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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

summarisch-statistische Durchmusterung der gesamten Nachkommenschaft eines
Paares gewährleistet die Gewinnung verläßlicher Grundlagen für ein Urteil
über die wahre Natur eines Erbgeschehens.

Die Eigenart dieser beiden methodologischen Forderungen beleuchtet ohne
weiteres klar die unendlichen Schwierigkeiten, nicht etwa prinzipieller, sondern
rein äußerlicher Art, mit denen die Erbforschung beim Menschen in so ungleich
höherem Grade zu kämpfen hat, als bei den übrigen Lebewesen. Hier vermag
der nach der Willkür des Untersuchers planmäßig geleitete Versuch Klarheit zu
schaffen. Hier können bei geschickter Wahl des Objektes in kurzen Zeitabschnitten
viele Generationen von Nachkommen eines Elternpaares erzogen und gemäß der
bereits gewonnenen Erkenntnis zweckdienlich weitergezüchtet werden. Hier lassen
sich die Einflüsse der Umwelt willkürlich so günstig wie nur möglich gestalten,
um ein bestimmtes wünschenswertes Ergebnis zu fördern. Nichts von alledem
steht dem Erbforscher beim Menschen zu Gebote. Er sieht sich angewiesen auf das
spröde, oft unvollkommene und unzuverlässige Material der Verzeichnisse von Vor¬
fahren; er hat mit der Unzugänglichkeit wichtiger Abkömmlinge, mit der beschränkten
Kinderzahl der menschlichen Ehe, mit dein -- häufig gerechtfertigten -- Widerstande
des einzelnen zu kämpfen, der ein genaues Forschen nach oft intimen Familien¬
angelegenheiten zu verhindern sucht. Zudem mangelt noch in weitesten Kreisen
das Verständnis für die Bedeutung der Erbforschung, eine zweckmäßige Organi¬
sation der Arbeit steht noch aus. Nur in England und in Amerika bieten sich
der jungen Wissenschaft einigermaßen großzügige Mittel und Anfänge einer
Organisation im entsprechenden Maßstabe. Was in Deutschland geleistet wurde
und geleistet werden kann, entspringt im wesentlichen der Rührigkeit von Einzel¬
forschern, denen vorläufig, der Natur der Sache nach, immer nur ein kleiner
Ausschnitt und im besten Falle eine auf die eigene Lebenszeit begrenzte persön¬
liche Erfahrung zur Verfügung stehen kann. Unschätzbar wertvolle Hilfsmittel,
wie sie sich jüngst in Schweden einem Erbforscher, Lundborg, in Gestalt der
Hausstandsbücher bei seinen Untersuchungen an einem über zweitausend Mit¬
glieder umfassenden Bauerngeschlechte als unentbehrlich erwiesen haben, fehlen
in anderen Kulturstaaten vollkommen, z. B. auch in Deutschland, mit alleiniger
Ausnahme von Württemberg.

Trotz aller dieser Mißstände vermag die Vererbungslehre auch beim Menschen
schon heute eine Reihe gelöster, eine größere Anzahl der Klärung naher Pro¬
bleme aufzuweisen.

Das allgemeinste Ergebnis aller ihrer Untersuchungen gipfelt in der Er¬
kenntnis: der Mensch gehorcht -- wie nicht anders zu erwarten war -- trotz
seines weit verwickelteren Aufbaues aufs genaueste den Regeln, wie sie Versuch
und Deutung für andere, einfachere Lebewesen in taufenden von Versuchsreihen
als gültig erwiesen haben.

Der einfachste Schulfall Mendelschen Erbganges rechnet mit der Ehe zweier
Einzelwesen, die sich nur in einem einzigen Merkmal unterscheiden, z. B. einer


Vererbung beim Menschen

summarisch-statistische Durchmusterung der gesamten Nachkommenschaft eines
Paares gewährleistet die Gewinnung verläßlicher Grundlagen für ein Urteil
über die wahre Natur eines Erbgeschehens.

Die Eigenart dieser beiden methodologischen Forderungen beleuchtet ohne
weiteres klar die unendlichen Schwierigkeiten, nicht etwa prinzipieller, sondern
rein äußerlicher Art, mit denen die Erbforschung beim Menschen in so ungleich
höherem Grade zu kämpfen hat, als bei den übrigen Lebewesen. Hier vermag
der nach der Willkür des Untersuchers planmäßig geleitete Versuch Klarheit zu
schaffen. Hier können bei geschickter Wahl des Objektes in kurzen Zeitabschnitten
viele Generationen von Nachkommen eines Elternpaares erzogen und gemäß der
bereits gewonnenen Erkenntnis zweckdienlich weitergezüchtet werden. Hier lassen
sich die Einflüsse der Umwelt willkürlich so günstig wie nur möglich gestalten,
um ein bestimmtes wünschenswertes Ergebnis zu fördern. Nichts von alledem
steht dem Erbforscher beim Menschen zu Gebote. Er sieht sich angewiesen auf das
spröde, oft unvollkommene und unzuverlässige Material der Verzeichnisse von Vor¬
fahren; er hat mit der Unzugänglichkeit wichtiger Abkömmlinge, mit der beschränkten
Kinderzahl der menschlichen Ehe, mit dein — häufig gerechtfertigten — Widerstande
des einzelnen zu kämpfen, der ein genaues Forschen nach oft intimen Familien¬
angelegenheiten zu verhindern sucht. Zudem mangelt noch in weitesten Kreisen
das Verständnis für die Bedeutung der Erbforschung, eine zweckmäßige Organi¬
sation der Arbeit steht noch aus. Nur in England und in Amerika bieten sich
der jungen Wissenschaft einigermaßen großzügige Mittel und Anfänge einer
Organisation im entsprechenden Maßstabe. Was in Deutschland geleistet wurde
und geleistet werden kann, entspringt im wesentlichen der Rührigkeit von Einzel¬
forschern, denen vorläufig, der Natur der Sache nach, immer nur ein kleiner
Ausschnitt und im besten Falle eine auf die eigene Lebenszeit begrenzte persön¬
liche Erfahrung zur Verfügung stehen kann. Unschätzbar wertvolle Hilfsmittel,
wie sie sich jüngst in Schweden einem Erbforscher, Lundborg, in Gestalt der
Hausstandsbücher bei seinen Untersuchungen an einem über zweitausend Mit¬
glieder umfassenden Bauerngeschlechte als unentbehrlich erwiesen haben, fehlen
in anderen Kulturstaaten vollkommen, z. B. auch in Deutschland, mit alleiniger
Ausnahme von Württemberg.

Trotz aller dieser Mißstände vermag die Vererbungslehre auch beim Menschen
schon heute eine Reihe gelöster, eine größere Anzahl der Klärung naher Pro¬
bleme aufzuweisen.

Das allgemeinste Ergebnis aller ihrer Untersuchungen gipfelt in der Er¬
kenntnis: der Mensch gehorcht — wie nicht anders zu erwarten war — trotz
seines weit verwickelteren Aufbaues aufs genaueste den Regeln, wie sie Versuch
und Deutung für andere, einfachere Lebewesen in taufenden von Versuchsreihen
als gültig erwiesen haben.

Der einfachste Schulfall Mendelschen Erbganges rechnet mit der Ehe zweier
Einzelwesen, die sich nur in einem einzigen Merkmal unterscheiden, z. B. einer


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[0261] Vererbung beim Menschen summarisch-statistische Durchmusterung der gesamten Nachkommenschaft eines Paares gewährleistet die Gewinnung verläßlicher Grundlagen für ein Urteil über die wahre Natur eines Erbgeschehens. Die Eigenart dieser beiden methodologischen Forderungen beleuchtet ohne weiteres klar die unendlichen Schwierigkeiten, nicht etwa prinzipieller, sondern rein äußerlicher Art, mit denen die Erbforschung beim Menschen in so ungleich höherem Grade zu kämpfen hat, als bei den übrigen Lebewesen. Hier vermag der nach der Willkür des Untersuchers planmäßig geleitete Versuch Klarheit zu schaffen. Hier können bei geschickter Wahl des Objektes in kurzen Zeitabschnitten viele Generationen von Nachkommen eines Elternpaares erzogen und gemäß der bereits gewonnenen Erkenntnis zweckdienlich weitergezüchtet werden. Hier lassen sich die Einflüsse der Umwelt willkürlich so günstig wie nur möglich gestalten, um ein bestimmtes wünschenswertes Ergebnis zu fördern. Nichts von alledem steht dem Erbforscher beim Menschen zu Gebote. Er sieht sich angewiesen auf das spröde, oft unvollkommene und unzuverlässige Material der Verzeichnisse von Vor¬ fahren; er hat mit der Unzugänglichkeit wichtiger Abkömmlinge, mit der beschränkten Kinderzahl der menschlichen Ehe, mit dein — häufig gerechtfertigten — Widerstande des einzelnen zu kämpfen, der ein genaues Forschen nach oft intimen Familien¬ angelegenheiten zu verhindern sucht. Zudem mangelt noch in weitesten Kreisen das Verständnis für die Bedeutung der Erbforschung, eine zweckmäßige Organi¬ sation der Arbeit steht noch aus. Nur in England und in Amerika bieten sich der jungen Wissenschaft einigermaßen großzügige Mittel und Anfänge einer Organisation im entsprechenden Maßstabe. Was in Deutschland geleistet wurde und geleistet werden kann, entspringt im wesentlichen der Rührigkeit von Einzel¬ forschern, denen vorläufig, der Natur der Sache nach, immer nur ein kleiner Ausschnitt und im besten Falle eine auf die eigene Lebenszeit begrenzte persön¬ liche Erfahrung zur Verfügung stehen kann. Unschätzbar wertvolle Hilfsmittel, wie sie sich jüngst in Schweden einem Erbforscher, Lundborg, in Gestalt der Hausstandsbücher bei seinen Untersuchungen an einem über zweitausend Mit¬ glieder umfassenden Bauerngeschlechte als unentbehrlich erwiesen haben, fehlen in anderen Kulturstaaten vollkommen, z. B. auch in Deutschland, mit alleiniger Ausnahme von Württemberg. Trotz aller dieser Mißstände vermag die Vererbungslehre auch beim Menschen schon heute eine Reihe gelöster, eine größere Anzahl der Klärung naher Pro¬ bleme aufzuweisen. Das allgemeinste Ergebnis aller ihrer Untersuchungen gipfelt in der Er¬ kenntnis: der Mensch gehorcht — wie nicht anders zu erwarten war — trotz seines weit verwickelteren Aufbaues aufs genaueste den Regeln, wie sie Versuch und Deutung für andere, einfachere Lebewesen in taufenden von Versuchsreihen als gültig erwiesen haben. Der einfachste Schulfall Mendelschen Erbganges rechnet mit der Ehe zweier Einzelwesen, die sich nur in einem einzigen Merkmal unterscheiden, z. B. einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/261>, abgerufen am 21.06.2024.