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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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ganz bestimmten Kreis geschaffen. Dabei hat dann die Vorstellung, ob sie sich
diesen Kreis als lesend oder hörend dachten, bewußt oder unbewußt, sehr be¬
deutend auf ihren Stil eingewirkt.

Der Schreiber, der mit dem Leser rechnet, kann sich Abschweifungen erlauben,
Episoden, lange Reden, lyrische Schilderungen, er kann Briefe einschicken oder
sich in eingehenden Analysen ergehen. Das bezeichnendste Beispiel dieser Lese¬
literatur bieten wohl die Romane des siebzehnten Jahrhunderts. Ganz anders
der Erzähler. Er hat unter allen Umständen zu verhindern, daß die Zuhörer
ermüden oder davonlaufen und so ist er zur Kürze, zur Konzentration, zur
Klarheit, anderseits zur höchsten Lebendigkeit gezwungen. Lange Beschreibung
ist unnütz, da sie zu rasch vorübergeht, um aufgenommen zu werden. In all
dem scheint zunächst, gegenüber den reichen Mitteln des Schreibers, eine Ver¬
armung zu liegen. Aber die ausgleichende Bereicherung liegt im Material: in
der lebendig wirkenden Rede. Durch Geste und Mienenspiel, durch Tempo¬
wechsel und Tonfall, durch Rhythmus und Akzent vermag er Wirkungen zu
erreichen, die der Schreiber nur mit größter Umständlichkeit erlangen kann. Es
ist also eine durchaus ebenbürtige und eigenartige Kunst, mit der wir es hier
zu tun haben, und die eingehende Pflege wohl lohnen würde, die ihrer freilich
auch dringend bedarf.

Denn das wollen wir uns nicht verhehlen: diese Kunst ist infolge unserer
weitgehenden, vielfach unheilvoll wirkenden Bücherbildung nahezu am Aus¬
sterben. Sollte sie wirklich ganz verschwinden, so würden wir uns damit nicht
nur reicher künstlerischer Möglichkeiten, sondern auch eines vorzüglichen Mittels
der Jugendbildung berauben. AIs Führer zur Neubelebung mögen nun die
kürzlich in der verdienstvollen Sammlung "Die Märchen der Weltliteratur"
(Diederichs. Jena) erschienenen "Plattdeutschen Märchen" dienen. Diese Publi¬
kation hat, abgesehen von ihrem inneren und wissenschaftlichen Wert, zwei
große Vorzüge vor den meisten ähnlichen. Einmal hat sich der Sammler,
Wilhelm Wisser, nicht mit der stenographischen Aufzeichnung der Märchen be¬
gnügt, sondern ist bemüht gewesen, unter allen Varianten jedesmal die künst¬
lerisch beste Fassung herauszuarbeiten, wodurch die Sammlung auch in weitere
Kreise Eingang zu finden geeignet ist, zweitens aber hat er, was für unsere
Zwecke besonders wichtig ist, von jeder literarischen Färbung abgesehen, so daß
die Vorzüge des echten Erzählerstiles durchaus klar hervortreten. Dazu war
vor allem die Bewahrung des Dialekts nötig. Denn unser Schrifthochdeutsch
beruht ja völlig auf literarischer Grundlage, kann also dem echten Erzählerstil
nicht ohne weiteres als Medium dienen, und es ist unglaublich, wie viele künst¬
lerische Feinheiten durch eine Übertragung aus dem Dialekt in das Hochdeutsche
verloren gehen. Das haben bei einzelnen Stücken auch die Brüder Grimm
empfunden (Machandelboom. Fischer und syne Fru). bei den meisten sind sie
jedoch durchaus literarisch verfahren. Dadurch hat der Stil vielfach beträchtliche
Einbuße erfahren, was jeder gespürt haben wird, der einmal versucht hat,


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ganz bestimmten Kreis geschaffen. Dabei hat dann die Vorstellung, ob sie sich
diesen Kreis als lesend oder hörend dachten, bewußt oder unbewußt, sehr be¬
deutend auf ihren Stil eingewirkt.

Der Schreiber, der mit dem Leser rechnet, kann sich Abschweifungen erlauben,
Episoden, lange Reden, lyrische Schilderungen, er kann Briefe einschicken oder
sich in eingehenden Analysen ergehen. Das bezeichnendste Beispiel dieser Lese¬
literatur bieten wohl die Romane des siebzehnten Jahrhunderts. Ganz anders
der Erzähler. Er hat unter allen Umständen zu verhindern, daß die Zuhörer
ermüden oder davonlaufen und so ist er zur Kürze, zur Konzentration, zur
Klarheit, anderseits zur höchsten Lebendigkeit gezwungen. Lange Beschreibung
ist unnütz, da sie zu rasch vorübergeht, um aufgenommen zu werden. In all
dem scheint zunächst, gegenüber den reichen Mitteln des Schreibers, eine Ver¬
armung zu liegen. Aber die ausgleichende Bereicherung liegt im Material: in
der lebendig wirkenden Rede. Durch Geste und Mienenspiel, durch Tempo¬
wechsel und Tonfall, durch Rhythmus und Akzent vermag er Wirkungen zu
erreichen, die der Schreiber nur mit größter Umständlichkeit erlangen kann. Es
ist also eine durchaus ebenbürtige und eigenartige Kunst, mit der wir es hier
zu tun haben, und die eingehende Pflege wohl lohnen würde, die ihrer freilich
auch dringend bedarf.

Denn das wollen wir uns nicht verhehlen: diese Kunst ist infolge unserer
weitgehenden, vielfach unheilvoll wirkenden Bücherbildung nahezu am Aus¬
sterben. Sollte sie wirklich ganz verschwinden, so würden wir uns damit nicht
nur reicher künstlerischer Möglichkeiten, sondern auch eines vorzüglichen Mittels
der Jugendbildung berauben. AIs Führer zur Neubelebung mögen nun die
kürzlich in der verdienstvollen Sammlung „Die Märchen der Weltliteratur"
(Diederichs. Jena) erschienenen „Plattdeutschen Märchen" dienen. Diese Publi¬
kation hat, abgesehen von ihrem inneren und wissenschaftlichen Wert, zwei
große Vorzüge vor den meisten ähnlichen. Einmal hat sich der Sammler,
Wilhelm Wisser, nicht mit der stenographischen Aufzeichnung der Märchen be¬
gnügt, sondern ist bemüht gewesen, unter allen Varianten jedesmal die künst¬
lerisch beste Fassung herauszuarbeiten, wodurch die Sammlung auch in weitere
Kreise Eingang zu finden geeignet ist, zweitens aber hat er, was für unsere
Zwecke besonders wichtig ist, von jeder literarischen Färbung abgesehen, so daß
die Vorzüge des echten Erzählerstiles durchaus klar hervortreten. Dazu war
vor allem die Bewahrung des Dialekts nötig. Denn unser Schrifthochdeutsch
beruht ja völlig auf literarischer Grundlage, kann also dem echten Erzählerstil
nicht ohne weiteres als Medium dienen, und es ist unglaublich, wie viele künst¬
lerische Feinheiten durch eine Übertragung aus dem Dialekt in das Hochdeutsche
verloren gehen. Das haben bei einzelnen Stücken auch die Brüder Grimm
empfunden (Machandelboom. Fischer und syne Fru). bei den meisten sind sie
jedoch durchaus literarisch verfahren. Dadurch hat der Stil vielfach beträchtliche
Einbuße erfahren, was jeder gespürt haben wird, der einmal versucht hat,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/293>, abgerufen am 21.06.2024.