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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Line sterbende Kunst

Über den Begriff der literarischen Volkstümlichkeit bestehen nämlich in
Laien- und zuweilen auch in Fachkreisen recht verwirrte Begriffe. Die land¬
läufige Meinung geht dahin, daß der Unterschied von höherer und niederer
oder Volksliteratur lediglich in der verschiedenen Weite des Bildungshorizontes
bestehe. Diese Meinung, die zum Teil durch die Art erzeugt worden ist, wie
unsere großen Schriftsteller bei uns populär "gemacht" werden, ist grundfalsch.
Jeder weiß aus eigener Erfahrung Bücher zu nennen, die ihm in jugendlichem
Alter großen Eindruck gemacht, ja ihn tief beeinflußt haben, ohne daß sie recht
verstanden wurden; andererseits kann das Gegenteil, daß dem Verständnis der
Jugend ausdrücklich angepaßte Werke als langweilig gemieden werden, jeden Tag
beobachtet werden. Um ein Beispiel zu nennen: Goethes "Faust" ist eines der
populärsten Bücher, obwohl es gleichzeitig eines der schwierigsten ist. Es
geht also nicht an, das Volksbewußtsein einfach mit dem des Kindes zu iden¬
tifizieren und das Volk dadurch bilden zu wollen, daß man es vom Einfachen
zum schweren leitet und letzteres durch Kommentare zugänglich zu machen sucht.
Der Mann aus dem Volke ist kein Kind, sondern ein erfahrener und aus¬
gereifter Mensch, der sich nicht bilden, sondern sein Kunstbedürfnis befriedigt
sehen will.

Der wesentliche Unterschied zwischen Volks- und literarischer Dichtung ist
vielmehr der, daß der Volksdichter (als Typus) spricht oder singt, während der
Literat, der Kunstdichter schreibt. Dieser Unterschied, den ich wesentlich nenne,
scheint zunächst rein äußerlich zu sein; in Wahrheit ist er so fundamental wie
etwa der zwischen Maler und Bildhauer. Volksdichter und Literat arbeiten in
wesentlich verschiedenem Material. Allerdings ist dieses beide Male in der
Sprache gegeben, aber es wird doch grundverschieden behandelt. Jedermann
weiß, daß man vieles nur mündlich sagen kann, weil es schriftlich schief heraus¬
kommen würde, daß in anderen Dingen wiederum Briefe besser wirken als
mündliche Unterredung. Kein guter Redner läßt eine frei gehaltene Rede, die
gezündet hat, im Wortlaut drucken, weil Gesprochenes anders wirkt als Ge¬
schriebenes, und mancher gute Prosavorleser wird beobachtet haben, daß es
Werke gibt, die geradezu laut gelesen werden müssen, andere, die, wenn sie
wirken sollen, nicht selten einer Änderung des Wortlautes bedürfen, und wieder
andere, die, ohne daß sie im sogenannten papierener Stil geschrieben wären,
das Vorgelesenwerden überhaupt nicht vertragen.

Als Dogma für den heutigen Kunstdichter gilt ja eigentlich, daß er beim
Schreiben an ein Publikum überhaupt nicht zu denken habe, sondern nur "für
die Kunst" oder für sich schreibe. Ohne nun über Berechtigung oder Nicht-
berechtigung dieses Dogmas streiten zu wollen, kann man doch soviel sagen,
daß daraus der häufige Mißerfolg unserer Künstler erklärlich wird: das Kunst"
wollen entspricht eben in keiner Weise mehr dem Kunstbedürfnis. Erst wo
dieses befriedigt wird, ist eine nachhaltige Wirkung der Kunst möglich. Tat¬
sächlich haben denn auch die meisten großen Erzähler ursprünglich für einen


Line sterbende Kunst

Über den Begriff der literarischen Volkstümlichkeit bestehen nämlich in
Laien- und zuweilen auch in Fachkreisen recht verwirrte Begriffe. Die land¬
läufige Meinung geht dahin, daß der Unterschied von höherer und niederer
oder Volksliteratur lediglich in der verschiedenen Weite des Bildungshorizontes
bestehe. Diese Meinung, die zum Teil durch die Art erzeugt worden ist, wie
unsere großen Schriftsteller bei uns populär „gemacht" werden, ist grundfalsch.
Jeder weiß aus eigener Erfahrung Bücher zu nennen, die ihm in jugendlichem
Alter großen Eindruck gemacht, ja ihn tief beeinflußt haben, ohne daß sie recht
verstanden wurden; andererseits kann das Gegenteil, daß dem Verständnis der
Jugend ausdrücklich angepaßte Werke als langweilig gemieden werden, jeden Tag
beobachtet werden. Um ein Beispiel zu nennen: Goethes „Faust" ist eines der
populärsten Bücher, obwohl es gleichzeitig eines der schwierigsten ist. Es
geht also nicht an, das Volksbewußtsein einfach mit dem des Kindes zu iden¬
tifizieren und das Volk dadurch bilden zu wollen, daß man es vom Einfachen
zum schweren leitet und letzteres durch Kommentare zugänglich zu machen sucht.
Der Mann aus dem Volke ist kein Kind, sondern ein erfahrener und aus¬
gereifter Mensch, der sich nicht bilden, sondern sein Kunstbedürfnis befriedigt
sehen will.

Der wesentliche Unterschied zwischen Volks- und literarischer Dichtung ist
vielmehr der, daß der Volksdichter (als Typus) spricht oder singt, während der
Literat, der Kunstdichter schreibt. Dieser Unterschied, den ich wesentlich nenne,
scheint zunächst rein äußerlich zu sein; in Wahrheit ist er so fundamental wie
etwa der zwischen Maler und Bildhauer. Volksdichter und Literat arbeiten in
wesentlich verschiedenem Material. Allerdings ist dieses beide Male in der
Sprache gegeben, aber es wird doch grundverschieden behandelt. Jedermann
weiß, daß man vieles nur mündlich sagen kann, weil es schriftlich schief heraus¬
kommen würde, daß in anderen Dingen wiederum Briefe besser wirken als
mündliche Unterredung. Kein guter Redner läßt eine frei gehaltene Rede, die
gezündet hat, im Wortlaut drucken, weil Gesprochenes anders wirkt als Ge¬
schriebenes, und mancher gute Prosavorleser wird beobachtet haben, daß es
Werke gibt, die geradezu laut gelesen werden müssen, andere, die, wenn sie
wirken sollen, nicht selten einer Änderung des Wortlautes bedürfen, und wieder
andere, die, ohne daß sie im sogenannten papierener Stil geschrieben wären,
das Vorgelesenwerden überhaupt nicht vertragen.

Als Dogma für den heutigen Kunstdichter gilt ja eigentlich, daß er beim
Schreiben an ein Publikum überhaupt nicht zu denken habe, sondern nur „für
die Kunst" oder für sich schreibe. Ohne nun über Berechtigung oder Nicht-
berechtigung dieses Dogmas streiten zu wollen, kann man doch soviel sagen,
daß daraus der häufige Mißerfolg unserer Künstler erklärlich wird: das Kunst«
wollen entspricht eben in keiner Weise mehr dem Kunstbedürfnis. Erst wo
dieses befriedigt wird, ist eine nachhaltige Wirkung der Kunst möglich. Tat¬
sächlich haben denn auch die meisten großen Erzähler ursprünglich für einen


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[0292] Line sterbende Kunst Über den Begriff der literarischen Volkstümlichkeit bestehen nämlich in Laien- und zuweilen auch in Fachkreisen recht verwirrte Begriffe. Die land¬ läufige Meinung geht dahin, daß der Unterschied von höherer und niederer oder Volksliteratur lediglich in der verschiedenen Weite des Bildungshorizontes bestehe. Diese Meinung, die zum Teil durch die Art erzeugt worden ist, wie unsere großen Schriftsteller bei uns populär „gemacht" werden, ist grundfalsch. Jeder weiß aus eigener Erfahrung Bücher zu nennen, die ihm in jugendlichem Alter großen Eindruck gemacht, ja ihn tief beeinflußt haben, ohne daß sie recht verstanden wurden; andererseits kann das Gegenteil, daß dem Verständnis der Jugend ausdrücklich angepaßte Werke als langweilig gemieden werden, jeden Tag beobachtet werden. Um ein Beispiel zu nennen: Goethes „Faust" ist eines der populärsten Bücher, obwohl es gleichzeitig eines der schwierigsten ist. Es geht also nicht an, das Volksbewußtsein einfach mit dem des Kindes zu iden¬ tifizieren und das Volk dadurch bilden zu wollen, daß man es vom Einfachen zum schweren leitet und letzteres durch Kommentare zugänglich zu machen sucht. Der Mann aus dem Volke ist kein Kind, sondern ein erfahrener und aus¬ gereifter Mensch, der sich nicht bilden, sondern sein Kunstbedürfnis befriedigt sehen will. Der wesentliche Unterschied zwischen Volks- und literarischer Dichtung ist vielmehr der, daß der Volksdichter (als Typus) spricht oder singt, während der Literat, der Kunstdichter schreibt. Dieser Unterschied, den ich wesentlich nenne, scheint zunächst rein äußerlich zu sein; in Wahrheit ist er so fundamental wie etwa der zwischen Maler und Bildhauer. Volksdichter und Literat arbeiten in wesentlich verschiedenem Material. Allerdings ist dieses beide Male in der Sprache gegeben, aber es wird doch grundverschieden behandelt. Jedermann weiß, daß man vieles nur mündlich sagen kann, weil es schriftlich schief heraus¬ kommen würde, daß in anderen Dingen wiederum Briefe besser wirken als mündliche Unterredung. Kein guter Redner läßt eine frei gehaltene Rede, die gezündet hat, im Wortlaut drucken, weil Gesprochenes anders wirkt als Ge¬ schriebenes, und mancher gute Prosavorleser wird beobachtet haben, daß es Werke gibt, die geradezu laut gelesen werden müssen, andere, die, wenn sie wirken sollen, nicht selten einer Änderung des Wortlautes bedürfen, und wieder andere, die, ohne daß sie im sogenannten papierener Stil geschrieben wären, das Vorgelesenwerden überhaupt nicht vertragen. Als Dogma für den heutigen Kunstdichter gilt ja eigentlich, daß er beim Schreiben an ein Publikum überhaupt nicht zu denken habe, sondern nur „für die Kunst" oder für sich schreibe. Ohne nun über Berechtigung oder Nicht- berechtigung dieses Dogmas streiten zu wollen, kann man doch soviel sagen, daß daraus der häufige Mißerfolg unserer Künstler erklärlich wird: das Kunst« wollen entspricht eben in keiner Weise mehr dem Kunstbedürfnis. Erst wo dieses befriedigt wird, ist eine nachhaltige Wirkung der Kunst möglich. Tat¬ sächlich haben denn auch die meisten großen Erzähler ursprünglich für einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/292>, abgerufen am 21.06.2024.