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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Regierung und Parlament

Diesmal steht freilich die Sache für die Abgeordneten nicht so günstig:
der Reichstag und damit die Herren Volksvertreter haben eine schauderhafte
Presse, fast schlechter als die Regierung! Und das will doch etwas bedeuten!
Und was das bedeutsamste ist: durchaus aus eigener Kraft, ohne Zutun der
Regierung oder offiziöser Zeitungsschreiber! Die Regierung hat tatsächlich nicht
einen Finger gerührt, um den Reichstag zu diskreditieren! Dennoch die schlechte
Presse!

Die Frankfurter Zeitung weist uns auf das Gebiet der Psychologie, um
die Mißstimmung zwischen Regierung und Reichstag zu erklären. Sie hütet
sich aber, auf die Psyche der "Linksmehrheit" näher einzugehen. Auch die Täg¬
liche Rundschau führt uns an die psychologischen Momente heran; sie kennzeichnet
sie weniger gelehrt, wenn auch um so treffender mit dem Worte Kater¬
stimmung. Ja, was ist schuld an dem Katzenjammer?! Herr Liebknecht macht den
Reichstag verantwortlich, wenn er sagt: er habe die Regierung, die er ver¬
diene. Das sind drei Stimmen aus verschiedenen Lagern, die auf den Reichstag
selbst hinweisen. Tatsächlich könnte der Reichstag heute ganz anders dastehen,
hätten die in ihm den Ausschlag gebenden Parteien nicht eine kurzsichtige
Parteipolitik getrieben, hätten nicht Scheinerfolge gleich zu Anfang die Sinne
umnebelt.

Die abgelaufene Session des Reichstages ist so widerspruchsvoll verlaufen,
wie sie angefangen hatte. Die Verteilung der Abgeordneten auf die einzelnen
Parteien machte ihn von vornherein unfähig geschlossen zu handeln: es sind
Mehrheiten für alle möglichen Gesetzesvorschläge vorhanden, aber doch wieder
auch nicht; jeder Zufall, jede momentane Stimmung, ja, man darf sagen, jeder
Vorgang oder gar Witterungswechsel draußen, war imstande, die Mehrheits¬
bildung zu beeinflussen. Wie es um die Zusammensetzung des im Januar 1912
gewählten Reichstages stand, läßt sich trefflich an dem Ergebnis der end¬
gültigen Präsidentenwahl vom 8. März 1912, bei der der Sozialdemokrat
Scheidemann das Präsidium nach vierwöchentlicher Tätigkeit darin räumen
mußte, mit den Worten des Abgeordneten Dr. Oertel kennzeichnen: "Das
Präsidium," schrieb er am 9. März 1912 in der Deutschen Tageszeitung
(Ur. 125), "stützt sich eigentlich nur auf das knappe Viertel der Mitglieder des
Reichstages. Die beiden liberalen bürgerlichen Parteien zählen noch nicht
neunzig Mitglieder, und nur diese stehen, wenn man die Dinge scharf faßt,
hinter dem Präsidium. Die zweite Seltsamkeit, die sich im parlamentarischen
Leben wohl noch nie ereignet hat, ist die Tatsache, daß der Präsident des
Reichstages mit einer Mehrheit von einer einzigen Stimme gewählt worden ist,
und daß diese Mehrheit sich in eine Minderheit von mindestens zwei Stimmen
verwandelt hätte, wenn Freiherr von Hertling nicht bayerischer Ministerpräsident
geworden wäre und wenn auf der rechten Seite des Hauses nicht zwei Mit¬
glieder mehr als auf der linken gefehlt hätten. Wäre das Haus voll
besetzt gewesen, so würden nach menschlicher Voraussicht auf Dr. spähn


Regierung und Parlament

Diesmal steht freilich die Sache für die Abgeordneten nicht so günstig:
der Reichstag und damit die Herren Volksvertreter haben eine schauderhafte
Presse, fast schlechter als die Regierung! Und das will doch etwas bedeuten!
Und was das bedeutsamste ist: durchaus aus eigener Kraft, ohne Zutun der
Regierung oder offiziöser Zeitungsschreiber! Die Regierung hat tatsächlich nicht
einen Finger gerührt, um den Reichstag zu diskreditieren! Dennoch die schlechte
Presse!

Die Frankfurter Zeitung weist uns auf das Gebiet der Psychologie, um
die Mißstimmung zwischen Regierung und Reichstag zu erklären. Sie hütet
sich aber, auf die Psyche der „Linksmehrheit" näher einzugehen. Auch die Täg¬
liche Rundschau führt uns an die psychologischen Momente heran; sie kennzeichnet
sie weniger gelehrt, wenn auch um so treffender mit dem Worte Kater¬
stimmung. Ja, was ist schuld an dem Katzenjammer?! Herr Liebknecht macht den
Reichstag verantwortlich, wenn er sagt: er habe die Regierung, die er ver¬
diene. Das sind drei Stimmen aus verschiedenen Lagern, die auf den Reichstag
selbst hinweisen. Tatsächlich könnte der Reichstag heute ganz anders dastehen,
hätten die in ihm den Ausschlag gebenden Parteien nicht eine kurzsichtige
Parteipolitik getrieben, hätten nicht Scheinerfolge gleich zu Anfang die Sinne
umnebelt.

Die abgelaufene Session des Reichstages ist so widerspruchsvoll verlaufen,
wie sie angefangen hatte. Die Verteilung der Abgeordneten auf die einzelnen
Parteien machte ihn von vornherein unfähig geschlossen zu handeln: es sind
Mehrheiten für alle möglichen Gesetzesvorschläge vorhanden, aber doch wieder
auch nicht; jeder Zufall, jede momentane Stimmung, ja, man darf sagen, jeder
Vorgang oder gar Witterungswechsel draußen, war imstande, die Mehrheits¬
bildung zu beeinflussen. Wie es um die Zusammensetzung des im Januar 1912
gewählten Reichstages stand, läßt sich trefflich an dem Ergebnis der end¬
gültigen Präsidentenwahl vom 8. März 1912, bei der der Sozialdemokrat
Scheidemann das Präsidium nach vierwöchentlicher Tätigkeit darin räumen
mußte, mit den Worten des Abgeordneten Dr. Oertel kennzeichnen: „Das
Präsidium," schrieb er am 9. März 1912 in der Deutschen Tageszeitung
(Ur. 125), „stützt sich eigentlich nur auf das knappe Viertel der Mitglieder des
Reichstages. Die beiden liberalen bürgerlichen Parteien zählen noch nicht
neunzig Mitglieder, und nur diese stehen, wenn man die Dinge scharf faßt,
hinter dem Präsidium. Die zweite Seltsamkeit, die sich im parlamentarischen
Leben wohl noch nie ereignet hat, ist die Tatsache, daß der Präsident des
Reichstages mit einer Mehrheit von einer einzigen Stimme gewählt worden ist,
und daß diese Mehrheit sich in eine Minderheit von mindestens zwei Stimmen
verwandelt hätte, wenn Freiherr von Hertling nicht bayerischer Ministerpräsident
geworden wäre und wenn auf der rechten Seite des Hauses nicht zwei Mit¬
glieder mehr als auf der linken gefehlt hätten. Wäre das Haus voll
besetzt gewesen, so würden nach menschlicher Voraussicht auf Dr. spähn


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[0350] Regierung und Parlament Diesmal steht freilich die Sache für die Abgeordneten nicht so günstig: der Reichstag und damit die Herren Volksvertreter haben eine schauderhafte Presse, fast schlechter als die Regierung! Und das will doch etwas bedeuten! Und was das bedeutsamste ist: durchaus aus eigener Kraft, ohne Zutun der Regierung oder offiziöser Zeitungsschreiber! Die Regierung hat tatsächlich nicht einen Finger gerührt, um den Reichstag zu diskreditieren! Dennoch die schlechte Presse! Die Frankfurter Zeitung weist uns auf das Gebiet der Psychologie, um die Mißstimmung zwischen Regierung und Reichstag zu erklären. Sie hütet sich aber, auf die Psyche der „Linksmehrheit" näher einzugehen. Auch die Täg¬ liche Rundschau führt uns an die psychologischen Momente heran; sie kennzeichnet sie weniger gelehrt, wenn auch um so treffender mit dem Worte Kater¬ stimmung. Ja, was ist schuld an dem Katzenjammer?! Herr Liebknecht macht den Reichstag verantwortlich, wenn er sagt: er habe die Regierung, die er ver¬ diene. Das sind drei Stimmen aus verschiedenen Lagern, die auf den Reichstag selbst hinweisen. Tatsächlich könnte der Reichstag heute ganz anders dastehen, hätten die in ihm den Ausschlag gebenden Parteien nicht eine kurzsichtige Parteipolitik getrieben, hätten nicht Scheinerfolge gleich zu Anfang die Sinne umnebelt. Die abgelaufene Session des Reichstages ist so widerspruchsvoll verlaufen, wie sie angefangen hatte. Die Verteilung der Abgeordneten auf die einzelnen Parteien machte ihn von vornherein unfähig geschlossen zu handeln: es sind Mehrheiten für alle möglichen Gesetzesvorschläge vorhanden, aber doch wieder auch nicht; jeder Zufall, jede momentane Stimmung, ja, man darf sagen, jeder Vorgang oder gar Witterungswechsel draußen, war imstande, die Mehrheits¬ bildung zu beeinflussen. Wie es um die Zusammensetzung des im Januar 1912 gewählten Reichstages stand, läßt sich trefflich an dem Ergebnis der end¬ gültigen Präsidentenwahl vom 8. März 1912, bei der der Sozialdemokrat Scheidemann das Präsidium nach vierwöchentlicher Tätigkeit darin räumen mußte, mit den Worten des Abgeordneten Dr. Oertel kennzeichnen: „Das Präsidium," schrieb er am 9. März 1912 in der Deutschen Tageszeitung (Ur. 125), „stützt sich eigentlich nur auf das knappe Viertel der Mitglieder des Reichstages. Die beiden liberalen bürgerlichen Parteien zählen noch nicht neunzig Mitglieder, und nur diese stehen, wenn man die Dinge scharf faßt, hinter dem Präsidium. Die zweite Seltsamkeit, die sich im parlamentarischen Leben wohl noch nie ereignet hat, ist die Tatsache, daß der Präsident des Reichstages mit einer Mehrheit von einer einzigen Stimme gewählt worden ist, und daß diese Mehrheit sich in eine Minderheit von mindestens zwei Stimmen verwandelt hätte, wenn Freiherr von Hertling nicht bayerischer Ministerpräsident geworden wäre und wenn auf der rechten Seite des Hauses nicht zwei Mit¬ glieder mehr als auf der linken gefehlt hätten. Wäre das Haus voll besetzt gewesen, so würden nach menschlicher Voraussicht auf Dr. spähn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/350>, abgerufen am 27.06.2024.