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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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"Freideutschc Jugendkultur"

dauernden Wert beansprucht durch die in ihrem ersten Teil niedergelegten
programmatischen Bekenntnisse der zusammengeschlossenen Verbände, und die
jedenfalls den Geist deutlich kennzeichnet, der das Fest und die Festfeiernden
durchdrang und durchdringen sollte. Die erste Seite dieser "Festgabe" an die
Jugend ziert ein großes Bild von "vorbildlicher Nacktheit", Jünglinge und
Mädchen mit möglichst deutlichem Geschlechtscharakter. Im zweiten Teil stellen
sich Universitätsprofessoren (z. B. Cornelius Gurlitt, Kühnemann, Natorp,
Alfred Weber, Jott), Dichter und Künstler (Eulenberg, Henckell, H. Obrist,
Ulrich, Rauscher, L. Thoma u. a.), Pädagogen (Ludwig Gurlitt, Kerschen-
steiner, H. A. Krüger, Wyneken), Politiker (Delbrück, Potthoff) und Journalisten
(E. Diederichs, Avenarius) dieser freideutschen Jugend mit "Freundesworteu"
an die Seite*).

Ein Herr Fidus begeistert sich und seine jungen Leser für die Nacktkultur,
die freilich erst allmählich eingeführt werden könne; Gertrud Prellwitz ("Die
Ehe und die neue Zeit") fordert eine neue Form der Ehe: "Wenn die edlen,
jungen Kräfte der Quelle der Liebe nahen, da starrt ihnen etwas Todfremd-
Feindliches entgegen: die heutige Form der Ehe." Die Religion als ein Mittel
der Erziehung und die Säule für eine Welt- und Lebensanschauung wird nur
durch Hans Delbrück gerettet, der seine Betrachtungen nicht schließen will, "ohne
ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß das Letzte und Tiefste über die Persön¬
lichkeit und die Aufgaben unserer Zeit doch noch nicht gesagt worden ist
und nicht gesagt werden kann ohne die Heranziehung der Religion." Um so
mehr ist von dem werdenden Gott in der eigenen Brust die Rede. Im übrigen
spielt die Religion in diesen "Freundesworten" für die Jugend gar keine -- oder
höchstens eine unheilvolle -- Rolle. Sie ist ein Schädling der Selbsterziehung,
eine Vergewaltigung der jugendlichen und menschlichen Natur, eine Fremd¬
herrschaft, gegen die der kürzlich verstorbene Vertreter der ethischen Kultur,
Prof. Jott in Wien, zum Befreiungskampf aufruft: "Los vom alten Dogmen¬
glauben! Hin zum Menschheitsglauben!"

Welch heillose Verwirrung des Denkens und Gewissens derartige Gedanken
und Ratschläge aus dem Munde namhafter Persönlichkeiten in den Köpfen
dieser unsicheren, unfertigen Jugend anrichten, welch unsägliches Unglück damit
über Elternhaus und Schularbeit gebracht werden kann, beleuchtet "Eine Frage"
eines Münchener Primaners, die im Dezemberheft des "Anfangs" gestellt wurde
und unter Berufung auf Jodls, Gurlitts und Pichts Dogmatik Antwort heischt
auf die Not der Schuljugend: Sollen wir wahr sein? Sollen wir z. B.
künftighin uns weigern, zu beichten, die Schulgebete mitzumachen, in den kon¬
fessionellen Religionsunterricht zu gehen oder wenigstens in ihm zu heucheln,
uns gegen unsere Überzeugung kirchlich konfirmieren zu lassen? Wenn wir das



*) Es darf angenommen werden, daß einige dieser Persönlichkeiten im Mißverständnis
der Wynekenschen Einladung oder in Unkenntnis der tieferen Zusammenhänge ihre Grüße
und Vertrauenskundgebungen abgegeben haben.
„Freideutschc Jugendkultur"

dauernden Wert beansprucht durch die in ihrem ersten Teil niedergelegten
programmatischen Bekenntnisse der zusammengeschlossenen Verbände, und die
jedenfalls den Geist deutlich kennzeichnet, der das Fest und die Festfeiernden
durchdrang und durchdringen sollte. Die erste Seite dieser „Festgabe" an die
Jugend ziert ein großes Bild von „vorbildlicher Nacktheit", Jünglinge und
Mädchen mit möglichst deutlichem Geschlechtscharakter. Im zweiten Teil stellen
sich Universitätsprofessoren (z. B. Cornelius Gurlitt, Kühnemann, Natorp,
Alfred Weber, Jott), Dichter und Künstler (Eulenberg, Henckell, H. Obrist,
Ulrich, Rauscher, L. Thoma u. a.), Pädagogen (Ludwig Gurlitt, Kerschen-
steiner, H. A. Krüger, Wyneken), Politiker (Delbrück, Potthoff) und Journalisten
(E. Diederichs, Avenarius) dieser freideutschen Jugend mit „Freundesworteu"
an die Seite*).

Ein Herr Fidus begeistert sich und seine jungen Leser für die Nacktkultur,
die freilich erst allmählich eingeführt werden könne; Gertrud Prellwitz („Die
Ehe und die neue Zeit") fordert eine neue Form der Ehe: „Wenn die edlen,
jungen Kräfte der Quelle der Liebe nahen, da starrt ihnen etwas Todfremd-
Feindliches entgegen: die heutige Form der Ehe." Die Religion als ein Mittel
der Erziehung und die Säule für eine Welt- und Lebensanschauung wird nur
durch Hans Delbrück gerettet, der seine Betrachtungen nicht schließen will, „ohne
ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß das Letzte und Tiefste über die Persön¬
lichkeit und die Aufgaben unserer Zeit doch noch nicht gesagt worden ist
und nicht gesagt werden kann ohne die Heranziehung der Religion." Um so
mehr ist von dem werdenden Gott in der eigenen Brust die Rede. Im übrigen
spielt die Religion in diesen „Freundesworten" für die Jugend gar keine — oder
höchstens eine unheilvolle — Rolle. Sie ist ein Schädling der Selbsterziehung,
eine Vergewaltigung der jugendlichen und menschlichen Natur, eine Fremd¬
herrschaft, gegen die der kürzlich verstorbene Vertreter der ethischen Kultur,
Prof. Jott in Wien, zum Befreiungskampf aufruft: „Los vom alten Dogmen¬
glauben! Hin zum Menschheitsglauben!"

Welch heillose Verwirrung des Denkens und Gewissens derartige Gedanken
und Ratschläge aus dem Munde namhafter Persönlichkeiten in den Köpfen
dieser unsicheren, unfertigen Jugend anrichten, welch unsägliches Unglück damit
über Elternhaus und Schularbeit gebracht werden kann, beleuchtet „Eine Frage"
eines Münchener Primaners, die im Dezemberheft des „Anfangs" gestellt wurde
und unter Berufung auf Jodls, Gurlitts und Pichts Dogmatik Antwort heischt
auf die Not der Schuljugend: Sollen wir wahr sein? Sollen wir z. B.
künftighin uns weigern, zu beichten, die Schulgebete mitzumachen, in den kon¬
fessionellen Religionsunterricht zu gehen oder wenigstens in ihm zu heucheln,
uns gegen unsere Überzeugung kirchlich konfirmieren zu lassen? Wenn wir das



*) Es darf angenommen werden, daß einige dieser Persönlichkeiten im Mißverständnis
der Wynekenschen Einladung oder in Unkenntnis der tieferen Zusammenhänge ihre Grüße
und Vertrauenskundgebungen abgegeben haben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/364>, abgerufen am 21.06.2024.