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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Litcraturbeurteilung

in dem deutschen Literarhistoriker sowohl als nationaler Instinkt, wie als ihrer
selbst bewußt gewordene Erkenntnis wirksam, den sicheren Kompaß auf der
weiten Fahrt durch das Meer der Geschichte ergibt, die subjektive Willkür ein¬
schränkt, uns von den Büchern zu den Menschen, von der rein ästhetischen
Kritik zu der Persönlichkeitsdarstellung gelangen und in der deutschen Literatur¬
geschichte zuletzt etwas wie eine zusammenhängende Galerie deutscher Charaktere (!)*)
entstehen läßt, die kennen zu lernen für jedermann eine nationale Notwendigkeit
ist. Je deutlicher das die Charaktere verbindende Nationale, Rassenhafte von
den alten Zeiten bis zur Gegenwart hervortritt, um so sicherer wird auch das
historische Ideal erreicht, und so wird die Literaturgeschichte als nationale Kunst¬
geschichte zuletzt doch wieder der sichere geschichtliche Unterbau der großen Geistes¬
und Seelengeschichte der Menschheit." Hier haben wir das ganze Programm
von Bartels.

Zuerst der Grundbegriff des Volkstums. Bartels erklärt ihn (Wettin. III,
740): "Volkstum ist zunächst Triebkraft, weiter aber auch ein ungeheurer Schatz
von Anlagen und Fähigkeiten, und aus ihm kommen nun durch den Jndivi-
duationsprozeß die Genies und Talente eines Volkes, seiner Persönlichkeiten
empor." "Volkstum ist Triebkraft", mit dieser Erklärung können wir zufrieden
sein. "Weiter aber auch ein ungeheurer Schatz von Anlagen und Fähigkeiten"
-- ja, wenn Volkstum Triebkraft ist, so kann es doch nur die Quelle dieser
Anlagen und zwar aller Anlagen, alles "Getriebener", also des Guten wie des
Schlechten, also guter wie schlechter Kunst sein?! Bartels wünscht diese Aus¬
legung des Volkstums aber nicht; denn für ihn ist es eben nur die Triebkraft
des Guten. Damit idealisiert er den Begriff, gibt ihm einen anderen als den
rein wissenschaftlichen Sinn, treibt er also Literaturpolitik. In seiner Fassung
ist der Begriff, durch die unrichtige Definition, unbrauchbar.

Nehmen wir ihn als "Triebkraft alles Getriebener", so lassen wir den für
den Literaturwissenschaftler geltenden Grundsatz "Volkstum und Schrifttum ent¬
sprechen sich" durchaus gelten. Er kann auch in anderer Weise Ausdruck
erhalten: das Schrifttum eines Volkes offenbart Wesen und Charakter, Ent¬
wicklung und Sein des betreffenden Volkes ganz, in restloser, in universaler
Weise, ohne auf Gut und Böse zu schauen. Mit dem ganzen Schrifttum eines
Volkes hat es der Literaturwissenschaftler aber zu tun; er kann also den Begriff
des Volkstums nur in unserem Sinne verwerten, niemals in der tendenziösen
Teilung von Bartels. Sie wird noch deutlicher, wenn Bartels weiter ausführt,
daß man aus dem Volkstum, dem "das Schrifttum, die wertvolle Literatur"
entspreche, "den letzten kritischen Maßstab und weiterhin die Forderung: .alle
Literatur soll national sein; ist sie das nicht, so taugt sie nichts', ableiten"
müsse. "Das Schrifttum, die wertvolle Literatur" -- mit Verlaub, das
Schrifttum umfaßt die ganze literarische Äußerung eines Volkes, ganz gleich-



*) Alle Beifügungen in () Klammern stammen von dem Verfasser dieses Aufsatzes, in
s! Klammern von Bartels.
Die Grundzüge einer Litcraturbeurteilung

in dem deutschen Literarhistoriker sowohl als nationaler Instinkt, wie als ihrer
selbst bewußt gewordene Erkenntnis wirksam, den sicheren Kompaß auf der
weiten Fahrt durch das Meer der Geschichte ergibt, die subjektive Willkür ein¬
schränkt, uns von den Büchern zu den Menschen, von der rein ästhetischen
Kritik zu der Persönlichkeitsdarstellung gelangen und in der deutschen Literatur¬
geschichte zuletzt etwas wie eine zusammenhängende Galerie deutscher Charaktere (!)*)
entstehen läßt, die kennen zu lernen für jedermann eine nationale Notwendigkeit
ist. Je deutlicher das die Charaktere verbindende Nationale, Rassenhafte von
den alten Zeiten bis zur Gegenwart hervortritt, um so sicherer wird auch das
historische Ideal erreicht, und so wird die Literaturgeschichte als nationale Kunst¬
geschichte zuletzt doch wieder der sichere geschichtliche Unterbau der großen Geistes¬
und Seelengeschichte der Menschheit." Hier haben wir das ganze Programm
von Bartels.

Zuerst der Grundbegriff des Volkstums. Bartels erklärt ihn (Wettin. III,
740): „Volkstum ist zunächst Triebkraft, weiter aber auch ein ungeheurer Schatz
von Anlagen und Fähigkeiten, und aus ihm kommen nun durch den Jndivi-
duationsprozeß die Genies und Talente eines Volkes, seiner Persönlichkeiten
empor." „Volkstum ist Triebkraft", mit dieser Erklärung können wir zufrieden
sein. „Weiter aber auch ein ungeheurer Schatz von Anlagen und Fähigkeiten"
— ja, wenn Volkstum Triebkraft ist, so kann es doch nur die Quelle dieser
Anlagen und zwar aller Anlagen, alles „Getriebener", also des Guten wie des
Schlechten, also guter wie schlechter Kunst sein?! Bartels wünscht diese Aus¬
legung des Volkstums aber nicht; denn für ihn ist es eben nur die Triebkraft
des Guten. Damit idealisiert er den Begriff, gibt ihm einen anderen als den
rein wissenschaftlichen Sinn, treibt er also Literaturpolitik. In seiner Fassung
ist der Begriff, durch die unrichtige Definition, unbrauchbar.

Nehmen wir ihn als „Triebkraft alles Getriebener", so lassen wir den für
den Literaturwissenschaftler geltenden Grundsatz „Volkstum und Schrifttum ent¬
sprechen sich" durchaus gelten. Er kann auch in anderer Weise Ausdruck
erhalten: das Schrifttum eines Volkes offenbart Wesen und Charakter, Ent¬
wicklung und Sein des betreffenden Volkes ganz, in restloser, in universaler
Weise, ohne auf Gut und Böse zu schauen. Mit dem ganzen Schrifttum eines
Volkes hat es der Literaturwissenschaftler aber zu tun; er kann also den Begriff
des Volkstums nur in unserem Sinne verwerten, niemals in der tendenziösen
Teilung von Bartels. Sie wird noch deutlicher, wenn Bartels weiter ausführt,
daß man aus dem Volkstum, dem „das Schrifttum, die wertvolle Literatur"
entspreche, „den letzten kritischen Maßstab und weiterhin die Forderung: .alle
Literatur soll national sein; ist sie das nicht, so taugt sie nichts', ableiten"
müsse. „Das Schrifttum, die wertvolle Literatur" — mit Verlaub, das
Schrifttum umfaßt die ganze literarische Äußerung eines Volkes, ganz gleich-



*) Alle Beifügungen in () Klammern stammen von dem Verfasser dieses Aufsatzes, in
s! Klammern von Bartels.
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[0460] Die Grundzüge einer Litcraturbeurteilung in dem deutschen Literarhistoriker sowohl als nationaler Instinkt, wie als ihrer selbst bewußt gewordene Erkenntnis wirksam, den sicheren Kompaß auf der weiten Fahrt durch das Meer der Geschichte ergibt, die subjektive Willkür ein¬ schränkt, uns von den Büchern zu den Menschen, von der rein ästhetischen Kritik zu der Persönlichkeitsdarstellung gelangen und in der deutschen Literatur¬ geschichte zuletzt etwas wie eine zusammenhängende Galerie deutscher Charaktere (!)*) entstehen läßt, die kennen zu lernen für jedermann eine nationale Notwendigkeit ist. Je deutlicher das die Charaktere verbindende Nationale, Rassenhafte von den alten Zeiten bis zur Gegenwart hervortritt, um so sicherer wird auch das historische Ideal erreicht, und so wird die Literaturgeschichte als nationale Kunst¬ geschichte zuletzt doch wieder der sichere geschichtliche Unterbau der großen Geistes¬ und Seelengeschichte der Menschheit." Hier haben wir das ganze Programm von Bartels. Zuerst der Grundbegriff des Volkstums. Bartels erklärt ihn (Wettin. III, 740): „Volkstum ist zunächst Triebkraft, weiter aber auch ein ungeheurer Schatz von Anlagen und Fähigkeiten, und aus ihm kommen nun durch den Jndivi- duationsprozeß die Genies und Talente eines Volkes, seiner Persönlichkeiten empor." „Volkstum ist Triebkraft", mit dieser Erklärung können wir zufrieden sein. „Weiter aber auch ein ungeheurer Schatz von Anlagen und Fähigkeiten" — ja, wenn Volkstum Triebkraft ist, so kann es doch nur die Quelle dieser Anlagen und zwar aller Anlagen, alles „Getriebener", also des Guten wie des Schlechten, also guter wie schlechter Kunst sein?! Bartels wünscht diese Aus¬ legung des Volkstums aber nicht; denn für ihn ist es eben nur die Triebkraft des Guten. Damit idealisiert er den Begriff, gibt ihm einen anderen als den rein wissenschaftlichen Sinn, treibt er also Literaturpolitik. In seiner Fassung ist der Begriff, durch die unrichtige Definition, unbrauchbar. Nehmen wir ihn als „Triebkraft alles Getriebener", so lassen wir den für den Literaturwissenschaftler geltenden Grundsatz „Volkstum und Schrifttum ent¬ sprechen sich" durchaus gelten. Er kann auch in anderer Weise Ausdruck erhalten: das Schrifttum eines Volkes offenbart Wesen und Charakter, Ent¬ wicklung und Sein des betreffenden Volkes ganz, in restloser, in universaler Weise, ohne auf Gut und Böse zu schauen. Mit dem ganzen Schrifttum eines Volkes hat es der Literaturwissenschaftler aber zu tun; er kann also den Begriff des Volkstums nur in unserem Sinne verwerten, niemals in der tendenziösen Teilung von Bartels. Sie wird noch deutlicher, wenn Bartels weiter ausführt, daß man aus dem Volkstum, dem „das Schrifttum, die wertvolle Literatur" entspreche, „den letzten kritischen Maßstab und weiterhin die Forderung: .alle Literatur soll national sein; ist sie das nicht, so taugt sie nichts', ableiten" müsse. „Das Schrifttum, die wertvolle Literatur" — mit Verlaub, das Schrifttum umfaßt die ganze literarische Äußerung eines Volkes, ganz gleich- *) Alle Beifügungen in () Klammern stammen von dem Verfasser dieses Aufsatzes, in s! Klammern von Bartels.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/460>, abgerufen am 04.07.2024.