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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Regierung und Parlament

mindestens zwei Stimmen mehr gefallen sein als auf den jetzt gewählten
Präsidenten."

Der heutige Reichstag erwies sich somit von vornherein als ein höchst
empfindlicher und unzuverlässiger Mechanismus, und wenn es nicht zu einem
parlamentarischen Zusammenbruch mit einer unübersehbaren Kette von inner¬
politischen Krisen gekommen ist, so lag es nicht an ihm. In erster Linie
darf dafür die Regierung den Dank einheimsen, die auf die Würde des Hohen
Hauses viel mehr Rücksicht genommen hat, als die Parlamentsmitglieder selbst.
Der Stoizismus der Regierung, die Kühle des Herrn von Bethmann Hollweg
hat den von vielen Seiten erwarteten Zusammenbruch verhindert.

Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, daß die deutsche Re¬
gierung dem Reichstage mit seinem demokratischen Wahlrecht nicht feindlich ge¬
sinnt ist, wenn es des Nachweises benötigte, daß in unseren leitenden Kreisen
keinerlei Staatsstreichpläne Boden gewonnen haben, so braucht nur auf die
Haltung des Reichskanzlers gegenüber diesem schwachen, allen möglichen Ein¬
flüssen zugänglichen Reichstage gewiesen zu werden. Die Regierung, die in
den Wahlkampf nur einmal durch den Neujahrsartikel in der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung eingegriffen hatte, indem sie auf die Sozialdemokratie als auf
den gemeinsamen Gegner des Bürgertums wies, hat nicht die erste beste Gelegenheit
ergriffen oder gar geschaffen, um den Reichstag aufzulösen; sie überließ es
nach demi Versagen ihrer Parole den Fraktionen der bürgerlichen Parteien, sich
in positiver Arbeit zu finden, indem Herr von Bethmann erklärte, er denke die
Arbeiten des Reichstages durch die Zuweisung ernster Aufgaben fruchtbar zu
machen. Herr von Bethmann hat nun, ohne sich um Störungen und zum
Teil recht heftige Anfeindungen zu kümmern, das durchgehalten, was er sich
vorgenommen hatte: er hat den Reichstag geradezu mit Gesetzentwürfen gefüttert,
wohl in der Hoffnung, die Fraktionen dadurch zu veranlassen, auf Dauer- und
Propagandareden zu verzichten und sachlich zu arbeiten. In dieser Hoffnung
wurde die Regierung getäuscht: die Linke, in dem Wahn, daß das Präsidium
aus Liberalen ein Beweis für das Vorhandensein entsprechender Macht einer
"Linksmehrheit" sei, ging direkt darauf aus, das parlamentarische System "ein¬
zuführen", ohne daß dafür die notwendigen Voraussetzungen erfüllt gewesen wären.
Die Zaberndebatten im Dezember 1913 bildeten den Höhepunkt. Die kurzen An¬
fragen, die Rüstungskommission und die sogenannte Zabernkommission sind das
vorläufige praktische Ergebnis, das das Parlament der Regierung abgerungen
hat. Freilich, das wollen wir gleich festhalten, nicht zur Förderung des Ansehens
des Parlaments. Wie so oft. erweist es sich auch hier, daß nicht jeder, dem
Macht zufällt, deshalb auch ohne weiteres befähigt ist. die Macht zum Ziele der
Allgemeinheit zu gebrauchen. So sind die kurzen Anfragen, die den Verkehr
Zwischen Regierung und Parlament erleichtern sollten, in der Hand dieses Reichs¬
tages geradezu ein Verhängnis für das Ansehen des Reichstags geworden. Und
wenn nicht nur eine Anzahl wichtiqer Gesetzentwürfe unvollendet liegen blieb,
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Regierung und Parlament

mindestens zwei Stimmen mehr gefallen sein als auf den jetzt gewählten
Präsidenten."

Der heutige Reichstag erwies sich somit von vornherein als ein höchst
empfindlicher und unzuverlässiger Mechanismus, und wenn es nicht zu einem
parlamentarischen Zusammenbruch mit einer unübersehbaren Kette von inner¬
politischen Krisen gekommen ist, so lag es nicht an ihm. In erster Linie
darf dafür die Regierung den Dank einheimsen, die auf die Würde des Hohen
Hauses viel mehr Rücksicht genommen hat, als die Parlamentsmitglieder selbst.
Der Stoizismus der Regierung, die Kühle des Herrn von Bethmann Hollweg
hat den von vielen Seiten erwarteten Zusammenbruch verhindert.

Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, daß die deutsche Re¬
gierung dem Reichstage mit seinem demokratischen Wahlrecht nicht feindlich ge¬
sinnt ist, wenn es des Nachweises benötigte, daß in unseren leitenden Kreisen
keinerlei Staatsstreichpläne Boden gewonnen haben, so braucht nur auf die
Haltung des Reichskanzlers gegenüber diesem schwachen, allen möglichen Ein¬
flüssen zugänglichen Reichstage gewiesen zu werden. Die Regierung, die in
den Wahlkampf nur einmal durch den Neujahrsartikel in der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung eingegriffen hatte, indem sie auf die Sozialdemokratie als auf
den gemeinsamen Gegner des Bürgertums wies, hat nicht die erste beste Gelegenheit
ergriffen oder gar geschaffen, um den Reichstag aufzulösen; sie überließ es
nach demi Versagen ihrer Parole den Fraktionen der bürgerlichen Parteien, sich
in positiver Arbeit zu finden, indem Herr von Bethmann erklärte, er denke die
Arbeiten des Reichstages durch die Zuweisung ernster Aufgaben fruchtbar zu
machen. Herr von Bethmann hat nun, ohne sich um Störungen und zum
Teil recht heftige Anfeindungen zu kümmern, das durchgehalten, was er sich
vorgenommen hatte: er hat den Reichstag geradezu mit Gesetzentwürfen gefüttert,
wohl in der Hoffnung, die Fraktionen dadurch zu veranlassen, auf Dauer- und
Propagandareden zu verzichten und sachlich zu arbeiten. In dieser Hoffnung
wurde die Regierung getäuscht: die Linke, in dem Wahn, daß das Präsidium
aus Liberalen ein Beweis für das Vorhandensein entsprechender Macht einer
„Linksmehrheit" sei, ging direkt darauf aus, das parlamentarische System „ein¬
zuführen", ohne daß dafür die notwendigen Voraussetzungen erfüllt gewesen wären.
Die Zaberndebatten im Dezember 1913 bildeten den Höhepunkt. Die kurzen An¬
fragen, die Rüstungskommission und die sogenannte Zabernkommission sind das
vorläufige praktische Ergebnis, das das Parlament der Regierung abgerungen
hat. Freilich, das wollen wir gleich festhalten, nicht zur Förderung des Ansehens
des Parlaments. Wie so oft. erweist es sich auch hier, daß nicht jeder, dem
Macht zufällt, deshalb auch ohne weiteres befähigt ist. die Macht zum Ziele der
Allgemeinheit zu gebrauchen. So sind die kurzen Anfragen, die den Verkehr
Zwischen Regierung und Parlament erleichtern sollten, in der Hand dieses Reichs¬
tages geradezu ein Verhängnis für das Ansehen des Reichstags geworden. Und
wenn nicht nur eine Anzahl wichtiqer Gesetzentwürfe unvollendet liegen blieb,
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[0351] Regierung und Parlament mindestens zwei Stimmen mehr gefallen sein als auf den jetzt gewählten Präsidenten." Der heutige Reichstag erwies sich somit von vornherein als ein höchst empfindlicher und unzuverlässiger Mechanismus, und wenn es nicht zu einem parlamentarischen Zusammenbruch mit einer unübersehbaren Kette von inner¬ politischen Krisen gekommen ist, so lag es nicht an ihm. In erster Linie darf dafür die Regierung den Dank einheimsen, die auf die Würde des Hohen Hauses viel mehr Rücksicht genommen hat, als die Parlamentsmitglieder selbst. Der Stoizismus der Regierung, die Kühle des Herrn von Bethmann Hollweg hat den von vielen Seiten erwarteten Zusammenbruch verhindert. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, daß die deutsche Re¬ gierung dem Reichstage mit seinem demokratischen Wahlrecht nicht feindlich ge¬ sinnt ist, wenn es des Nachweises benötigte, daß in unseren leitenden Kreisen keinerlei Staatsstreichpläne Boden gewonnen haben, so braucht nur auf die Haltung des Reichskanzlers gegenüber diesem schwachen, allen möglichen Ein¬ flüssen zugänglichen Reichstage gewiesen zu werden. Die Regierung, die in den Wahlkampf nur einmal durch den Neujahrsartikel in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung eingegriffen hatte, indem sie auf die Sozialdemokratie als auf den gemeinsamen Gegner des Bürgertums wies, hat nicht die erste beste Gelegenheit ergriffen oder gar geschaffen, um den Reichstag aufzulösen; sie überließ es nach demi Versagen ihrer Parole den Fraktionen der bürgerlichen Parteien, sich in positiver Arbeit zu finden, indem Herr von Bethmann erklärte, er denke die Arbeiten des Reichstages durch die Zuweisung ernster Aufgaben fruchtbar zu machen. Herr von Bethmann hat nun, ohne sich um Störungen und zum Teil recht heftige Anfeindungen zu kümmern, das durchgehalten, was er sich vorgenommen hatte: er hat den Reichstag geradezu mit Gesetzentwürfen gefüttert, wohl in der Hoffnung, die Fraktionen dadurch zu veranlassen, auf Dauer- und Propagandareden zu verzichten und sachlich zu arbeiten. In dieser Hoffnung wurde die Regierung getäuscht: die Linke, in dem Wahn, daß das Präsidium aus Liberalen ein Beweis für das Vorhandensein entsprechender Macht einer „Linksmehrheit" sei, ging direkt darauf aus, das parlamentarische System „ein¬ zuführen", ohne daß dafür die notwendigen Voraussetzungen erfüllt gewesen wären. Die Zaberndebatten im Dezember 1913 bildeten den Höhepunkt. Die kurzen An¬ fragen, die Rüstungskommission und die sogenannte Zabernkommission sind das vorläufige praktische Ergebnis, das das Parlament der Regierung abgerungen hat. Freilich, das wollen wir gleich festhalten, nicht zur Förderung des Ansehens des Parlaments. Wie so oft. erweist es sich auch hier, daß nicht jeder, dem Macht zufällt, deshalb auch ohne weiteres befähigt ist. die Macht zum Ziele der Allgemeinheit zu gebrauchen. So sind die kurzen Anfragen, die den Verkehr Zwischen Regierung und Parlament erleichtern sollten, in der Hand dieses Reichs¬ tages geradezu ein Verhängnis für das Ansehen des Reichstags geworden. Und wenn nicht nur eine Anzahl wichtiqer Gesetzentwürfe unvollendet liegen blieb, * W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/351>, abgerufen am 21.06.2024.