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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

manifestes wirklich kein Zusammenhang bestehen? Nun, die Historiker werden
es ja nachträglich feststellen, -- dem Politiker bleibt nichts anderes zu
tun übrig, als die Persönlichkeit des Grafen Ssergej Juljewitsch weiter mit
Interesse zu verfolgen.

Welches sind nun die Ziele der russischen Regierungspolitik? Hat sie über¬
haupt solche? Tappt sie, selbst Anlehnung suchend, im Dunkeln? Liegen ihr
Fragen der inneren Politik oder solche der äußeren mehr am Herzen? Ist sie
eher kriegerisch als friedfertig gestimmt?

Sieht man die großen Aufgaben an, die sich die Regierung im Innern
gestellt hat, die Durchführung der großen Agrarreform und, was noch weit
schwieriger erscheint: die Einfügung ihrer vielfachen vorgesehenen und unvor¬
hergesehenen Folgeerscheinungen in das Staatsleben, -- serner die Beseitigung
der "schädlichen Auswüchse" der Volksvertretung, so sollte man meinen, sie
hätte gar keine Zeit mehr, sich an den Fragen der auswärtigen Politik aktiv
zu beteiligen. Aber das wäre blasse Theorie. Gerade die innerpolitischen Schwierig¬
keiten, gerade die Sorge um den Bestand der Selbstherrschaft, um die Ent¬
wicklung der Arbeiterfrage in Land und Stadt, um die Schule, -- gerade die
vielfachen Nationalitätenprobleme drängen die Bureaukratie zu dem Versuch,
wenigstens auf solchen Gebieten Lorbeer zu pflücken, auf denen die prinzipiellen
Fragen des Staatsorganismus nicht berührt werden, also in der auswärtigen
Politik.

Die Richtung der auswärtigen Politik Rußlands? Die großen durch
Jahrhunderte weihenden Linien werden gegenwärtig ebenso wie früher fest¬
gehalten, weil sie sich geradezu mit Schicksalsgewalt auch dem schwächsten
russischen Staatsmann aufdrängen. Übrigens liegt hier das Geheimnis des
russischen Wachstums! Aber darum handelt es sich für uns jetzt nicht. Die
Aufgabe des Tages ist durchaus bedingt durch die Stimmung im Innern, und
die fordert unter allen Umständen einen sichtbaren Sieg über den deutschen
Einfluß, und sei es selbst um den Preis einer würdelosen Abhängigkeit von
Frankreich und England. Die Bureaukratie muß den einheimischen Agitatoren
zeigen, daß sie absolut unabhängig vom deutschen Einfluß ist. Sie muß des¬
halb in der Frage der deutschen Militärmission unter Liman-Sanders eine
geradezu krankhafte Empfindlichkeit zeigen, sie muß gegen die Luftschiffer in
Peru mit einer an Grausamkeit streifenden Strenge verfahren (wobei ich Herrn
Berliner durchaus nicht von Fahrlässigkeit freisprechen will -- aber es handelt
sich tatsächlich nur um Fahrlässigkeit, nicht um Spionage!), die Bureaukratie
muß in den offiziellen, auch von Privatunternehmern beschickten Sitzungen, in


Russische Briefe

manifestes wirklich kein Zusammenhang bestehen? Nun, die Historiker werden
es ja nachträglich feststellen, — dem Politiker bleibt nichts anderes zu
tun übrig, als die Persönlichkeit des Grafen Ssergej Juljewitsch weiter mit
Interesse zu verfolgen.

Welches sind nun die Ziele der russischen Regierungspolitik? Hat sie über¬
haupt solche? Tappt sie, selbst Anlehnung suchend, im Dunkeln? Liegen ihr
Fragen der inneren Politik oder solche der äußeren mehr am Herzen? Ist sie
eher kriegerisch als friedfertig gestimmt?

Sieht man die großen Aufgaben an, die sich die Regierung im Innern
gestellt hat, die Durchführung der großen Agrarreform und, was noch weit
schwieriger erscheint: die Einfügung ihrer vielfachen vorgesehenen und unvor¬
hergesehenen Folgeerscheinungen in das Staatsleben, — serner die Beseitigung
der „schädlichen Auswüchse" der Volksvertretung, so sollte man meinen, sie
hätte gar keine Zeit mehr, sich an den Fragen der auswärtigen Politik aktiv
zu beteiligen. Aber das wäre blasse Theorie. Gerade die innerpolitischen Schwierig¬
keiten, gerade die Sorge um den Bestand der Selbstherrschaft, um die Ent¬
wicklung der Arbeiterfrage in Land und Stadt, um die Schule, — gerade die
vielfachen Nationalitätenprobleme drängen die Bureaukratie zu dem Versuch,
wenigstens auf solchen Gebieten Lorbeer zu pflücken, auf denen die prinzipiellen
Fragen des Staatsorganismus nicht berührt werden, also in der auswärtigen
Politik.

Die Richtung der auswärtigen Politik Rußlands? Die großen durch
Jahrhunderte weihenden Linien werden gegenwärtig ebenso wie früher fest¬
gehalten, weil sie sich geradezu mit Schicksalsgewalt auch dem schwächsten
russischen Staatsmann aufdrängen. Übrigens liegt hier das Geheimnis des
russischen Wachstums! Aber darum handelt es sich für uns jetzt nicht. Die
Aufgabe des Tages ist durchaus bedingt durch die Stimmung im Innern, und
die fordert unter allen Umständen einen sichtbaren Sieg über den deutschen
Einfluß, und sei es selbst um den Preis einer würdelosen Abhängigkeit von
Frankreich und England. Die Bureaukratie muß den einheimischen Agitatoren
zeigen, daß sie absolut unabhängig vom deutschen Einfluß ist. Sie muß des¬
halb in der Frage der deutschen Militärmission unter Liman-Sanders eine
geradezu krankhafte Empfindlichkeit zeigen, sie muß gegen die Luftschiffer in
Peru mit einer an Grausamkeit streifenden Strenge verfahren (wobei ich Herrn
Berliner durchaus nicht von Fahrlässigkeit freisprechen will — aber es handelt
sich tatsächlich nur um Fahrlässigkeit, nicht um Spionage!), die Bureaukratie
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[0257] Russische Briefe manifestes wirklich kein Zusammenhang bestehen? Nun, die Historiker werden es ja nachträglich feststellen, — dem Politiker bleibt nichts anderes zu tun übrig, als die Persönlichkeit des Grafen Ssergej Juljewitsch weiter mit Interesse zu verfolgen. Welches sind nun die Ziele der russischen Regierungspolitik? Hat sie über¬ haupt solche? Tappt sie, selbst Anlehnung suchend, im Dunkeln? Liegen ihr Fragen der inneren Politik oder solche der äußeren mehr am Herzen? Ist sie eher kriegerisch als friedfertig gestimmt? Sieht man die großen Aufgaben an, die sich die Regierung im Innern gestellt hat, die Durchführung der großen Agrarreform und, was noch weit schwieriger erscheint: die Einfügung ihrer vielfachen vorgesehenen und unvor¬ hergesehenen Folgeerscheinungen in das Staatsleben, — serner die Beseitigung der „schädlichen Auswüchse" der Volksvertretung, so sollte man meinen, sie hätte gar keine Zeit mehr, sich an den Fragen der auswärtigen Politik aktiv zu beteiligen. Aber das wäre blasse Theorie. Gerade die innerpolitischen Schwierig¬ keiten, gerade die Sorge um den Bestand der Selbstherrschaft, um die Ent¬ wicklung der Arbeiterfrage in Land und Stadt, um die Schule, — gerade die vielfachen Nationalitätenprobleme drängen die Bureaukratie zu dem Versuch, wenigstens auf solchen Gebieten Lorbeer zu pflücken, auf denen die prinzipiellen Fragen des Staatsorganismus nicht berührt werden, also in der auswärtigen Politik. Die Richtung der auswärtigen Politik Rußlands? Die großen durch Jahrhunderte weihenden Linien werden gegenwärtig ebenso wie früher fest¬ gehalten, weil sie sich geradezu mit Schicksalsgewalt auch dem schwächsten russischen Staatsmann aufdrängen. Übrigens liegt hier das Geheimnis des russischen Wachstums! Aber darum handelt es sich für uns jetzt nicht. Die Aufgabe des Tages ist durchaus bedingt durch die Stimmung im Innern, und die fordert unter allen Umständen einen sichtbaren Sieg über den deutschen Einfluß, und sei es selbst um den Preis einer würdelosen Abhängigkeit von Frankreich und England. Die Bureaukratie muß den einheimischen Agitatoren zeigen, daß sie absolut unabhängig vom deutschen Einfluß ist. Sie muß des¬ halb in der Frage der deutschen Militärmission unter Liman-Sanders eine geradezu krankhafte Empfindlichkeit zeigen, sie muß gegen die Luftschiffer in Peru mit einer an Grausamkeit streifenden Strenge verfahren (wobei ich Herrn Berliner durchaus nicht von Fahrlässigkeit freisprechen will — aber es handelt sich tatsächlich nur um Fahrlässigkeit, nicht um Spionage!), die Bureaukratie muß in den offiziellen, auch von Privatunternehmern beschickten Sitzungen, in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/257>, abgerufen am 21.06.2024.