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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Lin reaktionärer Briefwechsel

in zwei Hälften zerfallen, in die eine, die Renten bezieht und in die andere,
die sie aufrechnet, und die erste wird auch noch anrechnen müssen, weil die
andere, die zweite, allein nicht mehr fertig wird.

Gegner und Anhänger des parlamentarischen Regimes in dem heutigen
Deutschland stellen die Frage immer so dar, als handelte es sich darum, ob
man die Macht des Parlaments erweitern solle oder nicht. Ach, davon ist gar
nicht die Rede. Die Macht des Parlaments ist, was die Sachen betrifft, längst
auch bei uns so groß geworden, wie sie in den Ländern des reinen Parla¬
mentarismus ist. Daß es keine Minister stürzen kann, ist, solange die Minister
tun müssen, was das Parlament will, eine unwesentliche Nebensache, die nicht
die Dinge selbst, sondern nur ihr äußeres Bild betrifft. Nicht diese kleine
Erweiterung der parlamentarischen Macht wäre bei der Einführung des parla¬
mentarischen Regimes das Wichtige, sondern die Korrektur des Machtgebrauchs,
den das Parlament heute schon besitzt, durch die Beteiligung an der vor der
Geschichte verantwortlichen Regierung. Ohne diese Korrektur muß der Gebrauch
der Macht allerorten zum Mißbrauch werden. Wir geben Leuten die Macht
in die Hand, und gestatten ihnen nicht, ihren Gebrauch zu erlernen. Ja, wir
nehmen ihnen noch dazu die Verantwortung sür die Folgen des Mißbrauchs
ab, denn vor der Geschichte sind doch immer die Regierungen verantwortlich.
Die Namen der Reichskanzler werden noch in einer Zeit mit all diesen Gesetzen
belastet sein, in denen kein Mensch mehr was von den Rücksichten der Ab¬
geordneten auf die Wiederwahl berichtet, mit der als gegebenen Faktoren die
Regierungen bei ihren Vorschlägen hatten rechnen müssen. So haben wir die
Herrschaft der Parlamentarier, ohne das Gegenmittel, das diese Herrschaft
erträglich macht, den äußerlichen Anteil an der Macht, die Erfahrung, die durch
ihn erworben wird, die Verantwortlichkeit, die er auferlegt. So haben wir,
zwar nicht dem äußeren Schein, aber wohl der inneren Sache nach, die Schwächen
der Parlamentsherrschaft ohne ihre Vorzüge. So haben wir schließlich den
geheimen Sinn der modernen Regierungsmethode in ihr Gegenteil verkehrt.
Deren Geheimnis besteht doch darin, daß man der Masse den Schein der Macht
überläßt, und den Glauben gibt, sich selbst zu regieren, während in Wahrheit
eine dünne und geschulte Oberschicht allein die Dinge leitet, und man kann
sagen, daß das Repräsentativsystem mit seinen Parteien und der ganzen modernen
Wahlmaschinerie ein allerdings sehr umständlicher Apparat ist -- er muß
undurchsichtig und daher umständlich sein --, der die Aufgabe hat, den Schein
der Macht, der der Inhalt der Volksrechte ist, zu wahren und dafür so sorgen,
daß der Schein nur Schein, die Macht machtlos bleibt. In England, Frank¬
reich, den Vereinigten Staaten funktioniert dieser Apparat in staunenswerter
Vollkommenheit. Wir aber haben den eigentlichen Sinn dieses ganzen Apparates,
in dem nicht die Klugheit der einzelnen, sondern die Logik der Dinge selbst eine
tiefe Weisheit verborgen hat. in sein Gegenteil verkehrt, haben den Wähler¬
massen die Macht gegeben und den Schein vorenthalten. Das ist eine Art


Lin reaktionärer Briefwechsel

in zwei Hälften zerfallen, in die eine, die Renten bezieht und in die andere,
die sie aufrechnet, und die erste wird auch noch anrechnen müssen, weil die
andere, die zweite, allein nicht mehr fertig wird.

Gegner und Anhänger des parlamentarischen Regimes in dem heutigen
Deutschland stellen die Frage immer so dar, als handelte es sich darum, ob
man die Macht des Parlaments erweitern solle oder nicht. Ach, davon ist gar
nicht die Rede. Die Macht des Parlaments ist, was die Sachen betrifft, längst
auch bei uns so groß geworden, wie sie in den Ländern des reinen Parla¬
mentarismus ist. Daß es keine Minister stürzen kann, ist, solange die Minister
tun müssen, was das Parlament will, eine unwesentliche Nebensache, die nicht
die Dinge selbst, sondern nur ihr äußeres Bild betrifft. Nicht diese kleine
Erweiterung der parlamentarischen Macht wäre bei der Einführung des parla¬
mentarischen Regimes das Wichtige, sondern die Korrektur des Machtgebrauchs,
den das Parlament heute schon besitzt, durch die Beteiligung an der vor der
Geschichte verantwortlichen Regierung. Ohne diese Korrektur muß der Gebrauch
der Macht allerorten zum Mißbrauch werden. Wir geben Leuten die Macht
in die Hand, und gestatten ihnen nicht, ihren Gebrauch zu erlernen. Ja, wir
nehmen ihnen noch dazu die Verantwortung sür die Folgen des Mißbrauchs
ab, denn vor der Geschichte sind doch immer die Regierungen verantwortlich.
Die Namen der Reichskanzler werden noch in einer Zeit mit all diesen Gesetzen
belastet sein, in denen kein Mensch mehr was von den Rücksichten der Ab¬
geordneten auf die Wiederwahl berichtet, mit der als gegebenen Faktoren die
Regierungen bei ihren Vorschlägen hatten rechnen müssen. So haben wir die
Herrschaft der Parlamentarier, ohne das Gegenmittel, das diese Herrschaft
erträglich macht, den äußerlichen Anteil an der Macht, die Erfahrung, die durch
ihn erworben wird, die Verantwortlichkeit, die er auferlegt. So haben wir,
zwar nicht dem äußeren Schein, aber wohl der inneren Sache nach, die Schwächen
der Parlamentsherrschaft ohne ihre Vorzüge. So haben wir schließlich den
geheimen Sinn der modernen Regierungsmethode in ihr Gegenteil verkehrt.
Deren Geheimnis besteht doch darin, daß man der Masse den Schein der Macht
überläßt, und den Glauben gibt, sich selbst zu regieren, während in Wahrheit
eine dünne und geschulte Oberschicht allein die Dinge leitet, und man kann
sagen, daß das Repräsentativsystem mit seinen Parteien und der ganzen modernen
Wahlmaschinerie ein allerdings sehr umständlicher Apparat ist — er muß
undurchsichtig und daher umständlich sein —, der die Aufgabe hat, den Schein
der Macht, der der Inhalt der Volksrechte ist, zu wahren und dafür so sorgen,
daß der Schein nur Schein, die Macht machtlos bleibt. In England, Frank¬
reich, den Vereinigten Staaten funktioniert dieser Apparat in staunenswerter
Vollkommenheit. Wir aber haben den eigentlichen Sinn dieses ganzen Apparates,
in dem nicht die Klugheit der einzelnen, sondern die Logik der Dinge selbst eine
tiefe Weisheit verborgen hat. in sein Gegenteil verkehrt, haben den Wähler¬
massen die Macht gegeben und den Schein vorenthalten. Das ist eine Art


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/449>, abgerufen am 24.07.2024.