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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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"Freideutsche Jugendkultur"

erbarmungslose Ausrottung solcher Erotik, "die sich von der Schulbank aus
mausig macht und nichts als widerwärtige, giftige, frühe Verdorbenheit verrät.
Am Marke der Jugend und damit der Nation versündigt sich, wer im Kreise
der Unmündigen ratend sitzt*) und zu jämmerlichen Verirrungen schweigt. Es
versündigt sich an ihr nicht minder, wer sie wirrköpfig mit eigener Phantasie
vollstopft, wer sie und ihre Gedanken älter macht, als sie es von Rechts wegen
sind und sein dürfen." Und der liberale Abgeordnete Dr. Günther beschuldigte
am 4. Februar d. I. im bayerischen Landtage gelegentlich einer Aussprache
über die freideutsche Jugendkultur in der Generaldebatte zum Kultusetat die
Bewegung des "Libertinismus" und sagte, daß die Zeitschrift eine Reihe von
Artikeln bringe, denen man wirklich nicht unrecht tue, wenn man sie als Sumpf
bezeichne. Dr. Wuneken aber meint, diesen neuen Willen der Jugend -- ich ver¬
meide absichtlich die Bezeichnung "Pennälererotik", da mich alsdann nach Meinung
Dr. Wynekens die Verachtung aller anständigen Menschen treffen möchte -- recht¬
fertigen zu können mit dem Schuldkonto der älteren Generation, deren System der
Jugend tiefe und unheilbareWunden geschlagen habe oder zuschlagen drohe(Onanie,
Geschlechtskrankheiten, Verwüstung des Liebeslebens in der Seele der Jugendlichen,
Alkoholkonsum), und er spricht in einer nur aus seinem Fanatismus erklärlichen
Verwirrung der Begriffe nicht bloß von "unserer Unfähigkeit, die Jugend zu
leiten, ja nur zu retten", sondern auch von unserer "Blutschuld", der "großen
Schuld, die man übernehmen mußte mit der Erzeugung von Kindern, zu deren
Erziehung man weder ausgerüstet noch reif war". hier liegt ein bisher
noch nicht ausgenutztes Argument, das die Anhänger des Gebärstreiks sich nicht
sollten entgehen lassen.) Diese Kultivierung der Sinnlichkeit aber, deren Geist
uns durchglühen und heiligen muß, ist in ihrer Schrankenlosigkeit und Verkehrung
nicht etwa ein Ausfluß des Komischen "radikalen Bösen", der "Bestie" in uns,
sondern sie zielt schließlich doch nur auf "eine höhere Natürlichkeit, Reinheit
und Schönheit des Verhältnisses der Geschlechter" ab.




So spricht, in verba, MÄAi8tri schwörend, räsonnierend und philosophierend
der ungeheure "Ernst" der Jugend, den Wuneken nimmer genug zu rühmen
weiß, über Elternhaus, Schule, Sitte und Moral. Aus ihm spricht Gustav
Wyneken, spricht auch Friedrich Nietzsche, von dessen Mission an der Schul¬
jugend einer im "Anfang" viel zu reden weiß. Und Nietzsche-Schlagworte wie
die vom Übermenschen, von der Umwertung aller Werte, von dem Standort
"Jenseits von Gut und Böse" haben ja nimmer, halbverstanden und mund¬
gerecht gemacht, auf eine noch nicht gefestigte Jugend ihre bestechende und ver¬
wirrende Wirkung verfehlt. Die Jugend wächst sich aus zur individualistischen
Ubermenschenjugend. die sich aus eigener Kraft und in eigenem Denken befreit;



") Nordhausen ist der Verfasser eines auf die Jugendpsyche meisterhaft eingestellten
^"ches: "Zwischen vierzehn und achtzehn" (Leipzig 1910).
„Freideutsche Jugendkultur"

erbarmungslose Ausrottung solcher Erotik, „die sich von der Schulbank aus
mausig macht und nichts als widerwärtige, giftige, frühe Verdorbenheit verrät.
Am Marke der Jugend und damit der Nation versündigt sich, wer im Kreise
der Unmündigen ratend sitzt*) und zu jämmerlichen Verirrungen schweigt. Es
versündigt sich an ihr nicht minder, wer sie wirrköpfig mit eigener Phantasie
vollstopft, wer sie und ihre Gedanken älter macht, als sie es von Rechts wegen
sind und sein dürfen." Und der liberale Abgeordnete Dr. Günther beschuldigte
am 4. Februar d. I. im bayerischen Landtage gelegentlich einer Aussprache
über die freideutsche Jugendkultur in der Generaldebatte zum Kultusetat die
Bewegung des „Libertinismus" und sagte, daß die Zeitschrift eine Reihe von
Artikeln bringe, denen man wirklich nicht unrecht tue, wenn man sie als Sumpf
bezeichne. Dr. Wuneken aber meint, diesen neuen Willen der Jugend — ich ver¬
meide absichtlich die Bezeichnung „Pennälererotik", da mich alsdann nach Meinung
Dr. Wynekens die Verachtung aller anständigen Menschen treffen möchte — recht¬
fertigen zu können mit dem Schuldkonto der älteren Generation, deren System der
Jugend tiefe und unheilbareWunden geschlagen habe oder zuschlagen drohe(Onanie,
Geschlechtskrankheiten, Verwüstung des Liebeslebens in der Seele der Jugendlichen,
Alkoholkonsum), und er spricht in einer nur aus seinem Fanatismus erklärlichen
Verwirrung der Begriffe nicht bloß von „unserer Unfähigkeit, die Jugend zu
leiten, ja nur zu retten", sondern auch von unserer „Blutschuld", der „großen
Schuld, die man übernehmen mußte mit der Erzeugung von Kindern, zu deren
Erziehung man weder ausgerüstet noch reif war". hier liegt ein bisher
noch nicht ausgenutztes Argument, das die Anhänger des Gebärstreiks sich nicht
sollten entgehen lassen.) Diese Kultivierung der Sinnlichkeit aber, deren Geist
uns durchglühen und heiligen muß, ist in ihrer Schrankenlosigkeit und Verkehrung
nicht etwa ein Ausfluß des Komischen „radikalen Bösen", der „Bestie" in uns,
sondern sie zielt schließlich doch nur auf „eine höhere Natürlichkeit, Reinheit
und Schönheit des Verhältnisses der Geschlechter" ab.




So spricht, in verba, MÄAi8tri schwörend, räsonnierend und philosophierend
der ungeheure „Ernst" der Jugend, den Wuneken nimmer genug zu rühmen
weiß, über Elternhaus, Schule, Sitte und Moral. Aus ihm spricht Gustav
Wyneken, spricht auch Friedrich Nietzsche, von dessen Mission an der Schul¬
jugend einer im „Anfang" viel zu reden weiß. Und Nietzsche-Schlagworte wie
die vom Übermenschen, von der Umwertung aller Werte, von dem Standort
„Jenseits von Gut und Böse" haben ja nimmer, halbverstanden und mund¬
gerecht gemacht, auf eine noch nicht gefestigte Jugend ihre bestechende und ver¬
wirrende Wirkung verfehlt. Die Jugend wächst sich aus zur individualistischen
Ubermenschenjugend. die sich aus eigener Kraft und in eigenem Denken befreit;



") Nordhausen ist der Verfasser eines auf die Jugendpsyche meisterhaft eingestellten
^"ches: „Zwischen vierzehn und achtzehn" (Leipzig 1910).
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[0417] „Freideutsche Jugendkultur" erbarmungslose Ausrottung solcher Erotik, „die sich von der Schulbank aus mausig macht und nichts als widerwärtige, giftige, frühe Verdorbenheit verrät. Am Marke der Jugend und damit der Nation versündigt sich, wer im Kreise der Unmündigen ratend sitzt*) und zu jämmerlichen Verirrungen schweigt. Es versündigt sich an ihr nicht minder, wer sie wirrköpfig mit eigener Phantasie vollstopft, wer sie und ihre Gedanken älter macht, als sie es von Rechts wegen sind und sein dürfen." Und der liberale Abgeordnete Dr. Günther beschuldigte am 4. Februar d. I. im bayerischen Landtage gelegentlich einer Aussprache über die freideutsche Jugendkultur in der Generaldebatte zum Kultusetat die Bewegung des „Libertinismus" und sagte, daß die Zeitschrift eine Reihe von Artikeln bringe, denen man wirklich nicht unrecht tue, wenn man sie als Sumpf bezeichne. Dr. Wuneken aber meint, diesen neuen Willen der Jugend — ich ver¬ meide absichtlich die Bezeichnung „Pennälererotik", da mich alsdann nach Meinung Dr. Wynekens die Verachtung aller anständigen Menschen treffen möchte — recht¬ fertigen zu können mit dem Schuldkonto der älteren Generation, deren System der Jugend tiefe und unheilbareWunden geschlagen habe oder zuschlagen drohe(Onanie, Geschlechtskrankheiten, Verwüstung des Liebeslebens in der Seele der Jugendlichen, Alkoholkonsum), und er spricht in einer nur aus seinem Fanatismus erklärlichen Verwirrung der Begriffe nicht bloß von „unserer Unfähigkeit, die Jugend zu leiten, ja nur zu retten", sondern auch von unserer „Blutschuld", der „großen Schuld, die man übernehmen mußte mit der Erzeugung von Kindern, zu deren Erziehung man weder ausgerüstet noch reif war". hier liegt ein bisher noch nicht ausgenutztes Argument, das die Anhänger des Gebärstreiks sich nicht sollten entgehen lassen.) Diese Kultivierung der Sinnlichkeit aber, deren Geist uns durchglühen und heiligen muß, ist in ihrer Schrankenlosigkeit und Verkehrung nicht etwa ein Ausfluß des Komischen „radikalen Bösen", der „Bestie" in uns, sondern sie zielt schließlich doch nur auf „eine höhere Natürlichkeit, Reinheit und Schönheit des Verhältnisses der Geschlechter" ab. So spricht, in verba, MÄAi8tri schwörend, räsonnierend und philosophierend der ungeheure „Ernst" der Jugend, den Wuneken nimmer genug zu rühmen weiß, über Elternhaus, Schule, Sitte und Moral. Aus ihm spricht Gustav Wyneken, spricht auch Friedrich Nietzsche, von dessen Mission an der Schul¬ jugend einer im „Anfang" viel zu reden weiß. Und Nietzsche-Schlagworte wie die vom Übermenschen, von der Umwertung aller Werte, von dem Standort „Jenseits von Gut und Böse" haben ja nimmer, halbverstanden und mund¬ gerecht gemacht, auf eine noch nicht gefestigte Jugend ihre bestechende und ver¬ wirrende Wirkung verfehlt. Die Jugend wächst sich aus zur individualistischen Ubermenschenjugend. die sich aus eigener Kraft und in eigenem Denken befreit; ") Nordhausen ist der Verfasser eines auf die Jugendpsyche meisterhaft eingestellten ^"ches: „Zwischen vierzehn und achtzehn" (Leipzig 1910).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/417>, abgerufen am 04.07.2024.