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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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"Freideutsche Jugendkultnr"

Besonders hat sich ein Herbert Blumenthal als Herold des "Rechtes auf
Erotik" be -- rüchtigt gemacht, indem er dem großen, reichen, gewaltigen, dem
starken, gesunden und unzerstörbaren "Triebleben" der Jugend seinen Hymnus
sang. "Schon steht das Triebleben bei Gruppen der Großstadtjugend unum¬
schränkt im Mittelpunkt des Daseins. Schon ist es zum Unbedingten geworden,
zum absoluten Lebensinhalt. Das zeigt die jüngste Großstadtkunst. Sie ist
rein erotisch. Wir müssen ihr dankbar sein, denn sie schreit es der Welt ins
Gesicht, wie unanständig, wie schamlos die Jugend durch ihre (sie) Unter¬
drückung werden mußte . . . Wir alle, deren bewußtes Streben es ist, an
der Kultur mitzuarbeiten, wir empfinden instinktiv, daß wir das Triebleben als
solches nicht verleugnen dürfen, auch wenn es noch nicht Bestandteil der Kultur
ist. . . Darum find wir so unentwegt positiv, wo es um jugendliche Erotik geht,
so frei von Bedenken, so skrupellos. Wir übernehmen die Erotik mit allem
Drum und Dran an Unkultur in Bausch und Bogen, und wer da nicht mit¬
geht, verfällt der Mißachtung als ein Quietist, ein Totschweiger, ein Feigling,
ein Krüppel. Wir veranstalten Winters und Sommers unsere Feste, die nur
von uns und für uns sind, wir machen den Tanz deutlich erotisch, wir flirten
und lieben, wo wir nur können. Wir schaffen fortwährend neue Gelegenheiten
zur erotischen Geselligkeit der Jugend. Und weil wir deutlich fühlen, es geht
hier um das Prinzip, um die Sache selbst, so nehmen wir Dinge in Kauf,
gegen die wir uns sonst empören: die Häßlichkeit in allen ihren Formen, den
Aufenthalt in stickigen, schwülen, barbarisch dekorierten Sälen; barbarische,
unserem innersten Wesen ganz fremde Tänze, in denen wir direkt mit unserem
Leibe der Roheit und Häßlichkeit dienen . . . Für alles, was uns sonst
empören oder krank machen würde, haben wir auf einmal kein Organ mehr;
denn es geht um unsere Erotik, und also um ein heiliges Gut" (!). Man
begnügt sich nicht mehr mit einer bloß negativen Askese, für die Fr. W. Foerfter
so meisterhafte Anweisungen gibt; nein, eine bloße Verdrängung wäre unnatürlich,
unwahrhaftig, unsittlich; man will das Triebleben positiv gestalten: "Unsere
Erotik soll ein Werkzeug der Schönheit werden, die ein Ausdruck ist des Guten
und der Wahrheit." Im übrigen bekennt auch Wyneken, daß auf diesem Ge¬
biet in der Jugend selbst noch alles gärend, schwankend und suchend ist; nach
seiner Meinung freilich wird mit der Zeit neben dem auch im Wandervogel
bekundeten Streben nach einer neuen geistigen Kameradschaft der Geschlechter
auch die sexuelle Sehnsucht wohl deutlicher hervortreten.

Kein Wunder, daß dieser "Wille zur Sinnlichkeit" von den verschiedensten,
um die Zukunft unseres Volkslebens besorgten Seiten aus eine nachdrückliche,
aber gerechte Ablehnung erfuhr. Die Kreuzzeitung nannte die Veröffent¬
lichung solcher Artikel "ein Verbrechen an der Jugend", die Frankfurter
Zeitung, die an sich mit der Bewegung sympathisiert, tadelte, daß der "Anfang"
Ausführungen über jugendliche Erotik enthält, "von denen ein moderner Natu¬
ralist noch was lernen könnte". Richard Nordhausen forderte im Tag


„Freideutsche Jugendkultnr"

Besonders hat sich ein Herbert Blumenthal als Herold des „Rechtes auf
Erotik" be — rüchtigt gemacht, indem er dem großen, reichen, gewaltigen, dem
starken, gesunden und unzerstörbaren „Triebleben" der Jugend seinen Hymnus
sang. „Schon steht das Triebleben bei Gruppen der Großstadtjugend unum¬
schränkt im Mittelpunkt des Daseins. Schon ist es zum Unbedingten geworden,
zum absoluten Lebensinhalt. Das zeigt die jüngste Großstadtkunst. Sie ist
rein erotisch. Wir müssen ihr dankbar sein, denn sie schreit es der Welt ins
Gesicht, wie unanständig, wie schamlos die Jugend durch ihre (sie) Unter¬
drückung werden mußte . . . Wir alle, deren bewußtes Streben es ist, an
der Kultur mitzuarbeiten, wir empfinden instinktiv, daß wir das Triebleben als
solches nicht verleugnen dürfen, auch wenn es noch nicht Bestandteil der Kultur
ist. . . Darum find wir so unentwegt positiv, wo es um jugendliche Erotik geht,
so frei von Bedenken, so skrupellos. Wir übernehmen die Erotik mit allem
Drum und Dran an Unkultur in Bausch und Bogen, und wer da nicht mit¬
geht, verfällt der Mißachtung als ein Quietist, ein Totschweiger, ein Feigling,
ein Krüppel. Wir veranstalten Winters und Sommers unsere Feste, die nur
von uns und für uns sind, wir machen den Tanz deutlich erotisch, wir flirten
und lieben, wo wir nur können. Wir schaffen fortwährend neue Gelegenheiten
zur erotischen Geselligkeit der Jugend. Und weil wir deutlich fühlen, es geht
hier um das Prinzip, um die Sache selbst, so nehmen wir Dinge in Kauf,
gegen die wir uns sonst empören: die Häßlichkeit in allen ihren Formen, den
Aufenthalt in stickigen, schwülen, barbarisch dekorierten Sälen; barbarische,
unserem innersten Wesen ganz fremde Tänze, in denen wir direkt mit unserem
Leibe der Roheit und Häßlichkeit dienen . . . Für alles, was uns sonst
empören oder krank machen würde, haben wir auf einmal kein Organ mehr;
denn es geht um unsere Erotik, und also um ein heiliges Gut" (!). Man
begnügt sich nicht mehr mit einer bloß negativen Askese, für die Fr. W. Foerfter
so meisterhafte Anweisungen gibt; nein, eine bloße Verdrängung wäre unnatürlich,
unwahrhaftig, unsittlich; man will das Triebleben positiv gestalten: „Unsere
Erotik soll ein Werkzeug der Schönheit werden, die ein Ausdruck ist des Guten
und der Wahrheit." Im übrigen bekennt auch Wyneken, daß auf diesem Ge¬
biet in der Jugend selbst noch alles gärend, schwankend und suchend ist; nach
seiner Meinung freilich wird mit der Zeit neben dem auch im Wandervogel
bekundeten Streben nach einer neuen geistigen Kameradschaft der Geschlechter
auch die sexuelle Sehnsucht wohl deutlicher hervortreten.

Kein Wunder, daß dieser „Wille zur Sinnlichkeit" von den verschiedensten,
um die Zukunft unseres Volkslebens besorgten Seiten aus eine nachdrückliche,
aber gerechte Ablehnung erfuhr. Die Kreuzzeitung nannte die Veröffent¬
lichung solcher Artikel „ein Verbrechen an der Jugend", die Frankfurter
Zeitung, die an sich mit der Bewegung sympathisiert, tadelte, daß der „Anfang"
Ausführungen über jugendliche Erotik enthält, „von denen ein moderner Natu¬
ralist noch was lernen könnte". Richard Nordhausen forderte im Tag


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/416>, abgerufen am 25.07.2024.