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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Österreich-Ungarn

Kraft dieser Bewegung war jede künstliche Gewalt machtlos. Die italienischen
Grenzbezirke, die der österreichisch - ungarischen Dynastie verblieben, gravitieren
auch heute noch nach Italien; und wenn dem Triester und Trienter Jrre-
dentrsmus, der zwar der inneren Politik der Monarchie immer steigende
Schwierigkeiten macht, nicht die gleiche Bedeutung für die auswärtige Politik
zukommt wie der ehemaligen lombardischen Frage, so liegt das nicht an der
Schwäche der nationalen Bewegung, sondern auf der einen Seite an einer Reihe
politischer Faktoren, welche das Königreich Italien und die Donaumonarchie
einander näherten, auf der anderen Seite an dem geringen Raum der strittigen
Gebiete, deren Bevölkerung überdies zum Teil mit Elementen anderer Natio¬
nalität durchsetzt ist. Von dem deutschen Besitz verblieben dem Hause Habs¬
burg seine alten Stammlande, die durch Jahrhunderte treubewahrter Erinnerung
wie kein anderer Teil der Monarchie mit dem stammverwandten Herrscherhause
verbunden sind. Hier hat sich keine der österreichisch - ungarischen Politik
irgendwie gefährliche zentrifugale Tendenz entwickelt; die Gründe dafür wird
man in der partikularistischen Eigenart der Deutschen und in dem Umstände
zu suchen haben, daß die große Mehrheit der österreichischen Deutschen katholisch,
die Vormacht des Deutschen Reiches das protestantische Preußen ist. Zudem
läßt das enge Freundschaftsverhältnis zwischen beiden Staaten, die nun schon
beinahe vier Jahrzehnte in allen Fragen Schulter an Schulter stehen, einer
solchen Bewegung keinen Raum. Wenn indes gesagt wird, daß das Bündnis
beider Staaten nicht nur auf ihren Interessen, sondern auch auf dem nationalen
Empfinden der Deutschen Österreichs ruht, und daß eine österreichisch-ungarische
Regierung, welche ihre Politik gegen das Deutsche Reich orientieren würde,
dabei den Beifall der deutschen Bevölkerung der Monarchie nicht finden würde,
so ist damit die latente Wirksamkeit einer nationalen Bewegung auch in diesem
Falle anerkannt.

Die wachsende nationale Tendenz hat Österreich-Ungarn aus Deutschland
und Italien verdrängt. Seit jener Zeit ist die Auseinandersetzung mit der
nationalen Tendenz zum eigentlichen Inhalt der österreichisch-ungarischen Politik
geworden. Sie ist immer schwieriger geworden und ist heute schlechtweg das
Problem dieser Politik. Die verschiedenen Völkerschaften, die früher unter dem
Zepter Habsburgs schlecht und recht nebeneinander wohnten, sind immer unver¬
träglicher geworden; überall haben sich die Gegensätze verschärft, die Neibungs-
flächen vermehrt. Des Haders ist kein Ende. Auch die Formen und Mittel
des Kampfes werden schärfere. Immer neue Fragen tauchen auf oder in
immer neuen Variationen die gleiche Frage. Und immer scheint sich nicht viel
mehr tun zu lassen, als durch ein Kompromiß die Lösung zu vertagen. In
irgendeinem der Parlamente der Doppelmonarchie ist immer irgendeine nationale
Obstruktion, bald im böhmischen Landtag der Tschechen oder Deutschen, bald
im ungarischen Reichstag der Kroaten oder Rumänen, bald im österreichischen
Reichsrat der Slowenen, Ruthenen, Italiener. Und seit Jahren haben die


Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Österreich-Ungarn

Kraft dieser Bewegung war jede künstliche Gewalt machtlos. Die italienischen
Grenzbezirke, die der österreichisch - ungarischen Dynastie verblieben, gravitieren
auch heute noch nach Italien; und wenn dem Triester und Trienter Jrre-
dentrsmus, der zwar der inneren Politik der Monarchie immer steigende
Schwierigkeiten macht, nicht die gleiche Bedeutung für die auswärtige Politik
zukommt wie der ehemaligen lombardischen Frage, so liegt das nicht an der
Schwäche der nationalen Bewegung, sondern auf der einen Seite an einer Reihe
politischer Faktoren, welche das Königreich Italien und die Donaumonarchie
einander näherten, auf der anderen Seite an dem geringen Raum der strittigen
Gebiete, deren Bevölkerung überdies zum Teil mit Elementen anderer Natio¬
nalität durchsetzt ist. Von dem deutschen Besitz verblieben dem Hause Habs¬
burg seine alten Stammlande, die durch Jahrhunderte treubewahrter Erinnerung
wie kein anderer Teil der Monarchie mit dem stammverwandten Herrscherhause
verbunden sind. Hier hat sich keine der österreichisch - ungarischen Politik
irgendwie gefährliche zentrifugale Tendenz entwickelt; die Gründe dafür wird
man in der partikularistischen Eigenart der Deutschen und in dem Umstände
zu suchen haben, daß die große Mehrheit der österreichischen Deutschen katholisch,
die Vormacht des Deutschen Reiches das protestantische Preußen ist. Zudem
läßt das enge Freundschaftsverhältnis zwischen beiden Staaten, die nun schon
beinahe vier Jahrzehnte in allen Fragen Schulter an Schulter stehen, einer
solchen Bewegung keinen Raum. Wenn indes gesagt wird, daß das Bündnis
beider Staaten nicht nur auf ihren Interessen, sondern auch auf dem nationalen
Empfinden der Deutschen Österreichs ruht, und daß eine österreichisch-ungarische
Regierung, welche ihre Politik gegen das Deutsche Reich orientieren würde,
dabei den Beifall der deutschen Bevölkerung der Monarchie nicht finden würde,
so ist damit die latente Wirksamkeit einer nationalen Bewegung auch in diesem
Falle anerkannt.

Die wachsende nationale Tendenz hat Österreich-Ungarn aus Deutschland
und Italien verdrängt. Seit jener Zeit ist die Auseinandersetzung mit der
nationalen Tendenz zum eigentlichen Inhalt der österreichisch-ungarischen Politik
geworden. Sie ist immer schwieriger geworden und ist heute schlechtweg das
Problem dieser Politik. Die verschiedenen Völkerschaften, die früher unter dem
Zepter Habsburgs schlecht und recht nebeneinander wohnten, sind immer unver¬
träglicher geworden; überall haben sich die Gegensätze verschärft, die Neibungs-
flächen vermehrt. Des Haders ist kein Ende. Auch die Formen und Mittel
des Kampfes werden schärfere. Immer neue Fragen tauchen auf oder in
immer neuen Variationen die gleiche Frage. Und immer scheint sich nicht viel
mehr tun zu lassen, als durch ein Kompromiß die Lösung zu vertagen. In
irgendeinem der Parlamente der Doppelmonarchie ist immer irgendeine nationale
Obstruktion, bald im böhmischen Landtag der Tschechen oder Deutschen, bald
im ungarischen Reichstag der Kroaten oder Rumänen, bald im österreichischen
Reichsrat der Slowenen, Ruthenen, Italiener. Und seit Jahren haben die


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[0302] Die Entwicklung der nationalen Tendenzen in Österreich-Ungarn Kraft dieser Bewegung war jede künstliche Gewalt machtlos. Die italienischen Grenzbezirke, die der österreichisch - ungarischen Dynastie verblieben, gravitieren auch heute noch nach Italien; und wenn dem Triester und Trienter Jrre- dentrsmus, der zwar der inneren Politik der Monarchie immer steigende Schwierigkeiten macht, nicht die gleiche Bedeutung für die auswärtige Politik zukommt wie der ehemaligen lombardischen Frage, so liegt das nicht an der Schwäche der nationalen Bewegung, sondern auf der einen Seite an einer Reihe politischer Faktoren, welche das Königreich Italien und die Donaumonarchie einander näherten, auf der anderen Seite an dem geringen Raum der strittigen Gebiete, deren Bevölkerung überdies zum Teil mit Elementen anderer Natio¬ nalität durchsetzt ist. Von dem deutschen Besitz verblieben dem Hause Habs¬ burg seine alten Stammlande, die durch Jahrhunderte treubewahrter Erinnerung wie kein anderer Teil der Monarchie mit dem stammverwandten Herrscherhause verbunden sind. Hier hat sich keine der österreichisch - ungarischen Politik irgendwie gefährliche zentrifugale Tendenz entwickelt; die Gründe dafür wird man in der partikularistischen Eigenart der Deutschen und in dem Umstände zu suchen haben, daß die große Mehrheit der österreichischen Deutschen katholisch, die Vormacht des Deutschen Reiches das protestantische Preußen ist. Zudem läßt das enge Freundschaftsverhältnis zwischen beiden Staaten, die nun schon beinahe vier Jahrzehnte in allen Fragen Schulter an Schulter stehen, einer solchen Bewegung keinen Raum. Wenn indes gesagt wird, daß das Bündnis beider Staaten nicht nur auf ihren Interessen, sondern auch auf dem nationalen Empfinden der Deutschen Österreichs ruht, und daß eine österreichisch-ungarische Regierung, welche ihre Politik gegen das Deutsche Reich orientieren würde, dabei den Beifall der deutschen Bevölkerung der Monarchie nicht finden würde, so ist damit die latente Wirksamkeit einer nationalen Bewegung auch in diesem Falle anerkannt. Die wachsende nationale Tendenz hat Österreich-Ungarn aus Deutschland und Italien verdrängt. Seit jener Zeit ist die Auseinandersetzung mit der nationalen Tendenz zum eigentlichen Inhalt der österreichisch-ungarischen Politik geworden. Sie ist immer schwieriger geworden und ist heute schlechtweg das Problem dieser Politik. Die verschiedenen Völkerschaften, die früher unter dem Zepter Habsburgs schlecht und recht nebeneinander wohnten, sind immer unver¬ träglicher geworden; überall haben sich die Gegensätze verschärft, die Neibungs- flächen vermehrt. Des Haders ist kein Ende. Auch die Formen und Mittel des Kampfes werden schärfere. Immer neue Fragen tauchen auf oder in immer neuen Variationen die gleiche Frage. Und immer scheint sich nicht viel mehr tun zu lassen, als durch ein Kompromiß die Lösung zu vertagen. In irgendeinem der Parlamente der Doppelmonarchie ist immer irgendeine nationale Obstruktion, bald im böhmischen Landtag der Tschechen oder Deutschen, bald im ungarischen Reichstag der Kroaten oder Rumänen, bald im österreichischen Reichsrat der Slowenen, Ruthenen, Italiener. Und seit Jahren haben die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/302>, abgerufen am 04.07.2024.