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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Grimmsche Märchen wirkungsvoll zu erzählen. Die Anführung von Beispielen
muß ich mir hier versagen, eine Nachprüfung wird dem Leser aber die über¬
raschendsten Ergebnisse zeigen. Aus ganz dem gleichen Grunde vermag auch
Musäus, bei dem die literarische Färbung allerdings noch viel weiter geht, keine
lebendige Wirkung mehr auszuüben, es sei denn auf literarhistorisch gebildete
Feinschmecker. Die Wisserschen Märchen dagegen sind im reinsten Erzählerstil
gehalten und können geradezu eine Offenbarung für denjenigen werden, der
bemerkt hat. wie hinderlich uns unsere literarischen Gewohnheiten beim Erzählen
werden. In den Dialekt wird man sich ohne Mühe hineinlesen, für den An¬
fänger sind überdies ein vortrefflicher grammatischer Abriß und ein Wörter¬
verzeichnis beigegeben.

Ich müßte halbe Stücke ausschreiben, wollte ^ich einen Begriff geben von
der naiven Kunst, der lebendigen Schönheit und köstlichen Kraft, die in dieser
Sammlung hervortreten, und eine Analyse, die auf alle Feinheiten des Stiles
einginge, würde den Raum einer kleinen Broschüre einnehmen. Ich muß mich
daher auf ein paar Andeutungen beschränken. Die realen Grundlagen des
Erzählerstiles sind oben kurz berührt. Die Erzählung ist ein in gleichmäßiger
Stetigkeit Fortschreitendes; alles, Exposition, Detail und Schilderung, Ver¬
knüpfung und Verwicklung, hat sich diesem Stilprinzip unterzuordnen. Die
Exposition ist durchweg von der größten, denkbaren Knappheit. Meist werden
nur die wichtigsten Personen aufgeführt. "Es ist mal ein König gewesen, der
ist mal spazieren gefahren im Wald. Und da trifft er ein hübsches Mädchen,
die geht barfuß." Damit setzt sofort die Handlung ein. Das Volksmärchen
braucht nicht viel Voraussetzungen, Personen und Verhältnisse sind typisch (was
feine Charakterzeichnung nicht ausschließt) und werden sofort von der Phantasie
ausgestattet.

Was wir noch wissen müssen, wird beiläufig nachgeholt, wenn es anfängt
in Wirkung zu treten. Wie köstlich ist der folgende Anfang einer wunderbaren
König Drosselbart-Variante: "Fritz von Preußen wollte sich verheiraten und
wollte die österreichische Prinzessin haben. Und da schreibt er ihr einen Antrags¬
brief." Das weitere geht schon gleich in Erzählung über: "Da schreibt sie ihm
zurück: so ein powres Land wie Preußen, da frißt man ja nichts als gesalzenen
Hering, dafür bedankt sie sich." (Nebenbei ein interessantes Beispiel, wie die
Volksphantasie historische Beziehungen umdeutet: die Prinzessin ist die anfangs
feindliche, stolze, schließlich überwundene Maria Theresia. Vergleiche über diesen
Punkt das achtzehnte Kapitel des 1907 hier (Heft 48) warm empfohlenen, jetzt in
zweiter verbesserter Auflage vorliegenden Buches von O. Böckel "Psychologie der
Volksdichtung", Teubner 1913.) Man vergleiche mit diesem prächtigen Eingang die
langwierige und blasse, opernhafte Einleitung von Grimms "König Drossel¬
bart". Eine Verabredung, ein Vertrag wird, wo es irgend angeht, in
dramatische Rede und Widerrede aufgelöst, und was man an Homer und
Goethe als Kennzeichen edelster epischer Kunst gerühmt hat: die Auflösung


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Grimmsche Märchen wirkungsvoll zu erzählen. Die Anführung von Beispielen
muß ich mir hier versagen, eine Nachprüfung wird dem Leser aber die über¬
raschendsten Ergebnisse zeigen. Aus ganz dem gleichen Grunde vermag auch
Musäus, bei dem die literarische Färbung allerdings noch viel weiter geht, keine
lebendige Wirkung mehr auszuüben, es sei denn auf literarhistorisch gebildete
Feinschmecker. Die Wisserschen Märchen dagegen sind im reinsten Erzählerstil
gehalten und können geradezu eine Offenbarung für denjenigen werden, der
bemerkt hat. wie hinderlich uns unsere literarischen Gewohnheiten beim Erzählen
werden. In den Dialekt wird man sich ohne Mühe hineinlesen, für den An¬
fänger sind überdies ein vortrefflicher grammatischer Abriß und ein Wörter¬
verzeichnis beigegeben.

Ich müßte halbe Stücke ausschreiben, wollte ^ich einen Begriff geben von
der naiven Kunst, der lebendigen Schönheit und köstlichen Kraft, die in dieser
Sammlung hervortreten, und eine Analyse, die auf alle Feinheiten des Stiles
einginge, würde den Raum einer kleinen Broschüre einnehmen. Ich muß mich
daher auf ein paar Andeutungen beschränken. Die realen Grundlagen des
Erzählerstiles sind oben kurz berührt. Die Erzählung ist ein in gleichmäßiger
Stetigkeit Fortschreitendes; alles, Exposition, Detail und Schilderung, Ver¬
knüpfung und Verwicklung, hat sich diesem Stilprinzip unterzuordnen. Die
Exposition ist durchweg von der größten, denkbaren Knappheit. Meist werden
nur die wichtigsten Personen aufgeführt. „Es ist mal ein König gewesen, der
ist mal spazieren gefahren im Wald. Und da trifft er ein hübsches Mädchen,
die geht barfuß." Damit setzt sofort die Handlung ein. Das Volksmärchen
braucht nicht viel Voraussetzungen, Personen und Verhältnisse sind typisch (was
feine Charakterzeichnung nicht ausschließt) und werden sofort von der Phantasie
ausgestattet.

Was wir noch wissen müssen, wird beiläufig nachgeholt, wenn es anfängt
in Wirkung zu treten. Wie köstlich ist der folgende Anfang einer wunderbaren
König Drosselbart-Variante: „Fritz von Preußen wollte sich verheiraten und
wollte die österreichische Prinzessin haben. Und da schreibt er ihr einen Antrags¬
brief." Das weitere geht schon gleich in Erzählung über: „Da schreibt sie ihm
zurück: so ein powres Land wie Preußen, da frißt man ja nichts als gesalzenen
Hering, dafür bedankt sie sich." (Nebenbei ein interessantes Beispiel, wie die
Volksphantasie historische Beziehungen umdeutet: die Prinzessin ist die anfangs
feindliche, stolze, schließlich überwundene Maria Theresia. Vergleiche über diesen
Punkt das achtzehnte Kapitel des 1907 hier (Heft 48) warm empfohlenen, jetzt in
zweiter verbesserter Auflage vorliegenden Buches von O. Böckel „Psychologie der
Volksdichtung", Teubner 1913.) Man vergleiche mit diesem prächtigen Eingang die
langwierige und blasse, opernhafte Einleitung von Grimms „König Drossel¬
bart". Eine Verabredung, ein Vertrag wird, wo es irgend angeht, in
dramatische Rede und Widerrede aufgelöst, und was man an Homer und
Goethe als Kennzeichen edelster epischer Kunst gerühmt hat: die Auflösung


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[0294] Line sterbende Aunst Grimmsche Märchen wirkungsvoll zu erzählen. Die Anführung von Beispielen muß ich mir hier versagen, eine Nachprüfung wird dem Leser aber die über¬ raschendsten Ergebnisse zeigen. Aus ganz dem gleichen Grunde vermag auch Musäus, bei dem die literarische Färbung allerdings noch viel weiter geht, keine lebendige Wirkung mehr auszuüben, es sei denn auf literarhistorisch gebildete Feinschmecker. Die Wisserschen Märchen dagegen sind im reinsten Erzählerstil gehalten und können geradezu eine Offenbarung für denjenigen werden, der bemerkt hat. wie hinderlich uns unsere literarischen Gewohnheiten beim Erzählen werden. In den Dialekt wird man sich ohne Mühe hineinlesen, für den An¬ fänger sind überdies ein vortrefflicher grammatischer Abriß und ein Wörter¬ verzeichnis beigegeben. Ich müßte halbe Stücke ausschreiben, wollte ^ich einen Begriff geben von der naiven Kunst, der lebendigen Schönheit und köstlichen Kraft, die in dieser Sammlung hervortreten, und eine Analyse, die auf alle Feinheiten des Stiles einginge, würde den Raum einer kleinen Broschüre einnehmen. Ich muß mich daher auf ein paar Andeutungen beschränken. Die realen Grundlagen des Erzählerstiles sind oben kurz berührt. Die Erzählung ist ein in gleichmäßiger Stetigkeit Fortschreitendes; alles, Exposition, Detail und Schilderung, Ver¬ knüpfung und Verwicklung, hat sich diesem Stilprinzip unterzuordnen. Die Exposition ist durchweg von der größten, denkbaren Knappheit. Meist werden nur die wichtigsten Personen aufgeführt. „Es ist mal ein König gewesen, der ist mal spazieren gefahren im Wald. Und da trifft er ein hübsches Mädchen, die geht barfuß." Damit setzt sofort die Handlung ein. Das Volksmärchen braucht nicht viel Voraussetzungen, Personen und Verhältnisse sind typisch (was feine Charakterzeichnung nicht ausschließt) und werden sofort von der Phantasie ausgestattet. Was wir noch wissen müssen, wird beiläufig nachgeholt, wenn es anfängt in Wirkung zu treten. Wie köstlich ist der folgende Anfang einer wunderbaren König Drosselbart-Variante: „Fritz von Preußen wollte sich verheiraten und wollte die österreichische Prinzessin haben. Und da schreibt er ihr einen Antrags¬ brief." Das weitere geht schon gleich in Erzählung über: „Da schreibt sie ihm zurück: so ein powres Land wie Preußen, da frißt man ja nichts als gesalzenen Hering, dafür bedankt sie sich." (Nebenbei ein interessantes Beispiel, wie die Volksphantasie historische Beziehungen umdeutet: die Prinzessin ist die anfangs feindliche, stolze, schließlich überwundene Maria Theresia. Vergleiche über diesen Punkt das achtzehnte Kapitel des 1907 hier (Heft 48) warm empfohlenen, jetzt in zweiter verbesserter Auflage vorliegenden Buches von O. Böckel „Psychologie der Volksdichtung", Teubner 1913.) Man vergleiche mit diesem prächtigen Eingang die langwierige und blasse, opernhafte Einleitung von Grimms „König Drossel¬ bart". Eine Verabredung, ein Vertrag wird, wo es irgend angeht, in dramatische Rede und Widerrede aufgelöst, und was man an Homer und Goethe als Kennzeichen edelster epischer Kunst gerühmt hat: die Auflösung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/294>, abgerufen am 21.06.2024.