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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das Kaiserhoch und die Sozialdemokratie

Den einzigen, seitdem nicht wiederholten Versuch, auf dem Wege der Ge¬
setzgebung dem Reichstage schärfere disziplinarische Befugnisse zu verleihen, hat
Fürst Bismarck im Jahre 1379 gemacht, mit dem Entwurf eines Gesetzes
"betreffend die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder" (Drucksache
Ur. 15 vom 12. Februar 1879). Es war bald nach der Annahme des So¬
zialistengesetzes. Dem Fürsten kam es in erster Linie darauf an, nun auch die
sozialistische Agitation auf parlamentarischer Basis nach Möglichkeit abzuschneiden.
Ebenso aber sollte der Verletzung der Ehre Außenstehender begegnet werden,
und es spielte auch der Gedanke mit, eine Waffe gegen Majestätsbeleidiger zu
erhalten. Der Gesetzentwurf wurde schon vor seiner Veröffentlichung von der
bürgerlichen Linken, dem Zentrum und der Sozialdemokratie lebhaft bekämpft
und als "Maulkorbgesetz" der öffentlichen Verachtung empfohlen. Die Straf¬
gewalt des Reichstages sollte nach dem Willen des Fürsten Bismarck gegen alle
Erscheinungen der "Ungebühr" eingreifen. Eine Kommisston, unter Vorsitz des
Präsidenten, sollte die Strafgewalt ausüben. Die Ahndungen, welche die
Kommission sollte verhängen können, sollten je nach der Schwere der Ungebühr
sein: Verweis vor versammeltem Hause, Verpflichtung zur Entschuldigung oder
zum Widerruf, Ausschließung aus dem Reichstage auf bestimmte Zeitdauer,
die bis zum Ende der Legislaturperiode erstreckt werden könnte.

War die Ahndung wegen einer Äußerung oder des Inhalts einer Rede
erfolgt, so sollte diese vom stenographischen Bericht ausgeschlossen werden können.
Ihre Verbreitung durch die Presse sollte verboten werden.

Die Begründung der Vorlage enthält mancherlei interessantes Material.
Die Debatte, die am 4. und 5. März stattfand, ist heute noch lesenswert,
namentlich auch wegen der hohen Auffassung des parlamentarischen Berufes,
der allenthalben zum Ausdruck kommt. Im heutigen Reichstage würden sich
die Wortführer von damals sehr fremd und unbehaglich fühlen. Es hilft nichts;
wenn man alte Parlamentsakten durchsieht, drängt sich immer wieder unab¬
weisbar der Eindruck auf, daß wir im Niveau doch weit heruntergekommen sind.

Bismarcks Versuch scheiterte. Der Reichstag wollte von der Redefreiheit
nichts drangeben und glaubte, seine Würde mit den bisherigen Mitteln der sehr
milden Geschäftsordnung wahren zu können. Bismarck selber nahm in der
Debatte das Wort und bemerkte dabei, die Regierung hätte sich eine Initiative
erspart, wenn aus der Mitte des Hauses von irgendeiner Seite ein Versuch der
Abhilfe gekommen wäre.

Eine Befassung der Geschäftsordnungskommission mit der Frage der
Änderung der Geschäftsordnung, die vom Reichstag bei der Ablehnung der
Bismarckschen Vorlage beschlossen wurde, blieb ebenfalls ohne Ergebnis. Bis¬
marck äußerte damals privatim: er glaubte, dem Reichstag und sonst niemandem
mit der Anregung der Sache einen Dienst erwiesen zu haben, und könnte ruhig
abwarten, ob der Reichstag die ansehnliche und mächtige Stellung, welche ihm
durch die gesetzliche Begründung des Jurisdiktionsrechts über seine Mitglieder


Das Kaiserhoch und die Sozialdemokratie

Den einzigen, seitdem nicht wiederholten Versuch, auf dem Wege der Ge¬
setzgebung dem Reichstage schärfere disziplinarische Befugnisse zu verleihen, hat
Fürst Bismarck im Jahre 1379 gemacht, mit dem Entwurf eines Gesetzes
„betreffend die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder" (Drucksache
Ur. 15 vom 12. Februar 1879). Es war bald nach der Annahme des So¬
zialistengesetzes. Dem Fürsten kam es in erster Linie darauf an, nun auch die
sozialistische Agitation auf parlamentarischer Basis nach Möglichkeit abzuschneiden.
Ebenso aber sollte der Verletzung der Ehre Außenstehender begegnet werden,
und es spielte auch der Gedanke mit, eine Waffe gegen Majestätsbeleidiger zu
erhalten. Der Gesetzentwurf wurde schon vor seiner Veröffentlichung von der
bürgerlichen Linken, dem Zentrum und der Sozialdemokratie lebhaft bekämpft
und als „Maulkorbgesetz" der öffentlichen Verachtung empfohlen. Die Straf¬
gewalt des Reichstages sollte nach dem Willen des Fürsten Bismarck gegen alle
Erscheinungen der „Ungebühr" eingreifen. Eine Kommisston, unter Vorsitz des
Präsidenten, sollte die Strafgewalt ausüben. Die Ahndungen, welche die
Kommission sollte verhängen können, sollten je nach der Schwere der Ungebühr
sein: Verweis vor versammeltem Hause, Verpflichtung zur Entschuldigung oder
zum Widerruf, Ausschließung aus dem Reichstage auf bestimmte Zeitdauer,
die bis zum Ende der Legislaturperiode erstreckt werden könnte.

War die Ahndung wegen einer Äußerung oder des Inhalts einer Rede
erfolgt, so sollte diese vom stenographischen Bericht ausgeschlossen werden können.
Ihre Verbreitung durch die Presse sollte verboten werden.

Die Begründung der Vorlage enthält mancherlei interessantes Material.
Die Debatte, die am 4. und 5. März stattfand, ist heute noch lesenswert,
namentlich auch wegen der hohen Auffassung des parlamentarischen Berufes,
der allenthalben zum Ausdruck kommt. Im heutigen Reichstage würden sich
die Wortführer von damals sehr fremd und unbehaglich fühlen. Es hilft nichts;
wenn man alte Parlamentsakten durchsieht, drängt sich immer wieder unab¬
weisbar der Eindruck auf, daß wir im Niveau doch weit heruntergekommen sind.

Bismarcks Versuch scheiterte. Der Reichstag wollte von der Redefreiheit
nichts drangeben und glaubte, seine Würde mit den bisherigen Mitteln der sehr
milden Geschäftsordnung wahren zu können. Bismarck selber nahm in der
Debatte das Wort und bemerkte dabei, die Regierung hätte sich eine Initiative
erspart, wenn aus der Mitte des Hauses von irgendeiner Seite ein Versuch der
Abhilfe gekommen wäre.

Eine Befassung der Geschäftsordnungskommission mit der Frage der
Änderung der Geschäftsordnung, die vom Reichstag bei der Ablehnung der
Bismarckschen Vorlage beschlossen wurde, blieb ebenfalls ohne Ergebnis. Bis¬
marck äußerte damals privatim: er glaubte, dem Reichstag und sonst niemandem
mit der Anregung der Sache einen Dienst erwiesen zu haben, und könnte ruhig
abwarten, ob der Reichstag die ansehnliche und mächtige Stellung, welche ihm
durch die gesetzliche Begründung des Jurisdiktionsrechts über seine Mitglieder


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[0452] Das Kaiserhoch und die Sozialdemokratie Den einzigen, seitdem nicht wiederholten Versuch, auf dem Wege der Ge¬ setzgebung dem Reichstage schärfere disziplinarische Befugnisse zu verleihen, hat Fürst Bismarck im Jahre 1379 gemacht, mit dem Entwurf eines Gesetzes „betreffend die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder" (Drucksache Ur. 15 vom 12. Februar 1879). Es war bald nach der Annahme des So¬ zialistengesetzes. Dem Fürsten kam es in erster Linie darauf an, nun auch die sozialistische Agitation auf parlamentarischer Basis nach Möglichkeit abzuschneiden. Ebenso aber sollte der Verletzung der Ehre Außenstehender begegnet werden, und es spielte auch der Gedanke mit, eine Waffe gegen Majestätsbeleidiger zu erhalten. Der Gesetzentwurf wurde schon vor seiner Veröffentlichung von der bürgerlichen Linken, dem Zentrum und der Sozialdemokratie lebhaft bekämpft und als „Maulkorbgesetz" der öffentlichen Verachtung empfohlen. Die Straf¬ gewalt des Reichstages sollte nach dem Willen des Fürsten Bismarck gegen alle Erscheinungen der „Ungebühr" eingreifen. Eine Kommisston, unter Vorsitz des Präsidenten, sollte die Strafgewalt ausüben. Die Ahndungen, welche die Kommission sollte verhängen können, sollten je nach der Schwere der Ungebühr sein: Verweis vor versammeltem Hause, Verpflichtung zur Entschuldigung oder zum Widerruf, Ausschließung aus dem Reichstage auf bestimmte Zeitdauer, die bis zum Ende der Legislaturperiode erstreckt werden könnte. War die Ahndung wegen einer Äußerung oder des Inhalts einer Rede erfolgt, so sollte diese vom stenographischen Bericht ausgeschlossen werden können. Ihre Verbreitung durch die Presse sollte verboten werden. Die Begründung der Vorlage enthält mancherlei interessantes Material. Die Debatte, die am 4. und 5. März stattfand, ist heute noch lesenswert, namentlich auch wegen der hohen Auffassung des parlamentarischen Berufes, der allenthalben zum Ausdruck kommt. Im heutigen Reichstage würden sich die Wortführer von damals sehr fremd und unbehaglich fühlen. Es hilft nichts; wenn man alte Parlamentsakten durchsieht, drängt sich immer wieder unab¬ weisbar der Eindruck auf, daß wir im Niveau doch weit heruntergekommen sind. Bismarcks Versuch scheiterte. Der Reichstag wollte von der Redefreiheit nichts drangeben und glaubte, seine Würde mit den bisherigen Mitteln der sehr milden Geschäftsordnung wahren zu können. Bismarck selber nahm in der Debatte das Wort und bemerkte dabei, die Regierung hätte sich eine Initiative erspart, wenn aus der Mitte des Hauses von irgendeiner Seite ein Versuch der Abhilfe gekommen wäre. Eine Befassung der Geschäftsordnungskommission mit der Frage der Änderung der Geschäftsordnung, die vom Reichstag bei der Ablehnung der Bismarckschen Vorlage beschlossen wurde, blieb ebenfalls ohne Ergebnis. Bis¬ marck äußerte damals privatim: er glaubte, dem Reichstag und sonst niemandem mit der Anregung der Sache einen Dienst erwiesen zu haben, und könnte ruhig abwarten, ob der Reichstag die ansehnliche und mächtige Stellung, welche ihm durch die gesetzliche Begründung des Jurisdiktionsrechts über seine Mitglieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/452>, abgerufen am 25.07.2024.