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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundlagen des Expressionismus

eine große Anzahl von Musik- und Sprachwerken der ersten drei Typen auf
die Form des Gefühlsausdruckes hin analysiert und den Typus ihrer Verfasser
feststellt. Er dehnt dann diese Betrachtungen auf die Völker Europas und auch
auf außereuropäische Rassen aus und glaubt an den historischen Denkmälern
dieser Rassen nachweisen zu können, daß in ihnen die Form des Gefühlsaus¬
drucks konstant bleibt oder sich nur nach bestimmten Gesetzen verändert.
Beobachtungen und Folgerungen über die sonstigen Gebiete der Kunsttätigkeit und
für die Alltagsäußerungen des täglichen Lebens, z. B. für die Handschrift,
schließen sich an.

Auf diese Weise liefert Nutz eine ganz eigenartige Formenlehre des Gefühls¬
ausdrucks, die auf ein bewundernswert umfangreiches Untersuchungsmaterial
gestützt ist. Es kommt ihm darauf an, diese Formen des Gemütsausdrucks
möglichst klar zu erfassen und verständlich zu schildern, denn der letzte Zweck,
den er mit seiner Typenlehre verfolgt, ist ein kunstpädagogischer. Er erwartet
nicht nur, daß die reproduzierenden Künstler, die Sänger, Schauspieler und
Vortragskünstler, sich seine Typenlehre zunutze machen und nach Möglichkeit
jeweilig diejenige Körperhaltung einnehmen werden, die dem Gefühlscharakter
des Kunstwerkes und seines Schöpfers entspricht -- nein, die Hoffnung Nutz'
geht noch weiter.

Er erwartet, daß das kunstgenießende Publikum, der kunstgenießende
Mensch die Erkenntnis von dem Ausdrucksverhältnis, das zwischen Gefühl und
Körperhaltung besteht, für sich ausnutzen wird, daß er diese Erkenntnis als
Grundlage und Hilfe beim nachfühlen des Kunstwerkes benutzen kann und wird.
Der genießende Mensch kann dadurch, daß er die entsprechende Ausdruckshaltung
schon selbständig und bewußt bei sich herbeiführt, eine gewisse Gleichgestimmtheit
des Gemütes, die Grundlage für das seelische nachfühlen, sich schaffen. So
stellt Nutz seine Lehre von den körperlichen Ausdrucksformen des Gefühls bewußt
in den Dienst einer Erziehung zum expressionistischen Kunstgenuß, zum gefühls¬
mäßigen Genuß der Kunst. "Ohne nachfühlen kein Verstehen! Ohne Pflege
des Gemütslebens überhaupt keine Kultur, keine echte Kunst!"

Auch dies ist wahrer, echter Expressionismus!

Es scheint aber nun angezeigt, am Schluß noch einmal den malerisch¬
künstlerischen Expressionismus mit diesem ästhetisch-psychologischen Expressionismus
von Nutz zu vergleichen. Aus dem gleichen Interesse unserer Zeit für die
Gefühlsseite des menschlichen Erlebens sind beide entsprungen. Aber der künst¬
lerische Expressionismus ist vorläufig noch etwas durch und durch Subjektives,
Lyrisches, der formlose, Stammelnde Ausdruck eines bloß künstlerischen Fühlens.
Um die feste, objektive, allgemein. verständliche Form des Ausdrucks muß er
noch verzweifelt ringen, um den Weg zum kunstgenießenden Publikum zu finden.

Der ästhetische Expressionismus Nutz' dagegen faßt von vornherein bestimmte
Formen des Gefühlsausdruckes fest ins Auge und will mit ihrer Hilfe dem
genießenden Publikum den Weg zeigen zum Genuß der expressiven Werte im


Die Grundlagen des Expressionismus

eine große Anzahl von Musik- und Sprachwerken der ersten drei Typen auf
die Form des Gefühlsausdruckes hin analysiert und den Typus ihrer Verfasser
feststellt. Er dehnt dann diese Betrachtungen auf die Völker Europas und auch
auf außereuropäische Rassen aus und glaubt an den historischen Denkmälern
dieser Rassen nachweisen zu können, daß in ihnen die Form des Gefühlsaus¬
drucks konstant bleibt oder sich nur nach bestimmten Gesetzen verändert.
Beobachtungen und Folgerungen über die sonstigen Gebiete der Kunsttätigkeit und
für die Alltagsäußerungen des täglichen Lebens, z. B. für die Handschrift,
schließen sich an.

Auf diese Weise liefert Nutz eine ganz eigenartige Formenlehre des Gefühls¬
ausdrucks, die auf ein bewundernswert umfangreiches Untersuchungsmaterial
gestützt ist. Es kommt ihm darauf an, diese Formen des Gemütsausdrucks
möglichst klar zu erfassen und verständlich zu schildern, denn der letzte Zweck,
den er mit seiner Typenlehre verfolgt, ist ein kunstpädagogischer. Er erwartet
nicht nur, daß die reproduzierenden Künstler, die Sänger, Schauspieler und
Vortragskünstler, sich seine Typenlehre zunutze machen und nach Möglichkeit
jeweilig diejenige Körperhaltung einnehmen werden, die dem Gefühlscharakter
des Kunstwerkes und seines Schöpfers entspricht — nein, die Hoffnung Nutz'
geht noch weiter.

Er erwartet, daß das kunstgenießende Publikum, der kunstgenießende
Mensch die Erkenntnis von dem Ausdrucksverhältnis, das zwischen Gefühl und
Körperhaltung besteht, für sich ausnutzen wird, daß er diese Erkenntnis als
Grundlage und Hilfe beim nachfühlen des Kunstwerkes benutzen kann und wird.
Der genießende Mensch kann dadurch, daß er die entsprechende Ausdruckshaltung
schon selbständig und bewußt bei sich herbeiführt, eine gewisse Gleichgestimmtheit
des Gemütes, die Grundlage für das seelische nachfühlen, sich schaffen. So
stellt Nutz seine Lehre von den körperlichen Ausdrucksformen des Gefühls bewußt
in den Dienst einer Erziehung zum expressionistischen Kunstgenuß, zum gefühls¬
mäßigen Genuß der Kunst. „Ohne nachfühlen kein Verstehen! Ohne Pflege
des Gemütslebens überhaupt keine Kultur, keine echte Kunst!"

Auch dies ist wahrer, echter Expressionismus!

Es scheint aber nun angezeigt, am Schluß noch einmal den malerisch¬
künstlerischen Expressionismus mit diesem ästhetisch-psychologischen Expressionismus
von Nutz zu vergleichen. Aus dem gleichen Interesse unserer Zeit für die
Gefühlsseite des menschlichen Erlebens sind beide entsprungen. Aber der künst¬
lerische Expressionismus ist vorläufig noch etwas durch und durch Subjektives,
Lyrisches, der formlose, Stammelnde Ausdruck eines bloß künstlerischen Fühlens.
Um die feste, objektive, allgemein. verständliche Form des Ausdrucks muß er
noch verzweifelt ringen, um den Weg zum kunstgenießenden Publikum zu finden.

Der ästhetische Expressionismus Nutz' dagegen faßt von vornherein bestimmte
Formen des Gefühlsausdruckes fest ins Auge und will mit ihrer Hilfe dem
genießenden Publikum den Weg zeigen zum Genuß der expressiven Werte im


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[0329] Die Grundlagen des Expressionismus eine große Anzahl von Musik- und Sprachwerken der ersten drei Typen auf die Form des Gefühlsausdruckes hin analysiert und den Typus ihrer Verfasser feststellt. Er dehnt dann diese Betrachtungen auf die Völker Europas und auch auf außereuropäische Rassen aus und glaubt an den historischen Denkmälern dieser Rassen nachweisen zu können, daß in ihnen die Form des Gefühlsaus¬ drucks konstant bleibt oder sich nur nach bestimmten Gesetzen verändert. Beobachtungen und Folgerungen über die sonstigen Gebiete der Kunsttätigkeit und für die Alltagsäußerungen des täglichen Lebens, z. B. für die Handschrift, schließen sich an. Auf diese Weise liefert Nutz eine ganz eigenartige Formenlehre des Gefühls¬ ausdrucks, die auf ein bewundernswert umfangreiches Untersuchungsmaterial gestützt ist. Es kommt ihm darauf an, diese Formen des Gemütsausdrucks möglichst klar zu erfassen und verständlich zu schildern, denn der letzte Zweck, den er mit seiner Typenlehre verfolgt, ist ein kunstpädagogischer. Er erwartet nicht nur, daß die reproduzierenden Künstler, die Sänger, Schauspieler und Vortragskünstler, sich seine Typenlehre zunutze machen und nach Möglichkeit jeweilig diejenige Körperhaltung einnehmen werden, die dem Gefühlscharakter des Kunstwerkes und seines Schöpfers entspricht — nein, die Hoffnung Nutz' geht noch weiter. Er erwartet, daß das kunstgenießende Publikum, der kunstgenießende Mensch die Erkenntnis von dem Ausdrucksverhältnis, das zwischen Gefühl und Körperhaltung besteht, für sich ausnutzen wird, daß er diese Erkenntnis als Grundlage und Hilfe beim nachfühlen des Kunstwerkes benutzen kann und wird. Der genießende Mensch kann dadurch, daß er die entsprechende Ausdruckshaltung schon selbständig und bewußt bei sich herbeiführt, eine gewisse Gleichgestimmtheit des Gemütes, die Grundlage für das seelische nachfühlen, sich schaffen. So stellt Nutz seine Lehre von den körperlichen Ausdrucksformen des Gefühls bewußt in den Dienst einer Erziehung zum expressionistischen Kunstgenuß, zum gefühls¬ mäßigen Genuß der Kunst. „Ohne nachfühlen kein Verstehen! Ohne Pflege des Gemütslebens überhaupt keine Kultur, keine echte Kunst!" Auch dies ist wahrer, echter Expressionismus! Es scheint aber nun angezeigt, am Schluß noch einmal den malerisch¬ künstlerischen Expressionismus mit diesem ästhetisch-psychologischen Expressionismus von Nutz zu vergleichen. Aus dem gleichen Interesse unserer Zeit für die Gefühlsseite des menschlichen Erlebens sind beide entsprungen. Aber der künst¬ lerische Expressionismus ist vorläufig noch etwas durch und durch Subjektives, Lyrisches, der formlose, Stammelnde Ausdruck eines bloß künstlerischen Fühlens. Um die feste, objektive, allgemein. verständliche Form des Ausdrucks muß er noch verzweifelt ringen, um den Weg zum kunstgenießenden Publikum zu finden. Der ästhetische Expressionismus Nutz' dagegen faßt von vornherein bestimmte Formen des Gefühlsausdruckes fest ins Auge und will mit ihrer Hilfe dem genießenden Publikum den Weg zeigen zum Genuß der expressiven Werte im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/329>, abgerufen am 24.07.2024.