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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Ksterreich-Ungarn

Augen zu einem internationalen Problem der Zukunft. Viele, die mit der
Eigenart des Landes nicht vertraut sind, sagen unter dem Eindruck der nationalen
Streitigkeiten einen baldigen Verfall voraus. Die Frage, was aus Österreich-
Ungarn werden soll, scheint vielen wie ein Alpdruck auf der Zukunft Europas
zu liegen. Die Möglichkeit, daß Verwicklungen der Zukunft, vielleicht ein
unglücklicher Krieg, diesen Befürchtungen recht geben und das heute noch für
die internationale Politik latente Problem akut werden lassen, kann natürlich
nicht bestritten werden. Diejenigen indes, die in dem steigenden Nationalismus
einen inneren Zersetzungsprozeß sehen, der einen baldigen Verfall auch ohne
äußere Schicksale herbeiführen muß, übersehen einen wesentlichen Faktor. Das
dynastische Band allein hätte schwerlich ausgereicht, das Völkerchaos auch nur
bis heute staatlich zu einigen. Es müssen andere Faktoren in zentripetaler
Richtung wirken. Das sind einmal die Sonderinteressen wirtschaftlicher, ideeller,
politischer Natur, welche eine große Menge von den verschiedensten Nationalitäten
ungehörigen Einzelindividuen an die Einheit des Staates fesseln. Aber nicht
nur Sonderinteressen persönlicher Art sind mit dem Bestand der Monarchie ver¬
kettet, auch die Interessen der unter ihr geeinten Völker als Völker. Einzelne
dieser Völkerschaften würden ohne die Monarchie nichts bedeuten, würden ohne
sie als nationale Existenzen sich nicht halten können. Das ist zum Beispiel
der Fall der Polen. Es ist bis zu einem gewissen Grade auch der Fall der
Ungarn. Es ist der Fall der Tschechen. Für sie alle ist das Bestehen einer
Großmacht Österreich-Ungarn nationale Existenzbedingung. Insofern ist die
Steigerung des nationalen Lebenswillens der einzelnen Völkerschaften nicht gegen
den Bestand der Monarchie gerichtet. Ja, man kann sagen, die stärkste und
verlässigste Stütze finde die Monarchie gerade in dem Lebenswillen der
nationalen Völkerschaften, ja die Existenz des Gesamtstaates ermögliche den ein¬
zelnen Völkerschaften erst, sich in gegenseitigem Hader ohne das Risiko eigenen
Schadens zu entfalten und zu bewahren. Auf diesem eigenartigen Verhältnis
ruht die zähe Lebenskraft dieses seiner Natur nach zwar passiven Staates, und
es kann leicht sein, daß heute noch ungeborene Diplomaten diese Zähigkeit noch
in einer fernen Zukunft bewundern und bestaunen werden").





*) Wir entnehmen diesen Aufsatz dem bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart
erschienenen Buche "Grundzüge der Weltpolitik" <Band 2 des bon Karl Lamprecht und
Hans F. Helmolt herausgegebenen großen Sammelwerks "Das Weltbild der Gegenwart",
Die Schriftleitung Einzelpreis 6,60 M.),
Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Ksterreich-Ungarn

Augen zu einem internationalen Problem der Zukunft. Viele, die mit der
Eigenart des Landes nicht vertraut sind, sagen unter dem Eindruck der nationalen
Streitigkeiten einen baldigen Verfall voraus. Die Frage, was aus Österreich-
Ungarn werden soll, scheint vielen wie ein Alpdruck auf der Zukunft Europas
zu liegen. Die Möglichkeit, daß Verwicklungen der Zukunft, vielleicht ein
unglücklicher Krieg, diesen Befürchtungen recht geben und das heute noch für
die internationale Politik latente Problem akut werden lassen, kann natürlich
nicht bestritten werden. Diejenigen indes, die in dem steigenden Nationalismus
einen inneren Zersetzungsprozeß sehen, der einen baldigen Verfall auch ohne
äußere Schicksale herbeiführen muß, übersehen einen wesentlichen Faktor. Das
dynastische Band allein hätte schwerlich ausgereicht, das Völkerchaos auch nur
bis heute staatlich zu einigen. Es müssen andere Faktoren in zentripetaler
Richtung wirken. Das sind einmal die Sonderinteressen wirtschaftlicher, ideeller,
politischer Natur, welche eine große Menge von den verschiedensten Nationalitäten
ungehörigen Einzelindividuen an die Einheit des Staates fesseln. Aber nicht
nur Sonderinteressen persönlicher Art sind mit dem Bestand der Monarchie ver¬
kettet, auch die Interessen der unter ihr geeinten Völker als Völker. Einzelne
dieser Völkerschaften würden ohne die Monarchie nichts bedeuten, würden ohne
sie als nationale Existenzen sich nicht halten können. Das ist zum Beispiel
der Fall der Polen. Es ist bis zu einem gewissen Grade auch der Fall der
Ungarn. Es ist der Fall der Tschechen. Für sie alle ist das Bestehen einer
Großmacht Österreich-Ungarn nationale Existenzbedingung. Insofern ist die
Steigerung des nationalen Lebenswillens der einzelnen Völkerschaften nicht gegen
den Bestand der Monarchie gerichtet. Ja, man kann sagen, die stärkste und
verlässigste Stütze finde die Monarchie gerade in dem Lebenswillen der
nationalen Völkerschaften, ja die Existenz des Gesamtstaates ermögliche den ein¬
zelnen Völkerschaften erst, sich in gegenseitigem Hader ohne das Risiko eigenen
Schadens zu entfalten und zu bewahren. Auf diesem eigenartigen Verhältnis
ruht die zähe Lebenskraft dieses seiner Natur nach zwar passiven Staates, und
es kann leicht sein, daß heute noch ungeborene Diplomaten diese Zähigkeit noch
in einer fernen Zukunft bewundern und bestaunen werden").





*) Wir entnehmen diesen Aufsatz dem bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart
erschienenen Buche „Grundzüge der Weltpolitik" <Band 2 des bon Karl Lamprecht und
Hans F. Helmolt herausgegebenen großen Sammelwerks „Das Weltbild der Gegenwart",
Die Schriftleitung Einzelpreis 6,60 M.),
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[0304] Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Ksterreich-Ungarn Augen zu einem internationalen Problem der Zukunft. Viele, die mit der Eigenart des Landes nicht vertraut sind, sagen unter dem Eindruck der nationalen Streitigkeiten einen baldigen Verfall voraus. Die Frage, was aus Österreich- Ungarn werden soll, scheint vielen wie ein Alpdruck auf der Zukunft Europas zu liegen. Die Möglichkeit, daß Verwicklungen der Zukunft, vielleicht ein unglücklicher Krieg, diesen Befürchtungen recht geben und das heute noch für die internationale Politik latente Problem akut werden lassen, kann natürlich nicht bestritten werden. Diejenigen indes, die in dem steigenden Nationalismus einen inneren Zersetzungsprozeß sehen, der einen baldigen Verfall auch ohne äußere Schicksale herbeiführen muß, übersehen einen wesentlichen Faktor. Das dynastische Band allein hätte schwerlich ausgereicht, das Völkerchaos auch nur bis heute staatlich zu einigen. Es müssen andere Faktoren in zentripetaler Richtung wirken. Das sind einmal die Sonderinteressen wirtschaftlicher, ideeller, politischer Natur, welche eine große Menge von den verschiedensten Nationalitäten ungehörigen Einzelindividuen an die Einheit des Staates fesseln. Aber nicht nur Sonderinteressen persönlicher Art sind mit dem Bestand der Monarchie ver¬ kettet, auch die Interessen der unter ihr geeinten Völker als Völker. Einzelne dieser Völkerschaften würden ohne die Monarchie nichts bedeuten, würden ohne sie als nationale Existenzen sich nicht halten können. Das ist zum Beispiel der Fall der Polen. Es ist bis zu einem gewissen Grade auch der Fall der Ungarn. Es ist der Fall der Tschechen. Für sie alle ist das Bestehen einer Großmacht Österreich-Ungarn nationale Existenzbedingung. Insofern ist die Steigerung des nationalen Lebenswillens der einzelnen Völkerschaften nicht gegen den Bestand der Monarchie gerichtet. Ja, man kann sagen, die stärkste und verlässigste Stütze finde die Monarchie gerade in dem Lebenswillen der nationalen Völkerschaften, ja die Existenz des Gesamtstaates ermögliche den ein¬ zelnen Völkerschaften erst, sich in gegenseitigem Hader ohne das Risiko eigenen Schadens zu entfalten und zu bewahren. Auf diesem eigenartigen Verhältnis ruht die zähe Lebenskraft dieses seiner Natur nach zwar passiven Staates, und es kann leicht sein, daß heute noch ungeborene Diplomaten diese Zähigkeit noch in einer fernen Zukunft bewundern und bestaunen werden"). *) Wir entnehmen diesen Aufsatz dem bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschienenen Buche „Grundzüge der Weltpolitik" <Band 2 des bon Karl Lamprecht und Hans F. Helmolt herausgegebenen großen Sammelwerks „Das Weltbild der Gegenwart", Die Schriftleitung Einzelpreis 6,60 M.),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/304>, abgerufen am 25.07.2024.