurückgewiesen. Noch heute können wir z. B. in Rußland
oder Japan die Beobachtung machen, daß eine Literatur, die für die Welt
in Betracht kommt, erst entsteht nach der Befruchtung und Anregung durch die
Dichtung der anderen Nationen! Wer die Entwicklung der deutschen Literatur
im siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert kennt, muß die gleiche Beobachtung
zugeben. Etwas anderes ist es, was dann die befruchtete Nation aus dem
Keim, dem Samen, der Anregung macht! Wie z. B. Grimmelshausen den
spanisch-italienisch-französischen Abenteuerroman umbildet. In diesem „Wie"
und „Was" zeigt sich dann das Nationale! Für die Vergangenheit treffen
Bartels' Gedanken schon nicht zu; um wie viel weniger dann seine Folgerungen
für die Zukunft: „Und das wird, selbst wenn wir den allseitigen Weltliteratur-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |