Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

sondern auch der Reichshaushalt nur mit einer Verspätung von sieben Wochen
verabschiedet werden konnte, so trägt daran zum guten Teil der Mißbrauch
Schuld, der von einigen Fraktionen mit den kurzen Anfragen getrieben wurde.

Die Beobachtung, wie wenig der gegenwärtige Reichstag sich befähigt
erwies, seine parlamentarischen Erfolge auszunutzen, mag Herrn von Bethmann in
der von ihm bevorzugten Politik des Abwartens und Lavierens gegenüber der so¬
genannten Linksmehrheit, auf deren bedenkliche Seiten an dieser Stelle wiederholt
hingewiesen wurde, bestärkt haben. Anders wäre es nicht zu verstehen, warum
der Herr Reichskanzler dem Treiben mit so unnachahmlicher Kühle zugesehen
und die wohlmeinenden Dränger von rechts nicht immer freundlich zurück¬
gewiesen hat. Selbst dem Toben der ersten Zaberndebatten hat er einen
Gleichmut entgegengesetzt, der -- heute darf es ausgesprochen werden -- für
viele fast beleidigend wirkte. Heute, nach der Schließung der Session, wird
man die Politik des Kanzlers schon eher verstehen. Sie ist wenigstens folge¬
richtig. Augenscheinlich ist die Regierung froh, einen Reichstag zu haben, der
bisher in wichtigen Fragen nicht versagt hat, und kümmert sich um weiter¬
reichende Entwicklungsmöglichkeiten gar nicht.

Eine Neichstagsauflösung, wie sie vielfach gefordert wurde, um den
Sozialdemokraten einige Mandate abzunehmen, hätte bei einem solchen Stand¬
punkt der Regierung vielleicht Sinn gehabt, wenn es sich darum handelte,
für große Aufgaben des Parlaments eine absolut sichere Mehrheit zu bekommen.
Wer aber wollte für einen solchen Ausgang der Wahl bürgen? Für die
wichtigen Lebensfragen der Nation sind die Mehrheiten vorhanden: für Heer
und Flotte bewilligte dieser Reichstag alles was bedeutungsvoll ist; es sei nur
an die glatten Bewilligungen über den ordentlichen Etat hinaus mit Einschluß
des einmaligen Wehrbeitrags erinnert; auch die Verschärfung des Spionage¬
gesetzes gehört dazu; für die bevorstehenden Handelsvertragsverhandlungen ist
gleichfalls eine Schutzzollmehrheit vorhanden. Die Regierung hätte somit durch
eine Reichstagsauflösung Chancen preisgegeben, ohne eine sicherere dafür einzu¬
tauschen. Das aber konnte angesichts der Verfeindung der bürgerlichen
Parteien unter sich ein Kampf gegen die Sozialdemokratie nicht wert sein.
Die politische Taktik des Reichskanzlers hat sich ohne Zweifel bisher und
bis zu gewissen Grenzen bewährt. Diese Erkenntnis von der Überlegen¬
heit der Regierung wird bei der "Linksmehrheit" des Reichstags in erster
Linie jene Empfindungen ausgelöst haben, die mit Katerstimmung am besten
gekennzeichnet sind.

Unter den kurz skizzierten Umständen will es mir scheinen, erfolgte auch
die Schließung der Session in dem psychologisch richtigen Momente nicht nur
vom Standpunkt der Negierung, sondern auch vom Standpunkt des Reichstages
aus. Sie liegt geradezu im Interesse des Ansehens der Volksvertretung, auch
derjenigen Abgeordneten, die entschiedene Anhänger des parlamentarischen
Systems sind, ohne deshalb gleich Revolutionäre zu sein. Es galt reinen


sondern auch der Reichshaushalt nur mit einer Verspätung von sieben Wochen
verabschiedet werden konnte, so trägt daran zum guten Teil der Mißbrauch
Schuld, der von einigen Fraktionen mit den kurzen Anfragen getrieben wurde.

Die Beobachtung, wie wenig der gegenwärtige Reichstag sich befähigt
erwies, seine parlamentarischen Erfolge auszunutzen, mag Herrn von Bethmann in
der von ihm bevorzugten Politik des Abwartens und Lavierens gegenüber der so¬
genannten Linksmehrheit, auf deren bedenkliche Seiten an dieser Stelle wiederholt
hingewiesen wurde, bestärkt haben. Anders wäre es nicht zu verstehen, warum
der Herr Reichskanzler dem Treiben mit so unnachahmlicher Kühle zugesehen
und die wohlmeinenden Dränger von rechts nicht immer freundlich zurück¬
gewiesen hat. Selbst dem Toben der ersten Zaberndebatten hat er einen
Gleichmut entgegengesetzt, der — heute darf es ausgesprochen werden — für
viele fast beleidigend wirkte. Heute, nach der Schließung der Session, wird
man die Politik des Kanzlers schon eher verstehen. Sie ist wenigstens folge¬
richtig. Augenscheinlich ist die Regierung froh, einen Reichstag zu haben, der
bisher in wichtigen Fragen nicht versagt hat, und kümmert sich um weiter¬
reichende Entwicklungsmöglichkeiten gar nicht.

Eine Neichstagsauflösung, wie sie vielfach gefordert wurde, um den
Sozialdemokraten einige Mandate abzunehmen, hätte bei einem solchen Stand¬
punkt der Regierung vielleicht Sinn gehabt, wenn es sich darum handelte,
für große Aufgaben des Parlaments eine absolut sichere Mehrheit zu bekommen.
Wer aber wollte für einen solchen Ausgang der Wahl bürgen? Für die
wichtigen Lebensfragen der Nation sind die Mehrheiten vorhanden: für Heer
und Flotte bewilligte dieser Reichstag alles was bedeutungsvoll ist; es sei nur
an die glatten Bewilligungen über den ordentlichen Etat hinaus mit Einschluß
des einmaligen Wehrbeitrags erinnert; auch die Verschärfung des Spionage¬
gesetzes gehört dazu; für die bevorstehenden Handelsvertragsverhandlungen ist
gleichfalls eine Schutzzollmehrheit vorhanden. Die Regierung hätte somit durch
eine Reichstagsauflösung Chancen preisgegeben, ohne eine sicherere dafür einzu¬
tauschen. Das aber konnte angesichts der Verfeindung der bürgerlichen
Parteien unter sich ein Kampf gegen die Sozialdemokratie nicht wert sein.
Die politische Taktik des Reichskanzlers hat sich ohne Zweifel bisher und
bis zu gewissen Grenzen bewährt. Diese Erkenntnis von der Überlegen¬
heit der Regierung wird bei der „Linksmehrheit" des Reichstags in erster
Linie jene Empfindungen ausgelöst haben, die mit Katerstimmung am besten
gekennzeichnet sind.

Unter den kurz skizzierten Umständen will es mir scheinen, erfolgte auch
die Schließung der Session in dem psychologisch richtigen Momente nicht nur
vom Standpunkt der Negierung, sondern auch vom Standpunkt des Reichstages
aus. Sie liegt geradezu im Interesse des Ansehens der Volksvertretung, auch
derjenigen Abgeordneten, die entschiedene Anhänger des parlamentarischen
Systems sind, ohne deshalb gleich Revolutionäre zu sein. Es galt reinen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328452"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1457" prev="#ID_1456"> sondern auch der Reichshaushalt nur mit einer Verspätung von sieben Wochen<lb/>
verabschiedet werden konnte, so trägt daran zum guten Teil der Mißbrauch<lb/>
Schuld, der von einigen Fraktionen mit den kurzen Anfragen getrieben wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1458"> Die Beobachtung, wie wenig der gegenwärtige Reichstag sich befähigt<lb/>
erwies, seine parlamentarischen Erfolge auszunutzen, mag Herrn von Bethmann in<lb/>
der von ihm bevorzugten Politik des Abwartens und Lavierens gegenüber der so¬<lb/>
genannten Linksmehrheit, auf deren bedenkliche Seiten an dieser Stelle wiederholt<lb/>
hingewiesen wurde, bestärkt haben. Anders wäre es nicht zu verstehen, warum<lb/>
der Herr Reichskanzler dem Treiben mit so unnachahmlicher Kühle zugesehen<lb/>
und die wohlmeinenden Dränger von rechts nicht immer freundlich zurück¬<lb/>
gewiesen hat. Selbst dem Toben der ersten Zaberndebatten hat er einen<lb/>
Gleichmut entgegengesetzt, der &#x2014; heute darf es ausgesprochen werden &#x2014; für<lb/>
viele fast beleidigend wirkte. Heute, nach der Schließung der Session, wird<lb/>
man die Politik des Kanzlers schon eher verstehen. Sie ist wenigstens folge¬<lb/>
richtig. Augenscheinlich ist die Regierung froh, einen Reichstag zu haben, der<lb/>
bisher in wichtigen Fragen nicht versagt hat, und kümmert sich um weiter¬<lb/>
reichende Entwicklungsmöglichkeiten gar nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1459"> Eine Neichstagsauflösung, wie sie vielfach gefordert wurde, um den<lb/>
Sozialdemokraten einige Mandate abzunehmen, hätte bei einem solchen Stand¬<lb/>
punkt der Regierung vielleicht Sinn gehabt, wenn es sich darum handelte,<lb/>
für große Aufgaben des Parlaments eine absolut sichere Mehrheit zu bekommen.<lb/>
Wer aber wollte für einen solchen Ausgang der Wahl bürgen? Für die<lb/>
wichtigen Lebensfragen der Nation sind die Mehrheiten vorhanden: für Heer<lb/>
und Flotte bewilligte dieser Reichstag alles was bedeutungsvoll ist; es sei nur<lb/>
an die glatten Bewilligungen über den ordentlichen Etat hinaus mit Einschluß<lb/>
des einmaligen Wehrbeitrags erinnert; auch die Verschärfung des Spionage¬<lb/>
gesetzes gehört dazu; für die bevorstehenden Handelsvertragsverhandlungen ist<lb/>
gleichfalls eine Schutzzollmehrheit vorhanden. Die Regierung hätte somit durch<lb/>
eine Reichstagsauflösung Chancen preisgegeben, ohne eine sicherere dafür einzu¬<lb/>
tauschen. Das aber konnte angesichts der Verfeindung der bürgerlichen<lb/>
Parteien unter sich ein Kampf gegen die Sozialdemokratie nicht wert sein.<lb/>
Die politische Taktik des Reichskanzlers hat sich ohne Zweifel bisher und<lb/>
bis zu gewissen Grenzen bewährt. Diese Erkenntnis von der Überlegen¬<lb/>
heit der Regierung wird bei der &#x201E;Linksmehrheit" des Reichstags in erster<lb/>
Linie jene Empfindungen ausgelöst haben, die mit Katerstimmung am besten<lb/>
gekennzeichnet sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1460" next="#ID_1461"> Unter den kurz skizzierten Umständen will es mir scheinen, erfolgte auch<lb/>
die Schließung der Session in dem psychologisch richtigen Momente nicht nur<lb/>
vom Standpunkt der Negierung, sondern auch vom Standpunkt des Reichstages<lb/>
aus. Sie liegt geradezu im Interesse des Ansehens der Volksvertretung, auch<lb/>
derjenigen Abgeordneten, die entschiedene Anhänger des parlamentarischen<lb/>
Systems sind, ohne deshalb gleich Revolutionäre zu sein.  Es galt reinen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0352] sondern auch der Reichshaushalt nur mit einer Verspätung von sieben Wochen verabschiedet werden konnte, so trägt daran zum guten Teil der Mißbrauch Schuld, der von einigen Fraktionen mit den kurzen Anfragen getrieben wurde. Die Beobachtung, wie wenig der gegenwärtige Reichstag sich befähigt erwies, seine parlamentarischen Erfolge auszunutzen, mag Herrn von Bethmann in der von ihm bevorzugten Politik des Abwartens und Lavierens gegenüber der so¬ genannten Linksmehrheit, auf deren bedenkliche Seiten an dieser Stelle wiederholt hingewiesen wurde, bestärkt haben. Anders wäre es nicht zu verstehen, warum der Herr Reichskanzler dem Treiben mit so unnachahmlicher Kühle zugesehen und die wohlmeinenden Dränger von rechts nicht immer freundlich zurück¬ gewiesen hat. Selbst dem Toben der ersten Zaberndebatten hat er einen Gleichmut entgegengesetzt, der — heute darf es ausgesprochen werden — für viele fast beleidigend wirkte. Heute, nach der Schließung der Session, wird man die Politik des Kanzlers schon eher verstehen. Sie ist wenigstens folge¬ richtig. Augenscheinlich ist die Regierung froh, einen Reichstag zu haben, der bisher in wichtigen Fragen nicht versagt hat, und kümmert sich um weiter¬ reichende Entwicklungsmöglichkeiten gar nicht. Eine Neichstagsauflösung, wie sie vielfach gefordert wurde, um den Sozialdemokraten einige Mandate abzunehmen, hätte bei einem solchen Stand¬ punkt der Regierung vielleicht Sinn gehabt, wenn es sich darum handelte, für große Aufgaben des Parlaments eine absolut sichere Mehrheit zu bekommen. Wer aber wollte für einen solchen Ausgang der Wahl bürgen? Für die wichtigen Lebensfragen der Nation sind die Mehrheiten vorhanden: für Heer und Flotte bewilligte dieser Reichstag alles was bedeutungsvoll ist; es sei nur an die glatten Bewilligungen über den ordentlichen Etat hinaus mit Einschluß des einmaligen Wehrbeitrags erinnert; auch die Verschärfung des Spionage¬ gesetzes gehört dazu; für die bevorstehenden Handelsvertragsverhandlungen ist gleichfalls eine Schutzzollmehrheit vorhanden. Die Regierung hätte somit durch eine Reichstagsauflösung Chancen preisgegeben, ohne eine sicherere dafür einzu¬ tauschen. Das aber konnte angesichts der Verfeindung der bürgerlichen Parteien unter sich ein Kampf gegen die Sozialdemokratie nicht wert sein. Die politische Taktik des Reichskanzlers hat sich ohne Zweifel bisher und bis zu gewissen Grenzen bewährt. Diese Erkenntnis von der Überlegen¬ heit der Regierung wird bei der „Linksmehrheit" des Reichstags in erster Linie jene Empfindungen ausgelöst haben, die mit Katerstimmung am besten gekennzeichnet sind. Unter den kurz skizzierten Umständen will es mir scheinen, erfolgte auch die Schließung der Session in dem psychologisch richtigen Momente nicht nur vom Standpunkt der Negierung, sondern auch vom Standpunkt des Reichstages aus. Sie liegt geradezu im Interesse des Ansehens der Volksvertretung, auch derjenigen Abgeordneten, die entschiedene Anhänger des parlamentarischen Systems sind, ohne deshalb gleich Revolutionäre zu sein. Es galt reinen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/352
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/352>, abgerufen am 21.06.2024.