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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

ein Mensch. Ja, wir lieben Goethe, doch gemein machen wollen wir ihn uns
nicht, wir wissen, daß er tausendmal größer und besser ist als wir, nur dann
jedem von uns nahe, wenn wir mit jener höchsten Achtung vor dem Menschen¬
bild, jener reinen Sehnsucht im Herzen kommen, die unser bester Teil ist, und
auch den geringsten unter uns bisweilen über sich selbst erhebt. Er, der Mann,
der das schöne Wort von der niedrigsten Menschenklasse gesprochen hat. die vor
Gott die höchste ist, nimmt uns alle an, wir lernen bei ihm zu sagen, was
wir leiden, lernen bei ihm, in seiner reichen Welt das Schöne zu erkennen und
zu empfinden, das Urphänomen, ,das zwar nie selber zur Erscheinung kommt,
dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes
sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist als die Natur
selber/ lernen leben."

Bei solch reinem und unmittelbarem Verhältnis zu unserem größten
Dichter konnte der Plan des Literarhistorikers, im Anschluß an das Leben und
Schaffen Goethes in die Weltliteratur einzuführen, nur gute Vorurteile wach¬
rufen. In dem vollendeten Werke gibt er nun, folgend solchen Momenten von
Goethes Leben, in denen die eine oder andere Literaturepoche in des Dichters
Werden und Wachsen einspringt, stets verglichen mit den Wirkungen ihres Ein¬
tretens in die Entwicklung und den Gesichtskreis des deutschen Volkes, eine nach
Kapiteln und Gruppen geordnete Sammlung der Äußerungen, die Goethe und
neben ihm Lessing, Herder, Schiller, die Schlegel, Tieck. Grillparzer, Hebbel,
Otto Ludwig, Heine, Keller, Theodor Fontane und andere Dichter, sowie die
bedeutendsten Literaturhistoriker und reinen Historiker, wie Grimm, Hettner, Ger-
vinus, Scherer, Treitschke, Chamberlain u. a. in. über die einzelnen Erscheinungen
und Entwicklungen getan haben. Also eine große, von riesiger Belesenheit und
unermüdlichem Fleiße zeugende Arbeit, die schon rein stofflich bedeutenden Wert
hat, -- wenn sie nicht unter gewissen Tendenzen vorgenommen wäre. Über
dem nach Bienenart zusammengetragenen Stoff aber waltet eine Gesinnung,
die den Leser zwingt, sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Skepsis zu rüsten,
wenn er an die Lektüre des dreibändigen Werkes herantritt. Es ist kein reiner
Honig, der aus den Bartelsschen Waben quillt. Bartels zeigt sich uns nicht in
jenem Verhältnis zu Goethe, nach den, er selbst beurteilt sein will. Wir ver¬
missen jene Universalität und innere Freiheit, jene Unabhängigkeit des Geistes,
die uns mit dem Begriff "Deutsche Persönlichkeit" unzertrennlich verbunden
scheinen.




Ich stimme mit Bartels darin überein, daß alle Literaturwissenschaft vom
Werturteil einer Persönlichkeit ausgehe. Die Persönlichkeit wurzelt im Volkstum,
dem Hauptbegriff reiner Welt- und Literaturanschauung. Es ist für ihn die erste
und einzige Grundlage aller Literaturbeurteilung, wie er einmal in der Schrift
"Kritiker und Kritikaster" ausgeführt hat: "Es ist das deutsche Volkstum. das.


Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung

ein Mensch. Ja, wir lieben Goethe, doch gemein machen wollen wir ihn uns
nicht, wir wissen, daß er tausendmal größer und besser ist als wir, nur dann
jedem von uns nahe, wenn wir mit jener höchsten Achtung vor dem Menschen¬
bild, jener reinen Sehnsucht im Herzen kommen, die unser bester Teil ist, und
auch den geringsten unter uns bisweilen über sich selbst erhebt. Er, der Mann,
der das schöne Wort von der niedrigsten Menschenklasse gesprochen hat. die vor
Gott die höchste ist, nimmt uns alle an, wir lernen bei ihm zu sagen, was
wir leiden, lernen bei ihm, in seiner reichen Welt das Schöne zu erkennen und
zu empfinden, das Urphänomen, ,das zwar nie selber zur Erscheinung kommt,
dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes
sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist als die Natur
selber/ lernen leben."

Bei solch reinem und unmittelbarem Verhältnis zu unserem größten
Dichter konnte der Plan des Literarhistorikers, im Anschluß an das Leben und
Schaffen Goethes in die Weltliteratur einzuführen, nur gute Vorurteile wach¬
rufen. In dem vollendeten Werke gibt er nun, folgend solchen Momenten von
Goethes Leben, in denen die eine oder andere Literaturepoche in des Dichters
Werden und Wachsen einspringt, stets verglichen mit den Wirkungen ihres Ein¬
tretens in die Entwicklung und den Gesichtskreis des deutschen Volkes, eine nach
Kapiteln und Gruppen geordnete Sammlung der Äußerungen, die Goethe und
neben ihm Lessing, Herder, Schiller, die Schlegel, Tieck. Grillparzer, Hebbel,
Otto Ludwig, Heine, Keller, Theodor Fontane und andere Dichter, sowie die
bedeutendsten Literaturhistoriker und reinen Historiker, wie Grimm, Hettner, Ger-
vinus, Scherer, Treitschke, Chamberlain u. a. in. über die einzelnen Erscheinungen
und Entwicklungen getan haben. Also eine große, von riesiger Belesenheit und
unermüdlichem Fleiße zeugende Arbeit, die schon rein stofflich bedeutenden Wert
hat, — wenn sie nicht unter gewissen Tendenzen vorgenommen wäre. Über
dem nach Bienenart zusammengetragenen Stoff aber waltet eine Gesinnung,
die den Leser zwingt, sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Skepsis zu rüsten,
wenn er an die Lektüre des dreibändigen Werkes herantritt. Es ist kein reiner
Honig, der aus den Bartelsschen Waben quillt. Bartels zeigt sich uns nicht in
jenem Verhältnis zu Goethe, nach den, er selbst beurteilt sein will. Wir ver¬
missen jene Universalität und innere Freiheit, jene Unabhängigkeit des Geistes,
die uns mit dem Begriff „Deutsche Persönlichkeit" unzertrennlich verbunden
scheinen.




Ich stimme mit Bartels darin überein, daß alle Literaturwissenschaft vom
Werturteil einer Persönlichkeit ausgehe. Die Persönlichkeit wurzelt im Volkstum,
dem Hauptbegriff reiner Welt- und Literaturanschauung. Es ist für ihn die erste
und einzige Grundlage aller Literaturbeurteilung, wie er einmal in der Schrift
„Kritiker und Kritikaster" ausgeführt hat: „Es ist das deutsche Volkstum. das.


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[0459] Die Grundzüge einer Literaturbeurteilung ein Mensch. Ja, wir lieben Goethe, doch gemein machen wollen wir ihn uns nicht, wir wissen, daß er tausendmal größer und besser ist als wir, nur dann jedem von uns nahe, wenn wir mit jener höchsten Achtung vor dem Menschen¬ bild, jener reinen Sehnsucht im Herzen kommen, die unser bester Teil ist, und auch den geringsten unter uns bisweilen über sich selbst erhebt. Er, der Mann, der das schöne Wort von der niedrigsten Menschenklasse gesprochen hat. die vor Gott die höchste ist, nimmt uns alle an, wir lernen bei ihm zu sagen, was wir leiden, lernen bei ihm, in seiner reichen Welt das Schöne zu erkennen und zu empfinden, das Urphänomen, ,das zwar nie selber zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist als die Natur selber/ lernen leben." Bei solch reinem und unmittelbarem Verhältnis zu unserem größten Dichter konnte der Plan des Literarhistorikers, im Anschluß an das Leben und Schaffen Goethes in die Weltliteratur einzuführen, nur gute Vorurteile wach¬ rufen. In dem vollendeten Werke gibt er nun, folgend solchen Momenten von Goethes Leben, in denen die eine oder andere Literaturepoche in des Dichters Werden und Wachsen einspringt, stets verglichen mit den Wirkungen ihres Ein¬ tretens in die Entwicklung und den Gesichtskreis des deutschen Volkes, eine nach Kapiteln und Gruppen geordnete Sammlung der Äußerungen, die Goethe und neben ihm Lessing, Herder, Schiller, die Schlegel, Tieck. Grillparzer, Hebbel, Otto Ludwig, Heine, Keller, Theodor Fontane und andere Dichter, sowie die bedeutendsten Literaturhistoriker und reinen Historiker, wie Grimm, Hettner, Ger- vinus, Scherer, Treitschke, Chamberlain u. a. in. über die einzelnen Erscheinungen und Entwicklungen getan haben. Also eine große, von riesiger Belesenheit und unermüdlichem Fleiße zeugende Arbeit, die schon rein stofflich bedeutenden Wert hat, — wenn sie nicht unter gewissen Tendenzen vorgenommen wäre. Über dem nach Bienenart zusammengetragenen Stoff aber waltet eine Gesinnung, die den Leser zwingt, sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Skepsis zu rüsten, wenn er an die Lektüre des dreibändigen Werkes herantritt. Es ist kein reiner Honig, der aus den Bartelsschen Waben quillt. Bartels zeigt sich uns nicht in jenem Verhältnis zu Goethe, nach den, er selbst beurteilt sein will. Wir ver¬ missen jene Universalität und innere Freiheit, jene Unabhängigkeit des Geistes, die uns mit dem Begriff „Deutsche Persönlichkeit" unzertrennlich verbunden scheinen. Ich stimme mit Bartels darin überein, daß alle Literaturwissenschaft vom Werturteil einer Persönlichkeit ausgehe. Die Persönlichkeit wurzelt im Volkstum, dem Hauptbegriff reiner Welt- und Literaturanschauung. Es ist für ihn die erste und einzige Grundlage aller Literaturbeurteilung, wie er einmal in der Schrift „Kritiker und Kritikaster" ausgeführt hat: „Es ist das deutsche Volkstum. das.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/459>, abgerufen am 25.07.2024.