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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Gsterreicb-Ungarn

Zeitungen der Monarchie täglich Gelegenheit, sich mit irgendeinem Ausgleich zu
beschäftigen.

So ist die innere Politik Österreich-Ungarns, gerade weil es kein
Nationalstaat ist, das eindringlichste Beispiel von der Mächtigkeit der natio¬
nalen Bewegung, die die Welt erfaßt hat. Diese Tatsache ist so unleugbar,
daß es sich für unsere Zwecke erübrigt, bei den Einzelheiten dieses Schauspiels
zu verweilen. Daß dieses zentrale Problem der österreichisch-ungarischen
Monarchie auch ihre gesamte auswärtige Politik beherrscht und in dieser Ab¬
hängigkeit der Grund für eine gewisse Unbeweglichst und Passivität dieser
Politik zu suchen ist, dafür bietet die Entwicklung der Balkankrise des Jahres
1913 einen schlagenden Beweis. Österreich-Ungarn konnte, wenn es den
Drang zu Aktivität und Expansion in sich spürte und sich selbst für aus-
dehnungsfähig hielt, ohne Schwierigkeit eine der Gelegenheiten, die dieser Krieg
bot, benutzen, um sich des Sandschak Novibazar und damit eines wachsenden
Einflusses auf die Balkanangelegenheiten, vielleicht einer zukünftigen Hypothek
auf den Weg nach Saloniki zu versichern. Es hat es nicht getan, sondern
sich im Jahre 1903 mit der Annexion Bosniens als saturiert erklärt. Es
hat niemals ernsthafte Pläne auf diesen vielbesprochenen Weg gehegt und
jenen berühmten Drang nach den Osten nie verspürt. Es hat nach der Okku¬
pation Bosniens die böhmischen Bahnen eingleisig und schmalspurig gebaut und
schon dadurch gezeigt, daß ein Ausbau dieser Erwerbung nach Süden ihm ferne
lag. Es hat sich im Jahre 1913 darauf beschränkt, die Entstehung eines Gro߬
serbiens durch die Ablehnung der serbischen Ansprüche auf ein Stück Adria-
Küste zu verhindern und die Vergrößerung Serbiens durch die Schaffung eines
notwendig serbenfeindlichen Albaniens auszugleichen. Auch dieses Motiv steht
im Zusammenhang mit dem zentralen Problem der österreichisch-ungarischen
Politik. Österreichische Zeitungen haben die Haltung der Monarchie in der Frage
der serbischen Ansprüche auf die Adria-Küste damit begründet, daß die Existenz
eines lebensfähigen Großserbiens für die Monarchie bedrohlich sei, weil dann
die von Serben bewohnten österreichisch-ungarischen Landesteile, in erster Linie
also Bosnien und die Herzegowina, ebenso nach diesem serbischen Nationalstaat
gravitieren würden, wie einst die Lombardei nach Piemont gravitierte. Gegen
dies politische Argument kann nichts eingewendet werden. Die Gegner der aus¬
wärtigen Politik der Donaumonarchie stellen die Frage, ob dieses Argument
nicht die österreichisch-ungarische Politik hätte veranlassen müssen, auch die jetzige
Vergrößerung Serbiens, namentlich die Entstehung der serbisch-montenegrinischen
Grenze, zu verhindern; und erst die Zukunft, die zeigen wird, ob die Monarchie
imstande ist, die Vereinigung der beiden stammverwandten und nun aneinander-
grenzenden Länder in jedem Falle zu verhindern, kann eine solche Frage beant¬
worten.

Das Anwachsen der nationalen Tendenzen und damit der zentrifugalen
Kräfte in Österreich-Ungarn macht die österreichisch-ungarische Frage in vielen


19*
Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Gsterreicb-Ungarn

Zeitungen der Monarchie täglich Gelegenheit, sich mit irgendeinem Ausgleich zu
beschäftigen.

So ist die innere Politik Österreich-Ungarns, gerade weil es kein
Nationalstaat ist, das eindringlichste Beispiel von der Mächtigkeit der natio¬
nalen Bewegung, die die Welt erfaßt hat. Diese Tatsache ist so unleugbar,
daß es sich für unsere Zwecke erübrigt, bei den Einzelheiten dieses Schauspiels
zu verweilen. Daß dieses zentrale Problem der österreichisch-ungarischen
Monarchie auch ihre gesamte auswärtige Politik beherrscht und in dieser Ab¬
hängigkeit der Grund für eine gewisse Unbeweglichst und Passivität dieser
Politik zu suchen ist, dafür bietet die Entwicklung der Balkankrise des Jahres
1913 einen schlagenden Beweis. Österreich-Ungarn konnte, wenn es den
Drang zu Aktivität und Expansion in sich spürte und sich selbst für aus-
dehnungsfähig hielt, ohne Schwierigkeit eine der Gelegenheiten, die dieser Krieg
bot, benutzen, um sich des Sandschak Novibazar und damit eines wachsenden
Einflusses auf die Balkanangelegenheiten, vielleicht einer zukünftigen Hypothek
auf den Weg nach Saloniki zu versichern. Es hat es nicht getan, sondern
sich im Jahre 1903 mit der Annexion Bosniens als saturiert erklärt. Es
hat niemals ernsthafte Pläne auf diesen vielbesprochenen Weg gehegt und
jenen berühmten Drang nach den Osten nie verspürt. Es hat nach der Okku¬
pation Bosniens die böhmischen Bahnen eingleisig und schmalspurig gebaut und
schon dadurch gezeigt, daß ein Ausbau dieser Erwerbung nach Süden ihm ferne
lag. Es hat sich im Jahre 1913 darauf beschränkt, die Entstehung eines Gro߬
serbiens durch die Ablehnung der serbischen Ansprüche auf ein Stück Adria-
Küste zu verhindern und die Vergrößerung Serbiens durch die Schaffung eines
notwendig serbenfeindlichen Albaniens auszugleichen. Auch dieses Motiv steht
im Zusammenhang mit dem zentralen Problem der österreichisch-ungarischen
Politik. Österreichische Zeitungen haben die Haltung der Monarchie in der Frage
der serbischen Ansprüche auf die Adria-Küste damit begründet, daß die Existenz
eines lebensfähigen Großserbiens für die Monarchie bedrohlich sei, weil dann
die von Serben bewohnten österreichisch-ungarischen Landesteile, in erster Linie
also Bosnien und die Herzegowina, ebenso nach diesem serbischen Nationalstaat
gravitieren würden, wie einst die Lombardei nach Piemont gravitierte. Gegen
dies politische Argument kann nichts eingewendet werden. Die Gegner der aus¬
wärtigen Politik der Donaumonarchie stellen die Frage, ob dieses Argument
nicht die österreichisch-ungarische Politik hätte veranlassen müssen, auch die jetzige
Vergrößerung Serbiens, namentlich die Entstehung der serbisch-montenegrinischen
Grenze, zu verhindern; und erst die Zukunft, die zeigen wird, ob die Monarchie
imstande ist, die Vereinigung der beiden stammverwandten und nun aneinander-
grenzenden Länder in jedem Falle zu verhindern, kann eine solche Frage beant¬
worten.

Das Anwachsen der nationalen Tendenzen und damit der zentrifugalen
Kräfte in Österreich-Ungarn macht die österreichisch-ungarische Frage in vielen


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[0303] Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Gsterreicb-Ungarn Zeitungen der Monarchie täglich Gelegenheit, sich mit irgendeinem Ausgleich zu beschäftigen. So ist die innere Politik Österreich-Ungarns, gerade weil es kein Nationalstaat ist, das eindringlichste Beispiel von der Mächtigkeit der natio¬ nalen Bewegung, die die Welt erfaßt hat. Diese Tatsache ist so unleugbar, daß es sich für unsere Zwecke erübrigt, bei den Einzelheiten dieses Schauspiels zu verweilen. Daß dieses zentrale Problem der österreichisch-ungarischen Monarchie auch ihre gesamte auswärtige Politik beherrscht und in dieser Ab¬ hängigkeit der Grund für eine gewisse Unbeweglichst und Passivität dieser Politik zu suchen ist, dafür bietet die Entwicklung der Balkankrise des Jahres 1913 einen schlagenden Beweis. Österreich-Ungarn konnte, wenn es den Drang zu Aktivität und Expansion in sich spürte und sich selbst für aus- dehnungsfähig hielt, ohne Schwierigkeit eine der Gelegenheiten, die dieser Krieg bot, benutzen, um sich des Sandschak Novibazar und damit eines wachsenden Einflusses auf die Balkanangelegenheiten, vielleicht einer zukünftigen Hypothek auf den Weg nach Saloniki zu versichern. Es hat es nicht getan, sondern sich im Jahre 1903 mit der Annexion Bosniens als saturiert erklärt. Es hat niemals ernsthafte Pläne auf diesen vielbesprochenen Weg gehegt und jenen berühmten Drang nach den Osten nie verspürt. Es hat nach der Okku¬ pation Bosniens die böhmischen Bahnen eingleisig und schmalspurig gebaut und schon dadurch gezeigt, daß ein Ausbau dieser Erwerbung nach Süden ihm ferne lag. Es hat sich im Jahre 1913 darauf beschränkt, die Entstehung eines Gro߬ serbiens durch die Ablehnung der serbischen Ansprüche auf ein Stück Adria- Küste zu verhindern und die Vergrößerung Serbiens durch die Schaffung eines notwendig serbenfeindlichen Albaniens auszugleichen. Auch dieses Motiv steht im Zusammenhang mit dem zentralen Problem der österreichisch-ungarischen Politik. Österreichische Zeitungen haben die Haltung der Monarchie in der Frage der serbischen Ansprüche auf die Adria-Küste damit begründet, daß die Existenz eines lebensfähigen Großserbiens für die Monarchie bedrohlich sei, weil dann die von Serben bewohnten österreichisch-ungarischen Landesteile, in erster Linie also Bosnien und die Herzegowina, ebenso nach diesem serbischen Nationalstaat gravitieren würden, wie einst die Lombardei nach Piemont gravitierte. Gegen dies politische Argument kann nichts eingewendet werden. Die Gegner der aus¬ wärtigen Politik der Donaumonarchie stellen die Frage, ob dieses Argument nicht die österreichisch-ungarische Politik hätte veranlassen müssen, auch die jetzige Vergrößerung Serbiens, namentlich die Entstehung der serbisch-montenegrinischen Grenze, zu verhindern; und erst die Zukunft, die zeigen wird, ob die Monarchie imstande ist, die Vereinigung der beiden stammverwandten und nun aneinander- grenzenden Länder in jedem Falle zu verhindern, kann eine solche Frage beant¬ worten. Das Anwachsen der nationalen Tendenzen und damit der zentrifugalen Kräfte in Österreich-Ungarn macht die österreichisch-ungarische Frage in vielen 19*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/303>, abgerufen am 27.06.2024.