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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundlagen des Expressionismus

Denn wenn man anderseits seinen eigenen Körper beobachtet, ohne unter dem
Einfluß einer fremden Äußerung (sei es Kunstwerk oder sonst irgendeine Wesens¬
äußerung) zu stehen, so kann man bei einiger Übung feststellen, daß eine ganz
bestimmte Art jener Körperhaltung uns gewohnheitsmäßig eignet. Auch an
Bildern und Standbildern bekannter Persönlichkeiten, z. B. Napoleons, kann
man feststellen, daß die Numpfhaltung bei ihnen stets die gleiche ist, mögen sie
nun stehen, sitzen oder reiten.

Auf Grund seiner planmäßigen Beobachtungen glaubt Nutz nun folgende
vier Haupttypen der Körperhaltung feststellen zu können:

Der erste Typus besitzt als allgemeines Kennzeichen eine Erweiterung der
Unterleibshöhle, entstanden durch Vorwölbung des Unterleibes und durch eine
Dauerzusammenziehung des Lendenteiles des Zwerchfelles. Der Stimmklang
dieses Typus ist dunkel und weich, der Atem tief. Nutz glaubt ihn namentlich
an Italienern, aber auch an Männern wie Caesar, Napoleon, Goethe, Heyse,
Schubert, Bruckner und anderen beobachten zu können.

Der zweite Typus kennzeichnet sich durch eine Erweiterung der Oberleibs¬
höhle vermöge einer Dauerzusammenziehung des queren Bauchmuskels, durch
hellen und weichen Stimmklang und höheren Atem. Es ist der deutsche
Typus; er kommt z. B. regelmäßig bei den Hohenzollern vor, ferner bei Schiller,
Beethoven, Weber, Schillings.

Beim dritten Typus schieben sich unter gleichzeitiger Streckung des Körpers
die äußeren oder inneren schiefen Bauchmuskeln nach abwärts. Er besitzt hellen
und harten Stimmklang und höheren bzw. tieferen Atem. Nutz findet ihn bei
manchen Statuen der alten Griechen, auch bei Liszt und Wagner.

Der vierte Typus endlich zeichnet sich aus durch eine Schiebung der Bauch¬
muskeln nach oben, durch dunkelen und harten Stimmklang und ebenfalls
wechselnden Atem. Er ist zwar im Leben an Völkern oder Einzelpersonen noch
nicht nachgewiesen, läßt sich aber durch praktische Versuche in der Körperhaltung
herstellen.

Mit diesen Haupt- und primitiven Typen sind gewisse Unterarten, vor allem
die "warme" oder die "kalte" Unterart stets notwendig verknüpft. Daneben
unterscheidet Nutz noch eine "große", eine "dramatische", eine "ausgeprägte"
Unterart. Es ist klar, daß diese Namen die Eigenart des Gefühlscharakters
schildern sollen, der mit diesen Typen verbunden ist.

Die Methode, auf Grund deren Nutz zu diesen Typen gelangt ist, ist
natürlich in sehr starkem Grade intuitio, sie stützt sich in erster Reihe auf das
feine Gefühl des Forschers und appelliert daher auch in erster Reihe bei denen,
die die Nutzsche Typenlehre nachprüfen wollen, an die Fähigkeit nachzufühlen.
Nutz sucht nun aber die Nachprüfung der Ausdruckstatsacheu, auf die es an¬
kommt, nicht nur dadurch zu erleichtern, daß er die Körperhaltung der ein¬
zelnen Typen genau beschreibt und am Schluß seines Werkes in einer größeren
Anzahl von Aktvhothogmphien bildlich vorführt, sondern auch dadurch, daß er


Die Grundlagen des Expressionismus

Denn wenn man anderseits seinen eigenen Körper beobachtet, ohne unter dem
Einfluß einer fremden Äußerung (sei es Kunstwerk oder sonst irgendeine Wesens¬
äußerung) zu stehen, so kann man bei einiger Übung feststellen, daß eine ganz
bestimmte Art jener Körperhaltung uns gewohnheitsmäßig eignet. Auch an
Bildern und Standbildern bekannter Persönlichkeiten, z. B. Napoleons, kann
man feststellen, daß die Numpfhaltung bei ihnen stets die gleiche ist, mögen sie
nun stehen, sitzen oder reiten.

Auf Grund seiner planmäßigen Beobachtungen glaubt Nutz nun folgende
vier Haupttypen der Körperhaltung feststellen zu können:

Der erste Typus besitzt als allgemeines Kennzeichen eine Erweiterung der
Unterleibshöhle, entstanden durch Vorwölbung des Unterleibes und durch eine
Dauerzusammenziehung des Lendenteiles des Zwerchfelles. Der Stimmklang
dieses Typus ist dunkel und weich, der Atem tief. Nutz glaubt ihn namentlich
an Italienern, aber auch an Männern wie Caesar, Napoleon, Goethe, Heyse,
Schubert, Bruckner und anderen beobachten zu können.

Der zweite Typus kennzeichnet sich durch eine Erweiterung der Oberleibs¬
höhle vermöge einer Dauerzusammenziehung des queren Bauchmuskels, durch
hellen und weichen Stimmklang und höheren Atem. Es ist der deutsche
Typus; er kommt z. B. regelmäßig bei den Hohenzollern vor, ferner bei Schiller,
Beethoven, Weber, Schillings.

Beim dritten Typus schieben sich unter gleichzeitiger Streckung des Körpers
die äußeren oder inneren schiefen Bauchmuskeln nach abwärts. Er besitzt hellen
und harten Stimmklang und höheren bzw. tieferen Atem. Nutz findet ihn bei
manchen Statuen der alten Griechen, auch bei Liszt und Wagner.

Der vierte Typus endlich zeichnet sich aus durch eine Schiebung der Bauch¬
muskeln nach oben, durch dunkelen und harten Stimmklang und ebenfalls
wechselnden Atem. Er ist zwar im Leben an Völkern oder Einzelpersonen noch
nicht nachgewiesen, läßt sich aber durch praktische Versuche in der Körperhaltung
herstellen.

Mit diesen Haupt- und primitiven Typen sind gewisse Unterarten, vor allem
die „warme" oder die „kalte" Unterart stets notwendig verknüpft. Daneben
unterscheidet Nutz noch eine „große", eine „dramatische", eine „ausgeprägte"
Unterart. Es ist klar, daß diese Namen die Eigenart des Gefühlscharakters
schildern sollen, der mit diesen Typen verbunden ist.

Die Methode, auf Grund deren Nutz zu diesen Typen gelangt ist, ist
natürlich in sehr starkem Grade intuitio, sie stützt sich in erster Reihe auf das
feine Gefühl des Forschers und appelliert daher auch in erster Reihe bei denen,
die die Nutzsche Typenlehre nachprüfen wollen, an die Fähigkeit nachzufühlen.
Nutz sucht nun aber die Nachprüfung der Ausdruckstatsacheu, auf die es an¬
kommt, nicht nur dadurch zu erleichtern, daß er die Körperhaltung der ein¬
zelnen Typen genau beschreibt und am Schluß seines Werkes in einer größeren
Anzahl von Aktvhothogmphien bildlich vorführt, sondern auch dadurch, daß er


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[0328] Die Grundlagen des Expressionismus Denn wenn man anderseits seinen eigenen Körper beobachtet, ohne unter dem Einfluß einer fremden Äußerung (sei es Kunstwerk oder sonst irgendeine Wesens¬ äußerung) zu stehen, so kann man bei einiger Übung feststellen, daß eine ganz bestimmte Art jener Körperhaltung uns gewohnheitsmäßig eignet. Auch an Bildern und Standbildern bekannter Persönlichkeiten, z. B. Napoleons, kann man feststellen, daß die Numpfhaltung bei ihnen stets die gleiche ist, mögen sie nun stehen, sitzen oder reiten. Auf Grund seiner planmäßigen Beobachtungen glaubt Nutz nun folgende vier Haupttypen der Körperhaltung feststellen zu können: Der erste Typus besitzt als allgemeines Kennzeichen eine Erweiterung der Unterleibshöhle, entstanden durch Vorwölbung des Unterleibes und durch eine Dauerzusammenziehung des Lendenteiles des Zwerchfelles. Der Stimmklang dieses Typus ist dunkel und weich, der Atem tief. Nutz glaubt ihn namentlich an Italienern, aber auch an Männern wie Caesar, Napoleon, Goethe, Heyse, Schubert, Bruckner und anderen beobachten zu können. Der zweite Typus kennzeichnet sich durch eine Erweiterung der Oberleibs¬ höhle vermöge einer Dauerzusammenziehung des queren Bauchmuskels, durch hellen und weichen Stimmklang und höheren Atem. Es ist der deutsche Typus; er kommt z. B. regelmäßig bei den Hohenzollern vor, ferner bei Schiller, Beethoven, Weber, Schillings. Beim dritten Typus schieben sich unter gleichzeitiger Streckung des Körpers die äußeren oder inneren schiefen Bauchmuskeln nach abwärts. Er besitzt hellen und harten Stimmklang und höheren bzw. tieferen Atem. Nutz findet ihn bei manchen Statuen der alten Griechen, auch bei Liszt und Wagner. Der vierte Typus endlich zeichnet sich aus durch eine Schiebung der Bauch¬ muskeln nach oben, durch dunkelen und harten Stimmklang und ebenfalls wechselnden Atem. Er ist zwar im Leben an Völkern oder Einzelpersonen noch nicht nachgewiesen, läßt sich aber durch praktische Versuche in der Körperhaltung herstellen. Mit diesen Haupt- und primitiven Typen sind gewisse Unterarten, vor allem die „warme" oder die „kalte" Unterart stets notwendig verknüpft. Daneben unterscheidet Nutz noch eine „große", eine „dramatische", eine „ausgeprägte" Unterart. Es ist klar, daß diese Namen die Eigenart des Gefühlscharakters schildern sollen, der mit diesen Typen verbunden ist. Die Methode, auf Grund deren Nutz zu diesen Typen gelangt ist, ist natürlich in sehr starkem Grade intuitio, sie stützt sich in erster Reihe auf das feine Gefühl des Forschers und appelliert daher auch in erster Reihe bei denen, die die Nutzsche Typenlehre nachprüfen wollen, an die Fähigkeit nachzufühlen. Nutz sucht nun aber die Nachprüfung der Ausdruckstatsacheu, auf die es an¬ kommt, nicht nur dadurch zu erleichtern, daß er die Körperhaltung der ein¬ zelnen Typen genau beschreibt und am Schluß seines Werkes in einer größeren Anzahl von Aktvhothogmphien bildlich vorführt, sondern auch dadurch, daß er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/328>, abgerufen am 27.06.2024.