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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literciturbeurteilung

Kulturpoet, was jede tiefere Literarforschung für jede Individualität nachweisen
kann und nachzuweisen bestrebt sein muß. Für Goethe kann der Begriff
"Kulturpoet" also nur in Betracht kommen, um den Unterschied seines Jahr¬
hunderts von dem Shakespeares oder reiner Naturdichter anschaulich zu machen.
Die Charakteristik als "typischer Dichter" genügt ohne jede Spezialisierung für
die Gegenwart.

Der typische Dichter umfaßt aber alle Gaben, die den Dichter ausmachen,
also auch das Schriftstellertum in seiner Besonderheit mit dem Streben nach
Publikumswirkung, das ja auch bei Goethe, dem Zeitschristenherausgeber, Buch¬
kritiker, Theaterdirektor usw. deutlich hervortritt. Es war demnach von Bartels
höchst überflüssig, sich über Goethes Schriftstellertum mit Carlyle und Emerson,
den: er überhaupt merkwürdig viel Raum in seinem Werke zugesteht, einzulassen.

Goethe selbst hat alles Dichtertum als eine große Konfession hingestellt,
damit Dichtung und Leben zu jener Einheit verbunden, innerhalb derer natürlich
die Entwicklung der angeborenen Individualität durch das Erleben und Sich¬
bilden zur Persönlichkeit möglich und geboten ist. Diese Entwicklung durch
Erleben und Sichbilden bedeutet nichts anderes als die Aneignung und Ver¬
arbeitung des ganzen Gehaltes der Welt und der Zeit aus der allgemeinen
Form des Stoffes zur besonderen Form der Persönlichkeit, sowohl in möglichster
Bewußtheit, wie auch aus innerem Drange, aus dämonischer Notwendigkeit
heraus. Das Resultat dieser Aneignung ist die universale Persönlichkeit, das
Universalische im Leben und Denken, Schaffen und Fühlen.

Hiermit hat der Literaturwissenschaftler den ganzen Gehalt und die Haupt¬
richtung seiner Vorbildung, nach der er erst seiner Hauptaufgabe näher treten
kann. Adolf Bartels sieht dies Ergebnis für seine Wissenschaft allerdings nicht.
Sondern er lenkt wieder -- im steten Kreislauf -- nach seinem Volkstumsbegriff
ab. Und zwar mit dem sogenannten Haeckelschen, bereits von der Romantik
entdeckten biogenetischen Gesetz: "Die Entwicklung des Individuums ist die
abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte." Dies Gesetz kann dem
Historiker als Hilfsmittel dienen, um in dem Universalischen das spezifisch
Deutsche oder sagen wir dafür das Nationale anschaulich zu machen. Ich
betone: anschaulich zu machen, ich sage nicht: zu beweisen; denn objektive
Beweise vermittelt es nicht, weil es selbst hypothetisch und objektiv unbeweisbar
ist. Deshalb soll es aber nicht ganz beiseite geschoben werden. Es ist letzten
Endes doch eines der vorläufigen Hilfsmittel zu einer mehr synthetischen Auf¬
fassung des geistigen Lebens in den Individualitäten und im Volk.

Indem Bartels nun das biogenetische Gesetz umkehrt: "Die Stammes-
geschichte ist die verbreitetste Wiederholung der Entwicklung des großen Individuums,"
zerstört er jede innere Kraft des Gesetzes, da sich eine Stammesgeschichte
psychologisch -- und "psychologisch" ist hier die Forderung, wo es sich um
individuelle "Entwicklung" handelt -- nur aus den Entwicklungen der den
einzelnen Stämmen ungehörigen Individuen feststellen läßt. So wird das Gesetz


Die Grundzüge einer Literciturbeurteilung

Kulturpoet, was jede tiefere Literarforschung für jede Individualität nachweisen
kann und nachzuweisen bestrebt sein muß. Für Goethe kann der Begriff
„Kulturpoet" also nur in Betracht kommen, um den Unterschied seines Jahr¬
hunderts von dem Shakespeares oder reiner Naturdichter anschaulich zu machen.
Die Charakteristik als „typischer Dichter" genügt ohne jede Spezialisierung für
die Gegenwart.

Der typische Dichter umfaßt aber alle Gaben, die den Dichter ausmachen,
also auch das Schriftstellertum in seiner Besonderheit mit dem Streben nach
Publikumswirkung, das ja auch bei Goethe, dem Zeitschristenherausgeber, Buch¬
kritiker, Theaterdirektor usw. deutlich hervortritt. Es war demnach von Bartels
höchst überflüssig, sich über Goethes Schriftstellertum mit Carlyle und Emerson,
den: er überhaupt merkwürdig viel Raum in seinem Werke zugesteht, einzulassen.

Goethe selbst hat alles Dichtertum als eine große Konfession hingestellt,
damit Dichtung und Leben zu jener Einheit verbunden, innerhalb derer natürlich
die Entwicklung der angeborenen Individualität durch das Erleben und Sich¬
bilden zur Persönlichkeit möglich und geboten ist. Diese Entwicklung durch
Erleben und Sichbilden bedeutet nichts anderes als die Aneignung und Ver¬
arbeitung des ganzen Gehaltes der Welt und der Zeit aus der allgemeinen
Form des Stoffes zur besonderen Form der Persönlichkeit, sowohl in möglichster
Bewußtheit, wie auch aus innerem Drange, aus dämonischer Notwendigkeit
heraus. Das Resultat dieser Aneignung ist die universale Persönlichkeit, das
Universalische im Leben und Denken, Schaffen und Fühlen.

Hiermit hat der Literaturwissenschaftler den ganzen Gehalt und die Haupt¬
richtung seiner Vorbildung, nach der er erst seiner Hauptaufgabe näher treten
kann. Adolf Bartels sieht dies Ergebnis für seine Wissenschaft allerdings nicht.
Sondern er lenkt wieder — im steten Kreislauf — nach seinem Volkstumsbegriff
ab. Und zwar mit dem sogenannten Haeckelschen, bereits von der Romantik
entdeckten biogenetischen Gesetz: „Die Entwicklung des Individuums ist die
abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte." Dies Gesetz kann dem
Historiker als Hilfsmittel dienen, um in dem Universalischen das spezifisch
Deutsche oder sagen wir dafür das Nationale anschaulich zu machen. Ich
betone: anschaulich zu machen, ich sage nicht: zu beweisen; denn objektive
Beweise vermittelt es nicht, weil es selbst hypothetisch und objektiv unbeweisbar
ist. Deshalb soll es aber nicht ganz beiseite geschoben werden. Es ist letzten
Endes doch eines der vorläufigen Hilfsmittel zu einer mehr synthetischen Auf¬
fassung des geistigen Lebens in den Individualitäten und im Volk.

Indem Bartels nun das biogenetische Gesetz umkehrt: „Die Stammes-
geschichte ist die verbreitetste Wiederholung der Entwicklung des großen Individuums,"
zerstört er jede innere Kraft des Gesetzes, da sich eine Stammesgeschichte
psychologisch — und „psychologisch" ist hier die Forderung, wo es sich um
individuelle „Entwicklung" handelt — nur aus den Entwicklungen der den
einzelnen Stämmen ungehörigen Individuen feststellen läßt. So wird das Gesetz


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[0463] Die Grundzüge einer Literciturbeurteilung Kulturpoet, was jede tiefere Literarforschung für jede Individualität nachweisen kann und nachzuweisen bestrebt sein muß. Für Goethe kann der Begriff „Kulturpoet" also nur in Betracht kommen, um den Unterschied seines Jahr¬ hunderts von dem Shakespeares oder reiner Naturdichter anschaulich zu machen. Die Charakteristik als „typischer Dichter" genügt ohne jede Spezialisierung für die Gegenwart. Der typische Dichter umfaßt aber alle Gaben, die den Dichter ausmachen, also auch das Schriftstellertum in seiner Besonderheit mit dem Streben nach Publikumswirkung, das ja auch bei Goethe, dem Zeitschristenherausgeber, Buch¬ kritiker, Theaterdirektor usw. deutlich hervortritt. Es war demnach von Bartels höchst überflüssig, sich über Goethes Schriftstellertum mit Carlyle und Emerson, den: er überhaupt merkwürdig viel Raum in seinem Werke zugesteht, einzulassen. Goethe selbst hat alles Dichtertum als eine große Konfession hingestellt, damit Dichtung und Leben zu jener Einheit verbunden, innerhalb derer natürlich die Entwicklung der angeborenen Individualität durch das Erleben und Sich¬ bilden zur Persönlichkeit möglich und geboten ist. Diese Entwicklung durch Erleben und Sichbilden bedeutet nichts anderes als die Aneignung und Ver¬ arbeitung des ganzen Gehaltes der Welt und der Zeit aus der allgemeinen Form des Stoffes zur besonderen Form der Persönlichkeit, sowohl in möglichster Bewußtheit, wie auch aus innerem Drange, aus dämonischer Notwendigkeit heraus. Das Resultat dieser Aneignung ist die universale Persönlichkeit, das Universalische im Leben und Denken, Schaffen und Fühlen. Hiermit hat der Literaturwissenschaftler den ganzen Gehalt und die Haupt¬ richtung seiner Vorbildung, nach der er erst seiner Hauptaufgabe näher treten kann. Adolf Bartels sieht dies Ergebnis für seine Wissenschaft allerdings nicht. Sondern er lenkt wieder — im steten Kreislauf — nach seinem Volkstumsbegriff ab. Und zwar mit dem sogenannten Haeckelschen, bereits von der Romantik entdeckten biogenetischen Gesetz: „Die Entwicklung des Individuums ist die abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte." Dies Gesetz kann dem Historiker als Hilfsmittel dienen, um in dem Universalischen das spezifisch Deutsche oder sagen wir dafür das Nationale anschaulich zu machen. Ich betone: anschaulich zu machen, ich sage nicht: zu beweisen; denn objektive Beweise vermittelt es nicht, weil es selbst hypothetisch und objektiv unbeweisbar ist. Deshalb soll es aber nicht ganz beiseite geschoben werden. Es ist letzten Endes doch eines der vorläufigen Hilfsmittel zu einer mehr synthetischen Auf¬ fassung des geistigen Lebens in den Individualitäten und im Volk. Indem Bartels nun das biogenetische Gesetz umkehrt: „Die Stammes- geschichte ist die verbreitetste Wiederholung der Entwicklung des großen Individuums," zerstört er jede innere Kraft des Gesetzes, da sich eine Stammesgeschichte psychologisch — und „psychologisch" ist hier die Forderung, wo es sich um individuelle „Entwicklung" handelt — nur aus den Entwicklungen der den einzelnen Stämmen ungehörigen Individuen feststellen läßt. So wird das Gesetz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/463>, abgerufen am 04.07.2024.