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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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die, hinzugezählt zu den oben angeführten Prozentsummen der ersten Klasse
(4,72 und 3,36 Prozent), wiederum rund die Summe von 10 Prozent der
gesamten Wählerstimmen ergeben.

Dieses so gefundene durchschnittliche Wertverhältnis (10 Prozent der Ver¬
mögenden gleichwertig 90 Prozent der Mindervermögenden) verändert sich nun
noch in einer großen Anzahl von Wahlbezirken sehr beträchtlich zum Vorteil
der Meistbesitzenden. Um nur die hervorstechendsten Abweichungen anzuführen,
so sind im Wahljahre 1908 nach der Statistik unter den 29 028 Urwasi°
bezirken nicht weniger als 2214 Bezirke vorhanden gewesen, in denen die erste
Klasse nur von einem Urwähler gebildet wurde; da in diesem Wahljahre auf
jeden Urbezirk durchschnittlich 265 Urwähler kamen, so ergibt sich also sür jene
Bezirke -- unter Voraussetzung nur jener Normalziffer -- die Tatsache, daß
die einzelne Stimme des einen Urwählers der ersten Klasse denselben Wert
darstellt wie die etwa 230 bis 240 Urwählerstimmen der dritten Klasse. Daß
aber diese Abweichungen vornehmlich auf dem Lande zu finden sind, dürfte bei
den obwaltenden sozialen Verhältnissen ohne weiteres ersichtlich sein.

Neben diesen gewaltigen Unterschieden in der Bewertung der einzelnen
Stimmen treten die übrigen Eigenheiten des Systems, die Öffentlichkeit und die
Indirektheit der Wahl, in der Gesamtbeurteilung ein wenig zurück, sind aber
selbstverständlich gebührend mit in Anschlag zu bringen, wenn man die durch¬
aus abfällige Kritik verstehen und würdigen will, die das System von jeher
von seiten aller der Parteien, die durch seine Bestimmungen keinen direkten
Vorteil erlangen, erfahren hat.

Und in der Tat! Jeder Objektivdenkende kann in der Öffentlichkeit der
Wahl nur eine Art Beaufsichtigung der Wähler erkennen, der ideale Hinweis,
daß man von jedem Wähler den Mut fordern müsse, seine politische Über¬
zeugung offen zu bekennen, zerschellt an der brutalen Macht der sehr realen
Tatsache, daß manchem Familienvater dieses offene Bekenntnis seine Existenz ge¬
kostet hat, so daß man es verstehen kann, wenn infolge dieser Realität sehr viele
Wahlberechtigte es vorziehen, ihr Wahlrecht überhaupt nicht auszuüben. Denn
sicher ist vornehmlich in der Öffentlichkeit der Stimmabgabe der Grund für die
auffallend geringe Beteiligung zu finden, die im Gegensatz zur Reichstagswahl
eine ständige Erscheinung bei den Dreiklassenwahlen gewesen ist: bei den Wahlen
vom Jahre 1908 beteiligten sich in der ersten Klasse nur 53 Prozent der
Wähler, in der zweiten 42,9 und in der dritten gar nur 30,2 Prozent. Und
dabei war die Gesamtbeteiligung bei dieser Wahl infolge des zum erstenmal
erfolgenden energischen Eingreifens der Sozialdemokratie eine ungleich regere
als bei den früheren Wahlen; so gaben z. B. in den Jahren 1893 und 1898
in der dritten Klasse nur 15 Prozent der Gesamtwähler ihre Stimmen ab.

So also sieht, in knappen Umrissen gezeichnet, das Dreiklassenwahlrecht
aus, von dem einst Bismarck das geflügelte Wort geprägt hat, daß ein wider¬
sinnigeres und elenderes Wahlrecht in irgendeinem Staate wohl nicht ausgedacht


die, hinzugezählt zu den oben angeführten Prozentsummen der ersten Klasse
(4,72 und 3,36 Prozent), wiederum rund die Summe von 10 Prozent der
gesamten Wählerstimmen ergeben.

Dieses so gefundene durchschnittliche Wertverhältnis (10 Prozent der Ver¬
mögenden gleichwertig 90 Prozent der Mindervermögenden) verändert sich nun
noch in einer großen Anzahl von Wahlbezirken sehr beträchtlich zum Vorteil
der Meistbesitzenden. Um nur die hervorstechendsten Abweichungen anzuführen,
so sind im Wahljahre 1908 nach der Statistik unter den 29 028 Urwasi°
bezirken nicht weniger als 2214 Bezirke vorhanden gewesen, in denen die erste
Klasse nur von einem Urwähler gebildet wurde; da in diesem Wahljahre auf
jeden Urbezirk durchschnittlich 265 Urwähler kamen, so ergibt sich also sür jene
Bezirke — unter Voraussetzung nur jener Normalziffer — die Tatsache, daß
die einzelne Stimme des einen Urwählers der ersten Klasse denselben Wert
darstellt wie die etwa 230 bis 240 Urwählerstimmen der dritten Klasse. Daß
aber diese Abweichungen vornehmlich auf dem Lande zu finden sind, dürfte bei
den obwaltenden sozialen Verhältnissen ohne weiteres ersichtlich sein.

Neben diesen gewaltigen Unterschieden in der Bewertung der einzelnen
Stimmen treten die übrigen Eigenheiten des Systems, die Öffentlichkeit und die
Indirektheit der Wahl, in der Gesamtbeurteilung ein wenig zurück, sind aber
selbstverständlich gebührend mit in Anschlag zu bringen, wenn man die durch¬
aus abfällige Kritik verstehen und würdigen will, die das System von jeher
von seiten aller der Parteien, die durch seine Bestimmungen keinen direkten
Vorteil erlangen, erfahren hat.

Und in der Tat! Jeder Objektivdenkende kann in der Öffentlichkeit der
Wahl nur eine Art Beaufsichtigung der Wähler erkennen, der ideale Hinweis,
daß man von jedem Wähler den Mut fordern müsse, seine politische Über¬
zeugung offen zu bekennen, zerschellt an der brutalen Macht der sehr realen
Tatsache, daß manchem Familienvater dieses offene Bekenntnis seine Existenz ge¬
kostet hat, so daß man es verstehen kann, wenn infolge dieser Realität sehr viele
Wahlberechtigte es vorziehen, ihr Wahlrecht überhaupt nicht auszuüben. Denn
sicher ist vornehmlich in der Öffentlichkeit der Stimmabgabe der Grund für die
auffallend geringe Beteiligung zu finden, die im Gegensatz zur Reichstagswahl
eine ständige Erscheinung bei den Dreiklassenwahlen gewesen ist: bei den Wahlen
vom Jahre 1908 beteiligten sich in der ersten Klasse nur 53 Prozent der
Wähler, in der zweiten 42,9 und in der dritten gar nur 30,2 Prozent. Und
dabei war die Gesamtbeteiligung bei dieser Wahl infolge des zum erstenmal
erfolgenden energischen Eingreifens der Sozialdemokratie eine ungleich regere
als bei den früheren Wahlen; so gaben z. B. in den Jahren 1893 und 1898
in der dritten Klasse nur 15 Prozent der Gesamtwähler ihre Stimmen ab.

So also sieht, in knappen Umrissen gezeichnet, das Dreiklassenwahlrecht
aus, von dem einst Bismarck das geflügelte Wort geprägt hat, daß ein wider¬
sinnigeres und elenderes Wahlrecht in irgendeinem Staate wohl nicht ausgedacht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/400>, abgerufen am 21.06.2024.