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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Gin reaktionärer Briefwechsel

falls bewogen werden kann. Das muß ich Dir ja zugunsten der Regierung
zugestehen.

Nicht viel besser steht es mit der Sozialgesetzgebung. Gesetze über Gesetze.
Immer neue Kategorien von Menschen sollen gegen immer neue Schicksale,
gegen Krankheit, Armut, Alter, Arbeitslosigkeit und Gott weiß gegen was, in
immer steigendem Maße, und das alles zwangsweise, versichert werden. Da
melden sich die Berufsvereine, alle Parteien laufen ihnen um die Wette nach,
alle überbieten sich in Arbeiterfreundlichkeit. Man verlangt von ihnen keine
Verantwortlichkeit, man überträgt ihnen keinen Anteil an der Sorge um die
Ausführung, um die objektiven Folgen; man kann keine anderen Rücksichten
erwarten, als die auf die Wähler.

Die Folgen sind bekannt. Es sind Gesetze zustande gekommen, in denen
administrative Umständlichkeit wahre Orgien feiert. Neun Zehntel aller Deutschen
sind versichert. Man hat das moralisch so wohltuende Risiko aus dem Leben
der Menschen genommen und erzieht zwangsweise aus einer Nation, die eben
erst zu dem Gebrauch ihrer eigenen Kräfte, zu dem Bewußtsein, durch eigene
Tüchtigkeit vorwärts zu kommen, erwacht ist, aus einer Nation, die den Ehrgeiz
der Weltherrschaft hat, die doch ohne Kühnheit und Freude an der Gefahr nicht
kann errungen werden, -- man erzieht, sage ich, mit staatlichen Zwangsmitteln
ein Volk vorsichtiger Sicherheitskrämer. Ich will nicht davon reden, wie schwer
die enormen Summen auf die Produktion lasten -- das ließe sich tragen, wenn
die gleichen Summen nur nicht angewandt wären, um die Arbeitskraft des
Volkes, das frohe Selbstgefühl, seines eigenen Schicksals Schmied zu sein,
langsam aber sicher zu ertöten. Fragt nur die Leiter großer Unternehmungen,
sie finden immer weniger Menschen, die auf irgendwelchen Posten im Auslande
um ein größeres Risiko die Möglichkeit größeren Erfolges sich erkaufen wollen,
und immer mehr, die zu Hause ein bescheidenes aber sicheres Schreiberdasein
mit Pensionsrechten führen wollen. Alle diese Dinge werden erst in Jahrzehnten
ihre volle Wirkung getan haben. Dann wird erst der volle Schrecken denen,
die heute gedankenlos zuschauen, in die Glieder fahren -- wenn es dann noch
Deutsche gibt, die ein anderes Ideal als das der Pensionsberechtigung haben.
Aber schon heute steht man die Umrisse der beiden Typen, nach denen man die
kommenden Durchschnittsdeutschen scheiden wird, deutlich aus dem Nebel, der
über der Zukunft liegt, hervortreten. Jeder, der mit den Abendzügen der Berliner
Vorortbahnen fahren will, kann ihn sehen, dort sitzt er, einer neben dem anderen
und einer dem anderen in minderwertiger Zufriedenheit gleich, Menschen, mit
denen man Rechnungen in Ordnung halten, aber nicht die Welt beherrschen
kann, der eine, der Renten bezieht, weil er früher die Renten anderer aus¬
gerechnet hat, der andere, der Renten anderer aufrechnet, bis er selber Renten
beziehen kann, jedes neue Versicherungsgesetz macht neue Tausende zu kleinen
pensionsberechtigten Beamten; und wenn die Dinge so fort gehen, wird in
fünfzig Jahren der Typus des Deutschen der Kalkulator sein, und die Nation


Gin reaktionärer Briefwechsel

falls bewogen werden kann. Das muß ich Dir ja zugunsten der Regierung
zugestehen.

Nicht viel besser steht es mit der Sozialgesetzgebung. Gesetze über Gesetze.
Immer neue Kategorien von Menschen sollen gegen immer neue Schicksale,
gegen Krankheit, Armut, Alter, Arbeitslosigkeit und Gott weiß gegen was, in
immer steigendem Maße, und das alles zwangsweise, versichert werden. Da
melden sich die Berufsvereine, alle Parteien laufen ihnen um die Wette nach,
alle überbieten sich in Arbeiterfreundlichkeit. Man verlangt von ihnen keine
Verantwortlichkeit, man überträgt ihnen keinen Anteil an der Sorge um die
Ausführung, um die objektiven Folgen; man kann keine anderen Rücksichten
erwarten, als die auf die Wähler.

Die Folgen sind bekannt. Es sind Gesetze zustande gekommen, in denen
administrative Umständlichkeit wahre Orgien feiert. Neun Zehntel aller Deutschen
sind versichert. Man hat das moralisch so wohltuende Risiko aus dem Leben
der Menschen genommen und erzieht zwangsweise aus einer Nation, die eben
erst zu dem Gebrauch ihrer eigenen Kräfte, zu dem Bewußtsein, durch eigene
Tüchtigkeit vorwärts zu kommen, erwacht ist, aus einer Nation, die den Ehrgeiz
der Weltherrschaft hat, die doch ohne Kühnheit und Freude an der Gefahr nicht
kann errungen werden, — man erzieht, sage ich, mit staatlichen Zwangsmitteln
ein Volk vorsichtiger Sicherheitskrämer. Ich will nicht davon reden, wie schwer
die enormen Summen auf die Produktion lasten — das ließe sich tragen, wenn
die gleichen Summen nur nicht angewandt wären, um die Arbeitskraft des
Volkes, das frohe Selbstgefühl, seines eigenen Schicksals Schmied zu sein,
langsam aber sicher zu ertöten. Fragt nur die Leiter großer Unternehmungen,
sie finden immer weniger Menschen, die auf irgendwelchen Posten im Auslande
um ein größeres Risiko die Möglichkeit größeren Erfolges sich erkaufen wollen,
und immer mehr, die zu Hause ein bescheidenes aber sicheres Schreiberdasein
mit Pensionsrechten führen wollen. Alle diese Dinge werden erst in Jahrzehnten
ihre volle Wirkung getan haben. Dann wird erst der volle Schrecken denen,
die heute gedankenlos zuschauen, in die Glieder fahren — wenn es dann noch
Deutsche gibt, die ein anderes Ideal als das der Pensionsberechtigung haben.
Aber schon heute steht man die Umrisse der beiden Typen, nach denen man die
kommenden Durchschnittsdeutschen scheiden wird, deutlich aus dem Nebel, der
über der Zukunft liegt, hervortreten. Jeder, der mit den Abendzügen der Berliner
Vorortbahnen fahren will, kann ihn sehen, dort sitzt er, einer neben dem anderen
und einer dem anderen in minderwertiger Zufriedenheit gleich, Menschen, mit
denen man Rechnungen in Ordnung halten, aber nicht die Welt beherrschen
kann, der eine, der Renten bezieht, weil er früher die Renten anderer aus¬
gerechnet hat, der andere, der Renten anderer aufrechnet, bis er selber Renten
beziehen kann, jedes neue Versicherungsgesetz macht neue Tausende zu kleinen
pensionsberechtigten Beamten; und wenn die Dinge so fort gehen, wird in
fünfzig Jahren der Typus des Deutschen der Kalkulator sein, und die Nation


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/448>, abgerufen am 25.07.2024.