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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundzüge einer Litcraturbeurtcilung

gültig ob sie wertvoll oder wertlos ist. Weil nun ferner das Volkstum die
universale Triebkraft für alles "Getriebene" des Volkes ist, kann es nicht der
kritische Maßstab für das, was ihm entstammt, sein; ein Bild veranschauliche
den Widerspruch: man kann Kinder nicht als wertlos bezeichnen, weil sie nicht
den Eigenschaften der Eltern entsprechen. Der kritische Maßstab liegt nur in
einem Teil, dem guten, der Quelle: die guten Teile des Volkstumes, wie die
Entwicklung eines Volkes sie gezeitigt hat und zeigt, können das Maßgebende
sein. Der Begriff des nationalen hat diesen Sinn und er genügt, um einen
Maßstab zu erhalten, der die Literatur in Beziehung zum Volksganzen setzt.
Das Volkstum ist dagegen der Boden, aus dem Kraut und Unkraut spricht.
Bartels hält diese Unterschiede nicht aufrecht, sondern vermischt beides, um so
die Unterlage für seine anderen Tendenzen -- besonders die dörflichen,
agrarischen, kleinstädtischen gegen die industriellen, großstädtischen -- zu kon¬
struieren.

Die Definition des nationalen kann im einzelnen auch umstritten sein.
Denn "die guten Seiten des Volkstumes"? Ja, welche Eigenschaften darf man
dazu zählen? Bartels (III. 742) will das Männliche und Sittliche für das
deutsche Volk als vorherrschend kennzeichnen und fügt hinzu: "jedenfalls gelingt
uns Deutschen das Frivole und Laszive nicht, wenn es auch an Gemeinem nicht
fehlt." Auch "den Zug zur Verinnerlichung" rechnet er zu der Reihe von
"Deutschheiten". Ganz abgesehen davon, daß die Engländer -- allerdings auch
Germanen -- die Eigenschaften des Männlichen und Sittlichen, den Zug zur
Verinnerlichung ebenfalls für sich in Anspruch nehmen können, wodurch wir also
vom Volksmäßigen zum Rassencharakter gedrängt werden, sind solche Einteilungen
und Behauptungen doch stets rein persönlich, was Bartels schließlich selbst zu¬
geben muß (III, 742): "Aber Beweise und Herleitungen sind für die Praxis
zuletzt vollkommen überflüssig (I), man sieht es und fühlt es eben, was deutsch
ist." Hier erfährt man einmal in auffallendster Klarheit, wie Bartels sich zu
dem Wesen der Wissenschaft, das doch das Streben nach beweisbarer Wahrheit ist,
stellt und gewinnt danach ein Urteil über die Worte im "Vorwort" der Welt¬
literatur: "der Weg, auf dem ich die mir gestellten Aufgaben zu erreichen gesucht
habe, ist immer der der Wissenschaft gewesen!"

Es bleibt also für den Wissenschaftler vom Volkstum nur der, wenn ich
so sagen darf, naturwissenschaftliche Begriff: Triebkraft des Volks¬
ganzen für alle Eigenschaften und Taten des Volkes ohne Rücksicht
auf ihren Wert. Daneben steht der Begriff des nationalen: er faßt
die guten Eigenschaften eines Volkes, offenbart in seinen guten Taten und
Werken, zusammen. Beide Begriffe können nur lebendig werden durch die
Anwendung, die eine Persönlichkeit mit ihnen auf bestimmte Objekte, in
unserem Falle die Literatur, in welcher Art und Weise auch immer vor¬
nimmt. Wir können also an den Beginn aller Literaturwissenschaft nur die
Persönlichkeit stellen und ihr als Kompaß nur den Begriff des nationalen.


Grenzboten II 1914 2S
Die Grundzüge einer Litcraturbeurtcilung

gültig ob sie wertvoll oder wertlos ist. Weil nun ferner das Volkstum die
universale Triebkraft für alles „Getriebene" des Volkes ist, kann es nicht der
kritische Maßstab für das, was ihm entstammt, sein; ein Bild veranschauliche
den Widerspruch: man kann Kinder nicht als wertlos bezeichnen, weil sie nicht
den Eigenschaften der Eltern entsprechen. Der kritische Maßstab liegt nur in
einem Teil, dem guten, der Quelle: die guten Teile des Volkstumes, wie die
Entwicklung eines Volkes sie gezeitigt hat und zeigt, können das Maßgebende
sein. Der Begriff des nationalen hat diesen Sinn und er genügt, um einen
Maßstab zu erhalten, der die Literatur in Beziehung zum Volksganzen setzt.
Das Volkstum ist dagegen der Boden, aus dem Kraut und Unkraut spricht.
Bartels hält diese Unterschiede nicht aufrecht, sondern vermischt beides, um so
die Unterlage für seine anderen Tendenzen — besonders die dörflichen,
agrarischen, kleinstädtischen gegen die industriellen, großstädtischen — zu kon¬
struieren.

Die Definition des nationalen kann im einzelnen auch umstritten sein.
Denn „die guten Seiten des Volkstumes"? Ja, welche Eigenschaften darf man
dazu zählen? Bartels (III. 742) will das Männliche und Sittliche für das
deutsche Volk als vorherrschend kennzeichnen und fügt hinzu: „jedenfalls gelingt
uns Deutschen das Frivole und Laszive nicht, wenn es auch an Gemeinem nicht
fehlt." Auch „den Zug zur Verinnerlichung" rechnet er zu der Reihe von
„Deutschheiten". Ganz abgesehen davon, daß die Engländer — allerdings auch
Germanen — die Eigenschaften des Männlichen und Sittlichen, den Zug zur
Verinnerlichung ebenfalls für sich in Anspruch nehmen können, wodurch wir also
vom Volksmäßigen zum Rassencharakter gedrängt werden, sind solche Einteilungen
und Behauptungen doch stets rein persönlich, was Bartels schließlich selbst zu¬
geben muß (III, 742): „Aber Beweise und Herleitungen sind für die Praxis
zuletzt vollkommen überflüssig (I), man sieht es und fühlt es eben, was deutsch
ist." Hier erfährt man einmal in auffallendster Klarheit, wie Bartels sich zu
dem Wesen der Wissenschaft, das doch das Streben nach beweisbarer Wahrheit ist,
stellt und gewinnt danach ein Urteil über die Worte im „Vorwort" der Welt¬
literatur: „der Weg, auf dem ich die mir gestellten Aufgaben zu erreichen gesucht
habe, ist immer der der Wissenschaft gewesen!"

Es bleibt also für den Wissenschaftler vom Volkstum nur der, wenn ich
so sagen darf, naturwissenschaftliche Begriff: Triebkraft des Volks¬
ganzen für alle Eigenschaften und Taten des Volkes ohne Rücksicht
auf ihren Wert. Daneben steht der Begriff des nationalen: er faßt
die guten Eigenschaften eines Volkes, offenbart in seinen guten Taten und
Werken, zusammen. Beide Begriffe können nur lebendig werden durch die
Anwendung, die eine Persönlichkeit mit ihnen auf bestimmte Objekte, in
unserem Falle die Literatur, in welcher Art und Weise auch immer vor¬
nimmt. Wir können also an den Beginn aller Literaturwissenschaft nur die
Persönlichkeit stellen und ihr als Kompaß nur den Begriff des nationalen.


Grenzboten II 1914 2S
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[0461] Die Grundzüge einer Litcraturbeurtcilung gültig ob sie wertvoll oder wertlos ist. Weil nun ferner das Volkstum die universale Triebkraft für alles „Getriebene" des Volkes ist, kann es nicht der kritische Maßstab für das, was ihm entstammt, sein; ein Bild veranschauliche den Widerspruch: man kann Kinder nicht als wertlos bezeichnen, weil sie nicht den Eigenschaften der Eltern entsprechen. Der kritische Maßstab liegt nur in einem Teil, dem guten, der Quelle: die guten Teile des Volkstumes, wie die Entwicklung eines Volkes sie gezeitigt hat und zeigt, können das Maßgebende sein. Der Begriff des nationalen hat diesen Sinn und er genügt, um einen Maßstab zu erhalten, der die Literatur in Beziehung zum Volksganzen setzt. Das Volkstum ist dagegen der Boden, aus dem Kraut und Unkraut spricht. Bartels hält diese Unterschiede nicht aufrecht, sondern vermischt beides, um so die Unterlage für seine anderen Tendenzen — besonders die dörflichen, agrarischen, kleinstädtischen gegen die industriellen, großstädtischen — zu kon¬ struieren. Die Definition des nationalen kann im einzelnen auch umstritten sein. Denn „die guten Seiten des Volkstumes"? Ja, welche Eigenschaften darf man dazu zählen? Bartels (III. 742) will das Männliche und Sittliche für das deutsche Volk als vorherrschend kennzeichnen und fügt hinzu: „jedenfalls gelingt uns Deutschen das Frivole und Laszive nicht, wenn es auch an Gemeinem nicht fehlt." Auch „den Zug zur Verinnerlichung" rechnet er zu der Reihe von „Deutschheiten". Ganz abgesehen davon, daß die Engländer — allerdings auch Germanen — die Eigenschaften des Männlichen und Sittlichen, den Zug zur Verinnerlichung ebenfalls für sich in Anspruch nehmen können, wodurch wir also vom Volksmäßigen zum Rassencharakter gedrängt werden, sind solche Einteilungen und Behauptungen doch stets rein persönlich, was Bartels schließlich selbst zu¬ geben muß (III, 742): „Aber Beweise und Herleitungen sind für die Praxis zuletzt vollkommen überflüssig (I), man sieht es und fühlt es eben, was deutsch ist." Hier erfährt man einmal in auffallendster Klarheit, wie Bartels sich zu dem Wesen der Wissenschaft, das doch das Streben nach beweisbarer Wahrheit ist, stellt und gewinnt danach ein Urteil über die Worte im „Vorwort" der Welt¬ literatur: „der Weg, auf dem ich die mir gestellten Aufgaben zu erreichen gesucht habe, ist immer der der Wissenschaft gewesen!" Es bleibt also für den Wissenschaftler vom Volkstum nur der, wenn ich so sagen darf, naturwissenschaftliche Begriff: Triebkraft des Volks¬ ganzen für alle Eigenschaften und Taten des Volkes ohne Rücksicht auf ihren Wert. Daneben steht der Begriff des nationalen: er faßt die guten Eigenschaften eines Volkes, offenbart in seinen guten Taten und Werken, zusammen. Beide Begriffe können nur lebendig werden durch die Anwendung, die eine Persönlichkeit mit ihnen auf bestimmte Objekte, in unserem Falle die Literatur, in welcher Art und Weise auch immer vor¬ nimmt. Wir können also an den Beginn aller Literaturwissenschaft nur die Persönlichkeit stellen und ihr als Kompaß nur den Begriff des nationalen. Grenzboten II 1914 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/461>, abgerufen am 04.07.2024.