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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Wachsen zu sein; schlicht, wahr, innig reden
sie zu uns; sie schlagen gleichsam treue blaue
Augen auf. Leider wurde in dieses Buch
manches aufgenommen, was allzusehr nach
Gelegenheitsreimereien klingt; aber einige
Lieder wie "Meine Sehnsucht", "Schlummer¬
lied, auf der Wiese zu singen", "Abend",
"Sommerklage", "Herbstliche Fülle", "Glück",
"Tiefe Stunde", "Von Glück und Tod" lassen
in der Seele ein tiefes Nachzittern zurück.
Immerhin vergesse man nie: hier ist nur ein
jäh abgebrochener Beginn, keine Vollendung;
nur ein Vorlcnz, dem die herbstliche Reife
ferngeblieben ist. -- Besonnener, abgeklärter
stellt sich Hans Cavossa dar in seinen "Ge¬
dichten" (Leipzig. Insel-Verlag). Namentlich
in kurzer, prägnanter Form gibt er manches
Feine, manches Zartabgetönte und Gesammelte.
"Nachtlied", "Sternenlied", "Und wie manche
Nacht", "Als ich in die Schlucht stieg",
"Übern Gewitter", "Ausblick", erscheinen mir
als die besten Stücke des schmalen Heftes.
Dagegen verliert er sich leicht, wenn er weiter
ausholt; dann fühlt man, daß ihm die Kraft
und Fülle zur Gestaltung mangelt. Es ist
sicherlich eine erlebte Kunst, die hier nach
Ausdruck drängt, und darum berühren die
Gedichte sympathisch und ehrlich. Das "Nacht¬
lied" sei hier wiedergegeben:

Finsternisse fallen dichter
Auf Gebirge, Stadt und Tal.
Doch schon blinken ruhige Lichter
Tief aus Fenstern ohne Zahl.
Immer klarer, immer milder
Längs des Stroms gebognen: Lauf
Weisen irdische Sternenbilder
Nun zu himmlischen hinauf.

Ernst Bertrams "Gedichte" (Leipzig,
Insel-Verlag) zeigen noch mehr bewußtes
Können. Er liebt eS, Kunstgegenstände zu
beschreiben: eine Fuge, ein Konzert für zwei
Violinen, eine Orgel, ein Münster, Statuen,
einen Teppich, einen Kelch oder einen Krug,
und er redet mehr darüber, als daß er sie
gestaltet. Aber seine Art ist bornehm, ge¬
lassen, ohne doch allzu stark dem rein Ar¬
tistischen zuzuneigen. Er gemahnt mitunter
an Rittes neue Gedichte, die er indessen
keineswegs nachahmt (z. B.: "Der Er¬

[Spaltenumbruch]

blindete"). Man findet bei Bertram starke
Zeilen, wie den Schluß des "Magnetbcrgs":

oder kleine, abgerundete Kostbarkeiten, wie
"Die Stadt". Im ganzen darf man Wohl
sagen, daß es eine Lyrik aus zweiter Quelle
ist; etwas destilliert und ernüchtert. Ich
möchte, der Dichter sähe die Dinge noch un¬
mittelbarer, freudiger, unbefangener an. Gewiß
hat er eine Zukunft, wenn er die Freiluft
dem Atelierlichte borzieht. Starke Verheißung
scheint mir auch die "Erste Ernte" von
Friedrich Otto zu bergen (Berlin, Reutz und
Pollack). Noch hat sich viel Unreifes, Un¬
ausgeglichenes mit eingeschlichen, manches
Tastende, Unsichere, wie denn überhaupt fast
in jedem Gedichte irgendeine Ausstellung an¬
gebracht wäre. Es ist schade, daß ich nicht
näher darauf eingehen kann. Otto blickt mit
klaren Augen in die Welt; er sucht Berlin in
seinen wechselnden Gestalten zu begreifen und
liebt doch auch die versteckten Winkel und
Dörfer. Gegen Ende des Buches finden sich
einige Sonette, die am besten beweisen, was
er zu geben vermag und was ihm noch fehlt.
Die meisten beginnen mit innerlich starken
Zeilen und enden in einem auffallenden
cZsLi sseenclo. Es ist, als ob dem Dichter
der Atem ausginge. Und trotzdem: hier ringt
sich eigene Kraft empor, hier sucht eine Per¬
sönlichkeit nach Ausdruck, der man Gutes
versprechen kann, wenn sie sich zielsicher und
langsam entwickelt. "Kleinstadt", "Im Ge¬
stellweg", "Vor langer Zeit", "Im November",
"Glück und Glas" z. B. enthalten außer¬
gewöhnliche Zeilen, scharf gesehene Bilder,
die man gern im Gedächtnis bewahrt. Nur
kurz erwähne ich ein neues Buch von Gustav
Falke, "Anna" (Hamburg, Alfred Jansen).
Die keusche, entsagende Liebe zu einem jungen
Mädchen, die schon in dem früheren Bande
"Mit dem Leben" so reine, schimmernde
Blüten hervorzauberte, klingt hier noch ein¬
mal auf in schlichten, tagebuchartigen, reim¬
losen Freiversen, die Falke Wohl selbst nur
als Intermezzo, als sanften Nachklang be-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Wachsen zu sein; schlicht, wahr, innig reden
sie zu uns; sie schlagen gleichsam treue blaue
Augen auf. Leider wurde in dieses Buch
manches aufgenommen, was allzusehr nach
Gelegenheitsreimereien klingt; aber einige
Lieder wie „Meine Sehnsucht", „Schlummer¬
lied, auf der Wiese zu singen", „Abend",
„Sommerklage", „Herbstliche Fülle", „Glück",
„Tiefe Stunde", „Von Glück und Tod" lassen
in der Seele ein tiefes Nachzittern zurück.
Immerhin vergesse man nie: hier ist nur ein
jäh abgebrochener Beginn, keine Vollendung;
nur ein Vorlcnz, dem die herbstliche Reife
ferngeblieben ist. — Besonnener, abgeklärter
stellt sich Hans Cavossa dar in seinen „Ge¬
dichten" (Leipzig. Insel-Verlag). Namentlich
in kurzer, prägnanter Form gibt er manches
Feine, manches Zartabgetönte und Gesammelte.
„Nachtlied", „Sternenlied", „Und wie manche
Nacht", „Als ich in die Schlucht stieg",
„Übern Gewitter", „Ausblick", erscheinen mir
als die besten Stücke des schmalen Heftes.
Dagegen verliert er sich leicht, wenn er weiter
ausholt; dann fühlt man, daß ihm die Kraft
und Fülle zur Gestaltung mangelt. Es ist
sicherlich eine erlebte Kunst, die hier nach
Ausdruck drängt, und darum berühren die
Gedichte sympathisch und ehrlich. Das „Nacht¬
lied" sei hier wiedergegeben:

Finsternisse fallen dichter
Auf Gebirge, Stadt und Tal.
Doch schon blinken ruhige Lichter
Tief aus Fenstern ohne Zahl.
Immer klarer, immer milder
Längs des Stroms gebognen: Lauf
Weisen irdische Sternenbilder
Nun zu himmlischen hinauf.

Ernst Bertrams „Gedichte" (Leipzig,
Insel-Verlag) zeigen noch mehr bewußtes
Können. Er liebt eS, Kunstgegenstände zu
beschreiben: eine Fuge, ein Konzert für zwei
Violinen, eine Orgel, ein Münster, Statuen,
einen Teppich, einen Kelch oder einen Krug,
und er redet mehr darüber, als daß er sie
gestaltet. Aber seine Art ist bornehm, ge¬
lassen, ohne doch allzu stark dem rein Ar¬
tistischen zuzuneigen. Er gemahnt mitunter
an Rittes neue Gedichte, die er indessen
keineswegs nachahmt (z. B.: „Der Er¬

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blindete"). Man findet bei Bertram starke
Zeilen, wie den Schluß des „Magnetbcrgs":

oder kleine, abgerundete Kostbarkeiten, wie
„Die Stadt". Im ganzen darf man Wohl
sagen, daß es eine Lyrik aus zweiter Quelle
ist; etwas destilliert und ernüchtert. Ich
möchte, der Dichter sähe die Dinge noch un¬
mittelbarer, freudiger, unbefangener an. Gewiß
hat er eine Zukunft, wenn er die Freiluft
dem Atelierlichte borzieht. Starke Verheißung
scheint mir auch die „Erste Ernte" von
Friedrich Otto zu bergen (Berlin, Reutz und
Pollack). Noch hat sich viel Unreifes, Un¬
ausgeglichenes mit eingeschlichen, manches
Tastende, Unsichere, wie denn überhaupt fast
in jedem Gedichte irgendeine Ausstellung an¬
gebracht wäre. Es ist schade, daß ich nicht
näher darauf eingehen kann. Otto blickt mit
klaren Augen in die Welt; er sucht Berlin in
seinen wechselnden Gestalten zu begreifen und
liebt doch auch die versteckten Winkel und
Dörfer. Gegen Ende des Buches finden sich
einige Sonette, die am besten beweisen, was
er zu geben vermag und was ihm noch fehlt.
Die meisten beginnen mit innerlich starken
Zeilen und enden in einem auffallenden
cZsLi sseenclo. Es ist, als ob dem Dichter
der Atem ausginge. Und trotzdem: hier ringt
sich eigene Kraft empor, hier sucht eine Per¬
sönlichkeit nach Ausdruck, der man Gutes
versprechen kann, wenn sie sich zielsicher und
langsam entwickelt. „Kleinstadt", „Im Ge¬
stellweg", „Vor langer Zeit", „Im November",
„Glück und Glas" z. B. enthalten außer¬
gewöhnliche Zeilen, scharf gesehene Bilder,
die man gern im Gedächtnis bewahrt. Nur
kurz erwähne ich ein neues Buch von Gustav
Falke, „Anna" (Hamburg, Alfred Jansen).
Die keusche, entsagende Liebe zu einem jungen
Mädchen, die schon in dem früheren Bande
„Mit dem Leben" so reine, schimmernde
Blüten hervorzauberte, klingt hier noch ein¬
mal auf in schlichten, tagebuchartigen, reim¬
losen Freiversen, die Falke Wohl selbst nur
als Intermezzo, als sanften Nachklang be-

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[0392] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wachsen zu sein; schlicht, wahr, innig reden sie zu uns; sie schlagen gleichsam treue blaue Augen auf. Leider wurde in dieses Buch manches aufgenommen, was allzusehr nach Gelegenheitsreimereien klingt; aber einige Lieder wie „Meine Sehnsucht", „Schlummer¬ lied, auf der Wiese zu singen", „Abend", „Sommerklage", „Herbstliche Fülle", „Glück", „Tiefe Stunde", „Von Glück und Tod" lassen in der Seele ein tiefes Nachzittern zurück. Immerhin vergesse man nie: hier ist nur ein jäh abgebrochener Beginn, keine Vollendung; nur ein Vorlcnz, dem die herbstliche Reife ferngeblieben ist. — Besonnener, abgeklärter stellt sich Hans Cavossa dar in seinen „Ge¬ dichten" (Leipzig. Insel-Verlag). Namentlich in kurzer, prägnanter Form gibt er manches Feine, manches Zartabgetönte und Gesammelte. „Nachtlied", „Sternenlied", „Und wie manche Nacht", „Als ich in die Schlucht stieg", „Übern Gewitter", „Ausblick", erscheinen mir als die besten Stücke des schmalen Heftes. Dagegen verliert er sich leicht, wenn er weiter ausholt; dann fühlt man, daß ihm die Kraft und Fülle zur Gestaltung mangelt. Es ist sicherlich eine erlebte Kunst, die hier nach Ausdruck drängt, und darum berühren die Gedichte sympathisch und ehrlich. Das „Nacht¬ lied" sei hier wiedergegeben: Finsternisse fallen dichter Auf Gebirge, Stadt und Tal. Doch schon blinken ruhige Lichter Tief aus Fenstern ohne Zahl. Immer klarer, immer milder Längs des Stroms gebognen: Lauf Weisen irdische Sternenbilder Nun zu himmlischen hinauf. Ernst Bertrams „Gedichte" (Leipzig, Insel-Verlag) zeigen noch mehr bewußtes Können. Er liebt eS, Kunstgegenstände zu beschreiben: eine Fuge, ein Konzert für zwei Violinen, eine Orgel, ein Münster, Statuen, einen Teppich, einen Kelch oder einen Krug, und er redet mehr darüber, als daß er sie gestaltet. Aber seine Art ist bornehm, ge¬ lassen, ohne doch allzu stark dem rein Ar¬ tistischen zuzuneigen. Er gemahnt mitunter an Rittes neue Gedichte, die er indessen keineswegs nachahmt (z. B.: „Der Er¬ blindete"). Man findet bei Bertram starke Zeilen, wie den Schluß des „Magnetbcrgs": oder kleine, abgerundete Kostbarkeiten, wie „Die Stadt". Im ganzen darf man Wohl sagen, daß es eine Lyrik aus zweiter Quelle ist; etwas destilliert und ernüchtert. Ich möchte, der Dichter sähe die Dinge noch un¬ mittelbarer, freudiger, unbefangener an. Gewiß hat er eine Zukunft, wenn er die Freiluft dem Atelierlichte borzieht. Starke Verheißung scheint mir auch die „Erste Ernte" von Friedrich Otto zu bergen (Berlin, Reutz und Pollack). Noch hat sich viel Unreifes, Un¬ ausgeglichenes mit eingeschlichen, manches Tastende, Unsichere, wie denn überhaupt fast in jedem Gedichte irgendeine Ausstellung an¬ gebracht wäre. Es ist schade, daß ich nicht näher darauf eingehen kann. Otto blickt mit klaren Augen in die Welt; er sucht Berlin in seinen wechselnden Gestalten zu begreifen und liebt doch auch die versteckten Winkel und Dörfer. Gegen Ende des Buches finden sich einige Sonette, die am besten beweisen, was er zu geben vermag und was ihm noch fehlt. Die meisten beginnen mit innerlich starken Zeilen und enden in einem auffallenden cZsLi sseenclo. Es ist, als ob dem Dichter der Atem ausginge. Und trotzdem: hier ringt sich eigene Kraft empor, hier sucht eine Per¬ sönlichkeit nach Ausdruck, der man Gutes versprechen kann, wenn sie sich zielsicher und langsam entwickelt. „Kleinstadt", „Im Ge¬ stellweg", „Vor langer Zeit", „Im November", „Glück und Glas" z. B. enthalten außer¬ gewöhnliche Zeilen, scharf gesehene Bilder, die man gern im Gedächtnis bewahrt. Nur kurz erwähne ich ein neues Buch von Gustav Falke, „Anna" (Hamburg, Alfred Jansen). Die keusche, entsagende Liebe zu einem jungen Mädchen, die schon in dem früheren Bande „Mit dem Leben" so reine, schimmernde Blüten hervorzauberte, klingt hier noch ein¬ mal auf in schlichten, tagebuchartigen, reim¬ losen Freiversen, die Falke Wohl selbst nur als Intermezzo, als sanften Nachklang be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/392>, abgerufen am 21.06.2024.