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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

Bewaffnung offenbart! sind nicht die individuellen Eigentümlichkeiten der Leistungen,
die den Mitteln physiologischer Forschung zugänglich werden können. Vererben
können sich lediglich die in ihrem Wesen uns noch gänzlich unklaren und un¬
faßbarer Erbstücke oder Anlagen. Sie scheinen darin vergleichbar den für unsere
Sinne ebenso unmittelbar unzugänglichen Molekeln, Atomen und Elektronen
der Physik und Chemie. Und wie diese Wissenschaften Natur und Konstitution
der Stoffe symbolisch durch das Verhalten ihrer kleinsten Einzelteilchen so
erfolgreich unserem Verständnis nähergebracht haben: so beginnt auch die moderne
Biologie, nicht zum kleinsten Teile auf Grund der Erbbeobachtungen, das Einzel¬
wesen, die Sippe, die Rassen, Arten und Gattungen aller Lebewesen aus der Eigenart
des Aufbaues und der Zusammenordnung der Erbstücke oder Erbeinheiten --
mit ihren: wissenschaftlichen Namen Gene -- aufgebaut zu denken. Dem jüngsten
Zweige der biologischen Wissenschaften, der Genetik, erwächst die Aufgabe, für
alle Lebewesen durch Versuch und Deutung jene Auffassung zu vertiefen und
zu erweitern.

Das Erbgut eines jeden Einzelwesens stammt bei der Fortpflanzung mittels
Keimzellen jedesmal, mit verschwindenden Ausnahmen, aus zwei verschiedenen
Quellen: die Einheiten, die die väterliche und mütterliche Erbzelle zusammen¬
gefügt haben, bilden mithin stets ein Gemenge beidelterlicher Gene. Aus diesem
Gemenge väterlicher und mütterlicher Erbstücke übernehmen nun die Erbzellen
des Geschöpfes bei ihrer Bildung die einzelnen Anlagen in regellosem Gemisch.
Die Gene verhalten sich im Erbgange jedesmal wie selbständige Einheiten,
scheiden und trennen sich in der Regel wahllos, lediglich den Gesetzen des Zu¬
falls gehorchend.

Ermöglichen daher Versuch oder glückliche Beobachtung, die Vereinigung
unterscheidbarer Erbstücke in einem Lebewesen zu untersuchen, so bietet die Ver¬
folgung dieser verschiedenartigen Erbanlagen bei der Nachkommenschaft dieses
Geschöpfes das beste -- und einzige -- Mittel, um in den Mechanismus des
Erbvorganges einen Einblick zu gewinnen.

Dies Experiment -- die Paarung ungleicher Eltern -- bezeichnet man
als Kreuzung, die Nachkommen als Mischlinge. Nahezu niemals läßt sich
die Bedingung erfüllen, daß beide Eltern persönlich identisch gleich und weiterhin
auch Nachkommen von lauter identisch gleichen Vorfahren sind. Daher ist im
Sinn der modernen Erblehre fast jedes Lebewesen ein Mischling, mögen die
Unterschiede der zusammengetroffenen Erbstücke auch noch so winzig sein, mögen
sie auch ein einziges Merkmal betreffen. Das Produkt ist dann ein Mischling
in Ansehung dieses einen Merkmals. Diese Betrachtungsmethode hat sich als
überaus wichtig und fruchtbar erwiesen. Ihre Einführung und ihr Ausbau ist
das erste von Mendels großen methodologischen Verdiensten. Das zweite ist
die Verfolgung des Schicksals dieses Einzelmerkmals bei allen Abkömmlingen
der beiden Elternorganismen bis in die dritte und noch weitere Generationsfolge
in möglichst großer Jndividuenzahl. Nur umfangreiche quantitative, nicht


Vererbung beim Menschen

Bewaffnung offenbart! sind nicht die individuellen Eigentümlichkeiten der Leistungen,
die den Mitteln physiologischer Forschung zugänglich werden können. Vererben
können sich lediglich die in ihrem Wesen uns noch gänzlich unklaren und un¬
faßbarer Erbstücke oder Anlagen. Sie scheinen darin vergleichbar den für unsere
Sinne ebenso unmittelbar unzugänglichen Molekeln, Atomen und Elektronen
der Physik und Chemie. Und wie diese Wissenschaften Natur und Konstitution
der Stoffe symbolisch durch das Verhalten ihrer kleinsten Einzelteilchen so
erfolgreich unserem Verständnis nähergebracht haben: so beginnt auch die moderne
Biologie, nicht zum kleinsten Teile auf Grund der Erbbeobachtungen, das Einzel¬
wesen, die Sippe, die Rassen, Arten und Gattungen aller Lebewesen aus der Eigenart
des Aufbaues und der Zusammenordnung der Erbstücke oder Erbeinheiten —
mit ihren: wissenschaftlichen Namen Gene — aufgebaut zu denken. Dem jüngsten
Zweige der biologischen Wissenschaften, der Genetik, erwächst die Aufgabe, für
alle Lebewesen durch Versuch und Deutung jene Auffassung zu vertiefen und
zu erweitern.

Das Erbgut eines jeden Einzelwesens stammt bei der Fortpflanzung mittels
Keimzellen jedesmal, mit verschwindenden Ausnahmen, aus zwei verschiedenen
Quellen: die Einheiten, die die väterliche und mütterliche Erbzelle zusammen¬
gefügt haben, bilden mithin stets ein Gemenge beidelterlicher Gene. Aus diesem
Gemenge väterlicher und mütterlicher Erbstücke übernehmen nun die Erbzellen
des Geschöpfes bei ihrer Bildung die einzelnen Anlagen in regellosem Gemisch.
Die Gene verhalten sich im Erbgange jedesmal wie selbständige Einheiten,
scheiden und trennen sich in der Regel wahllos, lediglich den Gesetzen des Zu¬
falls gehorchend.

Ermöglichen daher Versuch oder glückliche Beobachtung, die Vereinigung
unterscheidbarer Erbstücke in einem Lebewesen zu untersuchen, so bietet die Ver¬
folgung dieser verschiedenartigen Erbanlagen bei der Nachkommenschaft dieses
Geschöpfes das beste — und einzige — Mittel, um in den Mechanismus des
Erbvorganges einen Einblick zu gewinnen.

Dies Experiment — die Paarung ungleicher Eltern — bezeichnet man
als Kreuzung, die Nachkommen als Mischlinge. Nahezu niemals läßt sich
die Bedingung erfüllen, daß beide Eltern persönlich identisch gleich und weiterhin
auch Nachkommen von lauter identisch gleichen Vorfahren sind. Daher ist im
Sinn der modernen Erblehre fast jedes Lebewesen ein Mischling, mögen die
Unterschiede der zusammengetroffenen Erbstücke auch noch so winzig sein, mögen
sie auch ein einziges Merkmal betreffen. Das Produkt ist dann ein Mischling
in Ansehung dieses einen Merkmals. Diese Betrachtungsmethode hat sich als
überaus wichtig und fruchtbar erwiesen. Ihre Einführung und ihr Ausbau ist
das erste von Mendels großen methodologischen Verdiensten. Das zweite ist
die Verfolgung des Schicksals dieses Einzelmerkmals bei allen Abkömmlingen
der beiden Elternorganismen bis in die dritte und noch weitere Generationsfolge
in möglichst großer Jndividuenzahl. Nur umfangreiche quantitative, nicht


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[0260] Vererbung beim Menschen Bewaffnung offenbart! sind nicht die individuellen Eigentümlichkeiten der Leistungen, die den Mitteln physiologischer Forschung zugänglich werden können. Vererben können sich lediglich die in ihrem Wesen uns noch gänzlich unklaren und un¬ faßbarer Erbstücke oder Anlagen. Sie scheinen darin vergleichbar den für unsere Sinne ebenso unmittelbar unzugänglichen Molekeln, Atomen und Elektronen der Physik und Chemie. Und wie diese Wissenschaften Natur und Konstitution der Stoffe symbolisch durch das Verhalten ihrer kleinsten Einzelteilchen so erfolgreich unserem Verständnis nähergebracht haben: so beginnt auch die moderne Biologie, nicht zum kleinsten Teile auf Grund der Erbbeobachtungen, das Einzel¬ wesen, die Sippe, die Rassen, Arten und Gattungen aller Lebewesen aus der Eigenart des Aufbaues und der Zusammenordnung der Erbstücke oder Erbeinheiten — mit ihren: wissenschaftlichen Namen Gene — aufgebaut zu denken. Dem jüngsten Zweige der biologischen Wissenschaften, der Genetik, erwächst die Aufgabe, für alle Lebewesen durch Versuch und Deutung jene Auffassung zu vertiefen und zu erweitern. Das Erbgut eines jeden Einzelwesens stammt bei der Fortpflanzung mittels Keimzellen jedesmal, mit verschwindenden Ausnahmen, aus zwei verschiedenen Quellen: die Einheiten, die die väterliche und mütterliche Erbzelle zusammen¬ gefügt haben, bilden mithin stets ein Gemenge beidelterlicher Gene. Aus diesem Gemenge väterlicher und mütterlicher Erbstücke übernehmen nun die Erbzellen des Geschöpfes bei ihrer Bildung die einzelnen Anlagen in regellosem Gemisch. Die Gene verhalten sich im Erbgange jedesmal wie selbständige Einheiten, scheiden und trennen sich in der Regel wahllos, lediglich den Gesetzen des Zu¬ falls gehorchend. Ermöglichen daher Versuch oder glückliche Beobachtung, die Vereinigung unterscheidbarer Erbstücke in einem Lebewesen zu untersuchen, so bietet die Ver¬ folgung dieser verschiedenartigen Erbanlagen bei der Nachkommenschaft dieses Geschöpfes das beste — und einzige — Mittel, um in den Mechanismus des Erbvorganges einen Einblick zu gewinnen. Dies Experiment — die Paarung ungleicher Eltern — bezeichnet man als Kreuzung, die Nachkommen als Mischlinge. Nahezu niemals läßt sich die Bedingung erfüllen, daß beide Eltern persönlich identisch gleich und weiterhin auch Nachkommen von lauter identisch gleichen Vorfahren sind. Daher ist im Sinn der modernen Erblehre fast jedes Lebewesen ein Mischling, mögen die Unterschiede der zusammengetroffenen Erbstücke auch noch so winzig sein, mögen sie auch ein einziges Merkmal betreffen. Das Produkt ist dann ein Mischling in Ansehung dieses einen Merkmals. Diese Betrachtungsmethode hat sich als überaus wichtig und fruchtbar erwiesen. Ihre Einführung und ihr Ausbau ist das erste von Mendels großen methodologischen Verdiensten. Das zweite ist die Verfolgung des Schicksals dieses Einzelmerkmals bei allen Abkömmlingen der beiden Elternorganismen bis in die dritte und noch weitere Generationsfolge in möglichst großer Jndividuenzahl. Nur umfangreiche quantitative, nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/260>, abgerufen am 21.06.2024.