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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Grundlagen des Expressionismus

daß im künstlerischen Schaffen neben dem "Ausdrucksmotiv", auch das "Dar¬
stellungsmotiv" richtunggebend tätig sei. Als Beweggrund für das künstlerische
Schaffen wirkt nicht bloß das Bedürfnis des Künstlers, sein inneres Erleben
zum Ausdruck zu bringen, sein Gefühl zu "entladen", sondern auch der Trieb,
diesem Erleben eine objektive, für immer feststehende Form zu geben, es "dar¬
zustellen".

Einen wertvollen Beitrag für die Erforschung der Formen des Gefühls¬
ausdrucks in Leben und Kunst liefern nun die Untersuchungen von Joseph,
Klara und Ottmar Nutz, die von Ottmar Nutz in dem umfangreichen Werk
"Musik, Wort und Körperhaltung als Gemütsausdruck"") zusammengefaßt sind.
Ihr Wert ist um so größer, weil sich Nutz nicht nur von jener radikalen
Anschauung freihält, welche in der Kunst nur Ausdruckstätigkeit und nichts als
Ausdruckstätigkeit fehen möchte**), sondern auch weil er den Rahmen seiner
Untersuchungen weit über das Gebiet der Kunst hinaus spannt, in das Gebiet
der gesamten menschlichen Lebensäußerung hinein. Man könnte sagen: Nutz
stellt die gesamte Lebenstätigkeit des Menschen unter den expressionistischen Ge¬
sichtspunkt. "Zufolge einer besonderen Einrichtung der menschlichen Natur ist
jede Erregung der Gefühlssphäre mit einer zugehörigen Ausdruckstätigkeit ver¬
bunden. In allem, was der Mensch tut und schafft, selbst in solchen Tätig¬
keiten, welche scheinbar nur durch seinen Verstand veranlaßt sind, sind bestimmte
Ausdrucksmerkmale der Gefühlserregung vorhanden." "Wir können kein Wort
sprechen, keine körperliche Bewegung vornehmen, ohne daß nicht bestimmte Aus¬
druckstatsachen im Klänge unserer Stimme, in der Aneinanderreihung unserer
Worte, nach Rhythmus, Tempo, Tonhöhe, Lautheit, nach dem Rhythmus der
körperlichen Bewegung vorhanden sind." Das ist etwa die Rutzsche Grund-
anschauung.

Sein besonderes Augenmerk richtet Nutz nun auf gewisse körperliche Aus¬
druckstatsachen, auf die Art, wie sich der Charakter des individuellen Gefühls¬
lebens in der Körperhaltung ausdrückt. Es handelt sich bei dieser "Körper¬
haltung" in der Hauptsache um die "Art und Weise, wie man die oberhalb
der großen Beckenknochen befindlichen Rumpfmuskeln gespannt und eingestellt
(dauernd zusammengezogen) hält." Nutz geht von der Beobachtung aus, daß
man im Theater und Konzertsaal beim Anhören aller möglichen Ton- und
Sprachdichtungen, wenn man darauf achtet, Veränderungen in jener "Körper¬
haltung" bei sich wahrnehmen kann, je nach der Persönlichkeit des Künstlers,
der das aufgeführte Werk erzeugt hat. "Vollends wenn man mit seiner Stimme
die Tonfolgen verschiedener Meister wiedergibt, fühlt man sich möglicherweise
geradezu gezwungen, seine gewohnte Haltung des Körpers mit einer anderen
zu vertausche", obendrein womöglich anders, höher oder tieser zu atmen."




*) Leipzig. Breitkopf u. Härtel.
**) "Diese Macht des Gefühlslebens über das Körperliche ... ist keine Alleinherrschaft.
Mehr oder weniger herrschen daneben Verstand, Zweckmäßigkeit und bestimmte Naturgesetze.'
Die Grundlagen des Expressionismus

daß im künstlerischen Schaffen neben dem „Ausdrucksmotiv", auch das „Dar¬
stellungsmotiv" richtunggebend tätig sei. Als Beweggrund für das künstlerische
Schaffen wirkt nicht bloß das Bedürfnis des Künstlers, sein inneres Erleben
zum Ausdruck zu bringen, sein Gefühl zu „entladen", sondern auch der Trieb,
diesem Erleben eine objektive, für immer feststehende Form zu geben, es „dar¬
zustellen".

Einen wertvollen Beitrag für die Erforschung der Formen des Gefühls¬
ausdrucks in Leben und Kunst liefern nun die Untersuchungen von Joseph,
Klara und Ottmar Nutz, die von Ottmar Nutz in dem umfangreichen Werk
„Musik, Wort und Körperhaltung als Gemütsausdruck"") zusammengefaßt sind.
Ihr Wert ist um so größer, weil sich Nutz nicht nur von jener radikalen
Anschauung freihält, welche in der Kunst nur Ausdruckstätigkeit und nichts als
Ausdruckstätigkeit fehen möchte**), sondern auch weil er den Rahmen seiner
Untersuchungen weit über das Gebiet der Kunst hinaus spannt, in das Gebiet
der gesamten menschlichen Lebensäußerung hinein. Man könnte sagen: Nutz
stellt die gesamte Lebenstätigkeit des Menschen unter den expressionistischen Ge¬
sichtspunkt. „Zufolge einer besonderen Einrichtung der menschlichen Natur ist
jede Erregung der Gefühlssphäre mit einer zugehörigen Ausdruckstätigkeit ver¬
bunden. In allem, was der Mensch tut und schafft, selbst in solchen Tätig¬
keiten, welche scheinbar nur durch seinen Verstand veranlaßt sind, sind bestimmte
Ausdrucksmerkmale der Gefühlserregung vorhanden." „Wir können kein Wort
sprechen, keine körperliche Bewegung vornehmen, ohne daß nicht bestimmte Aus¬
druckstatsachen im Klänge unserer Stimme, in der Aneinanderreihung unserer
Worte, nach Rhythmus, Tempo, Tonhöhe, Lautheit, nach dem Rhythmus der
körperlichen Bewegung vorhanden sind." Das ist etwa die Rutzsche Grund-
anschauung.

Sein besonderes Augenmerk richtet Nutz nun auf gewisse körperliche Aus¬
druckstatsachen, auf die Art, wie sich der Charakter des individuellen Gefühls¬
lebens in der Körperhaltung ausdrückt. Es handelt sich bei dieser „Körper¬
haltung" in der Hauptsache um die „Art und Weise, wie man die oberhalb
der großen Beckenknochen befindlichen Rumpfmuskeln gespannt und eingestellt
(dauernd zusammengezogen) hält." Nutz geht von der Beobachtung aus, daß
man im Theater und Konzertsaal beim Anhören aller möglichen Ton- und
Sprachdichtungen, wenn man darauf achtet, Veränderungen in jener „Körper¬
haltung" bei sich wahrnehmen kann, je nach der Persönlichkeit des Künstlers,
der das aufgeführte Werk erzeugt hat. „Vollends wenn man mit seiner Stimme
die Tonfolgen verschiedener Meister wiedergibt, fühlt man sich möglicherweise
geradezu gezwungen, seine gewohnte Haltung des Körpers mit einer anderen
zu vertausche», obendrein womöglich anders, höher oder tieser zu atmen."




*) Leipzig. Breitkopf u. Härtel.
**) „Diese Macht des Gefühlslebens über das Körperliche ... ist keine Alleinherrschaft.
Mehr oder weniger herrschen daneben Verstand, Zweckmäßigkeit und bestimmte Naturgesetze.'
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[0327] Die Grundlagen des Expressionismus daß im künstlerischen Schaffen neben dem „Ausdrucksmotiv", auch das „Dar¬ stellungsmotiv" richtunggebend tätig sei. Als Beweggrund für das künstlerische Schaffen wirkt nicht bloß das Bedürfnis des Künstlers, sein inneres Erleben zum Ausdruck zu bringen, sein Gefühl zu „entladen", sondern auch der Trieb, diesem Erleben eine objektive, für immer feststehende Form zu geben, es „dar¬ zustellen". Einen wertvollen Beitrag für die Erforschung der Formen des Gefühls¬ ausdrucks in Leben und Kunst liefern nun die Untersuchungen von Joseph, Klara und Ottmar Nutz, die von Ottmar Nutz in dem umfangreichen Werk „Musik, Wort und Körperhaltung als Gemütsausdruck"") zusammengefaßt sind. Ihr Wert ist um so größer, weil sich Nutz nicht nur von jener radikalen Anschauung freihält, welche in der Kunst nur Ausdruckstätigkeit und nichts als Ausdruckstätigkeit fehen möchte**), sondern auch weil er den Rahmen seiner Untersuchungen weit über das Gebiet der Kunst hinaus spannt, in das Gebiet der gesamten menschlichen Lebensäußerung hinein. Man könnte sagen: Nutz stellt die gesamte Lebenstätigkeit des Menschen unter den expressionistischen Ge¬ sichtspunkt. „Zufolge einer besonderen Einrichtung der menschlichen Natur ist jede Erregung der Gefühlssphäre mit einer zugehörigen Ausdruckstätigkeit ver¬ bunden. In allem, was der Mensch tut und schafft, selbst in solchen Tätig¬ keiten, welche scheinbar nur durch seinen Verstand veranlaßt sind, sind bestimmte Ausdrucksmerkmale der Gefühlserregung vorhanden." „Wir können kein Wort sprechen, keine körperliche Bewegung vornehmen, ohne daß nicht bestimmte Aus¬ druckstatsachen im Klänge unserer Stimme, in der Aneinanderreihung unserer Worte, nach Rhythmus, Tempo, Tonhöhe, Lautheit, nach dem Rhythmus der körperlichen Bewegung vorhanden sind." Das ist etwa die Rutzsche Grund- anschauung. Sein besonderes Augenmerk richtet Nutz nun auf gewisse körperliche Aus¬ druckstatsachen, auf die Art, wie sich der Charakter des individuellen Gefühls¬ lebens in der Körperhaltung ausdrückt. Es handelt sich bei dieser „Körper¬ haltung" in der Hauptsache um die „Art und Weise, wie man die oberhalb der großen Beckenknochen befindlichen Rumpfmuskeln gespannt und eingestellt (dauernd zusammengezogen) hält." Nutz geht von der Beobachtung aus, daß man im Theater und Konzertsaal beim Anhören aller möglichen Ton- und Sprachdichtungen, wenn man darauf achtet, Veränderungen in jener „Körper¬ haltung" bei sich wahrnehmen kann, je nach der Persönlichkeit des Künstlers, der das aufgeführte Werk erzeugt hat. „Vollends wenn man mit seiner Stimme die Tonfolgen verschiedener Meister wiedergibt, fühlt man sich möglicherweise geradezu gezwungen, seine gewohnte Haltung des Körpers mit einer anderen zu vertausche», obendrein womöglich anders, höher oder tieser zu atmen." *) Leipzig. Breitkopf u. Härtel. **) „Diese Macht des Gefühlslebens über das Körperliche ... ist keine Alleinherrschaft. Mehr oder weniger herrschen daneben Verstand, Zweckmäßigkeit und bestimmte Naturgesetze.'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/327>, abgerufen am 27.06.2024.