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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

bestimmten Merkmals ist in solchem Falle leicht erkennbar, die Individuen dieser
Art tragen den Stempel ihrer Mischlings-Entstehungsgeschichte, ihres Hetero-
zngotentums unverkennbar an der Stirn. Mehr oder minder vollkommene
Dominanz ist unbequemer: denn die in Wahrheit gemischten Einzelwesen lassen
sich nicht unmittelbar unterscheiden von jenen anderen, die im dominanten
Merkmal rein oder homozygot gebaut sind. Es kann geschehen, daß zwei
Individuen, zwei Brüder gleich scheinen und doch nicht gleich sind. Johannsen
verdankt die Erblehre die treffenden Unterscheidungen: Gleichheit der Erschei¬
nungsform oder des Phänotypus beweist nichts für Gleichheit der Anlagen- oder
Genkonstitution oder des Genotypus. Ein geübter Untersucher gewinnt mit der
größeren Vertrautheit und der fortdauernden Beschäftigung mit seinem Unter¬
suchungsgegenstand eine erstaunliche Gewandtheit in der Wahrnehmung von
feinen Unterschieden zwischen den einzelnen Phänotypen, zwischen wahren Misch¬
ungen und dominanten Individuen: er vermag dann alsbald Nachkommen richtig
zu Sortieren, die dem Uneingeweihten gänzlich gleichartig erscheinen.

Mag aber Mischbildung, mag Dominanz geringeren oder höheren Grades
den Erbgang eines Charakters kennzeichnen: das bleibt ohne jeden Einfluß auf
die Gestaltung der Nachkommenschaft, die aus der Ehe zweier in Wahrheit
mischerbiger Wesen hervorgeht. Immer erscheinen in dieser Geschwisterschaft
zweiter Generation dreierlei verschiedene Arten von Abkömmlingen und zwar
gesetzmäßig in völlig starren, unveränderlichen Verhältniszahlen. 25 Prozent
der Kinder tragen rein das eine, 25 Prozent von ihnen ebenso rein das andere
-- bei Dominanz in der Elterngeneration scheinbar geschwundene -- Merkmal
ihrer Großeltern zur Schau, und 50 Prozent zeigen sich wiederum als echte
Mischlinge, wie ihre Eltern, die Mischlinge erster Generation. Waren diese im
gegebenen Falle (s) als solche erkennbar, so tritt das Zahlenverhältnis
25 : 50 : 25 oder 1:2:1 unverfälscht zutage. Herrscht Dominanz, kann man
mit den üblichen Methoden Mischling und Reinzucht des einen Merkmals nicht
unterscheiden, so geht jede Proportion in das Zahlenverhältnis (25 50)
- 75 : 25 oder (1 ^ 2) : 1 3 : 1 um.

Mendel selbst gab bereits diesem Verhalten die auch heute allgemein an¬
erkannte Deutung. Wie die Erbstücke sich bei einer Paarung vereinen, wie sie
sich auf alle Zellen des Geschöpfes in ihrer Mischung während der Entwicklung
verteilen, so trennen sie sich wieder aus dem entstandenen Gemenge bei der
Bildung der Erbzellen des Individuums: sie spalten, wie der erbtechnische
Ausdruck lautet, und zwar wast- und regellos lediglich nach den Regeln der
Wahrscheinlichkeit. Die Erbforschung drückt diese Auffassung in Formeln aus:
ein Lebewesen, Träger einer dominanten Anlage, die es seinerzeit gleichmäßig
von Vater und Mutter ererbte, ebenso wie ein zweites Geschöpf, das ebenso
rein von beiden Eltern her das rezessive Erbstück überkam (2), bilden alle beide
je nur einerlei Art von Erbzellen, die allesamt entweder das Gen I) oder l?
führen (3):


Vererbung beim Menschen

bestimmten Merkmals ist in solchem Falle leicht erkennbar, die Individuen dieser
Art tragen den Stempel ihrer Mischlings-Entstehungsgeschichte, ihres Hetero-
zngotentums unverkennbar an der Stirn. Mehr oder minder vollkommene
Dominanz ist unbequemer: denn die in Wahrheit gemischten Einzelwesen lassen
sich nicht unmittelbar unterscheiden von jenen anderen, die im dominanten
Merkmal rein oder homozygot gebaut sind. Es kann geschehen, daß zwei
Individuen, zwei Brüder gleich scheinen und doch nicht gleich sind. Johannsen
verdankt die Erblehre die treffenden Unterscheidungen: Gleichheit der Erschei¬
nungsform oder des Phänotypus beweist nichts für Gleichheit der Anlagen- oder
Genkonstitution oder des Genotypus. Ein geübter Untersucher gewinnt mit der
größeren Vertrautheit und der fortdauernden Beschäftigung mit seinem Unter¬
suchungsgegenstand eine erstaunliche Gewandtheit in der Wahrnehmung von
feinen Unterschieden zwischen den einzelnen Phänotypen, zwischen wahren Misch¬
ungen und dominanten Individuen: er vermag dann alsbald Nachkommen richtig
zu Sortieren, die dem Uneingeweihten gänzlich gleichartig erscheinen.

Mag aber Mischbildung, mag Dominanz geringeren oder höheren Grades
den Erbgang eines Charakters kennzeichnen: das bleibt ohne jeden Einfluß auf
die Gestaltung der Nachkommenschaft, die aus der Ehe zweier in Wahrheit
mischerbiger Wesen hervorgeht. Immer erscheinen in dieser Geschwisterschaft
zweiter Generation dreierlei verschiedene Arten von Abkömmlingen und zwar
gesetzmäßig in völlig starren, unveränderlichen Verhältniszahlen. 25 Prozent
der Kinder tragen rein das eine, 25 Prozent von ihnen ebenso rein das andere
— bei Dominanz in der Elterngeneration scheinbar geschwundene — Merkmal
ihrer Großeltern zur Schau, und 50 Prozent zeigen sich wiederum als echte
Mischlinge, wie ihre Eltern, die Mischlinge erster Generation. Waren diese im
gegebenen Falle (s) als solche erkennbar, so tritt das Zahlenverhältnis
25 : 50 : 25 oder 1:2:1 unverfälscht zutage. Herrscht Dominanz, kann man
mit den üblichen Methoden Mischling und Reinzucht des einen Merkmals nicht
unterscheiden, so geht jede Proportion in das Zahlenverhältnis (25 50)
- 75 : 25 oder (1 ^ 2) : 1 3 : 1 um.

Mendel selbst gab bereits diesem Verhalten die auch heute allgemein an¬
erkannte Deutung. Wie die Erbstücke sich bei einer Paarung vereinen, wie sie
sich auf alle Zellen des Geschöpfes in ihrer Mischung während der Entwicklung
verteilen, so trennen sie sich wieder aus dem entstandenen Gemenge bei der
Bildung der Erbzellen des Individuums: sie spalten, wie der erbtechnische
Ausdruck lautet, und zwar wast- und regellos lediglich nach den Regeln der
Wahrscheinlichkeit. Die Erbforschung drückt diese Auffassung in Formeln aus:
ein Lebewesen, Träger einer dominanten Anlage, die es seinerzeit gleichmäßig
von Vater und Mutter ererbte, ebenso wie ein zweites Geschöpf, das ebenso
rein von beiden Eltern her das rezessive Erbstück überkam (2), bilden alle beide
je nur einerlei Art von Erbzellen, die allesamt entweder das Gen I) oder l?
führen (3):


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[0263] Vererbung beim Menschen bestimmten Merkmals ist in solchem Falle leicht erkennbar, die Individuen dieser Art tragen den Stempel ihrer Mischlings-Entstehungsgeschichte, ihres Hetero- zngotentums unverkennbar an der Stirn. Mehr oder minder vollkommene Dominanz ist unbequemer: denn die in Wahrheit gemischten Einzelwesen lassen sich nicht unmittelbar unterscheiden von jenen anderen, die im dominanten Merkmal rein oder homozygot gebaut sind. Es kann geschehen, daß zwei Individuen, zwei Brüder gleich scheinen und doch nicht gleich sind. Johannsen verdankt die Erblehre die treffenden Unterscheidungen: Gleichheit der Erschei¬ nungsform oder des Phänotypus beweist nichts für Gleichheit der Anlagen- oder Genkonstitution oder des Genotypus. Ein geübter Untersucher gewinnt mit der größeren Vertrautheit und der fortdauernden Beschäftigung mit seinem Unter¬ suchungsgegenstand eine erstaunliche Gewandtheit in der Wahrnehmung von feinen Unterschieden zwischen den einzelnen Phänotypen, zwischen wahren Misch¬ ungen und dominanten Individuen: er vermag dann alsbald Nachkommen richtig zu Sortieren, die dem Uneingeweihten gänzlich gleichartig erscheinen. Mag aber Mischbildung, mag Dominanz geringeren oder höheren Grades den Erbgang eines Charakters kennzeichnen: das bleibt ohne jeden Einfluß auf die Gestaltung der Nachkommenschaft, die aus der Ehe zweier in Wahrheit mischerbiger Wesen hervorgeht. Immer erscheinen in dieser Geschwisterschaft zweiter Generation dreierlei verschiedene Arten von Abkömmlingen und zwar gesetzmäßig in völlig starren, unveränderlichen Verhältniszahlen. 25 Prozent der Kinder tragen rein das eine, 25 Prozent von ihnen ebenso rein das andere — bei Dominanz in der Elterngeneration scheinbar geschwundene — Merkmal ihrer Großeltern zur Schau, und 50 Prozent zeigen sich wiederum als echte Mischlinge, wie ihre Eltern, die Mischlinge erster Generation. Waren diese im gegebenen Falle (s) als solche erkennbar, so tritt das Zahlenverhältnis 25 : 50 : 25 oder 1:2:1 unverfälscht zutage. Herrscht Dominanz, kann man mit den üblichen Methoden Mischling und Reinzucht des einen Merkmals nicht unterscheiden, so geht jede Proportion in das Zahlenverhältnis (25 50) - 75 : 25 oder (1 ^ 2) : 1 3 : 1 um. Mendel selbst gab bereits diesem Verhalten die auch heute allgemein an¬ erkannte Deutung. Wie die Erbstücke sich bei einer Paarung vereinen, wie sie sich auf alle Zellen des Geschöpfes in ihrer Mischung während der Entwicklung verteilen, so trennen sie sich wieder aus dem entstandenen Gemenge bei der Bildung der Erbzellen des Individuums: sie spalten, wie der erbtechnische Ausdruck lautet, und zwar wast- und regellos lediglich nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit. Die Erbforschung drückt diese Auffassung in Formeln aus: ein Lebewesen, Träger einer dominanten Anlage, die es seinerzeit gleichmäßig von Vater und Mutter ererbte, ebenso wie ein zweites Geschöpf, das ebenso rein von beiden Eltern her das rezessive Erbstück überkam (2), bilden alle beide je nur einerlei Art von Erbzellen, die allesamt entweder das Gen I) oder l? führen (3):

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/263>, abgerufen am 21.06.2024.