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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Lnofe

denen über Heeres- und Eisenbahnbedarf gesprochen wird, energisch betonen:
keine Aufträge an Deutschland I ohne sich deshalb graue Haare darüberwachsen
lassen zu brauchen, ob eine solche Parole praktisch überhaupt durchführbar ist.
Sie muß schließlich die scharfe Agitation gegen den Handelsvertrag mit Deutsch¬
land dulden, um die Gedanken von den Fragen der inneren Politik abzu¬
lenken, und es ist vielleicht nicht einmal ein Zufall, daß es gerade einer jener
Nationalökonomen, die Graf Witte herangebildet und seinerzeit geschickt in der
internationalen Presse benutzt hat, daß es Herr Professor Goldstein ist, der als
Rufer im Streit gegen den deutschen Handelsvertrag an der Spitze steht.
Herr Ssasonow wäre nicht der hervorragende Staatsmann und Diplomat,
wenn er solche Stimmung nicht nach Kräften benutzen wollte, ohne daß des¬
halb seine persönliche Loyalität Deutschland gegenüber und seine aufrichtige
Friedlichkeit auch nur eine Sekunde bezweifelt zu werden brauchte.

Anders liegt die Frage, die ich schon am 1./14. April in meinem Brief
(Grenzboten Ur. 17, S. 151) gestreift habe, die Frage, ob eine Macht wie
das Deutsche Reich sich, ohne empfindlichen Schaden für sein Ansehen befürchten
zu müssen, die Verwendung als Blitzableiter fremder Stimmungen über
ein gewisses Maß hinaus wird gefallen lassen dürfen. In jedem Falle möchte
ich meinen Landsleuten peinlichste Aufmerksamkeit allen innerrussischen Vorgängen
gegenüber empfehlen, auch wenn sie weder direkt noch indirekt ein Interesse sür
uns zu haben scheinen. Aber ohne Empfindlichkeit, ohne Gereiztheit! Die
Beantwortung der Frage, was aus der innerrussischen Krise mit ihren Aus¬
strahlungen wird, oder auch nur werden kann, möchte ich einigen Untersuchungen
vorbehalten, die sofort nach meiner Rückkehr in Angriff genommen werden sollen.
Die russische Bureaukratie scheint es heute selbst noch nicht zu wissen; aber man
muß ihr zugestehen, daß sie nicht unter der Devise des verderblichen Nitschewo
arbeitet: sie ist emsig bemüht, Heer und Finanzen und Stimmung so zu gestalten,
daß sie im gegebenen Augenblick da wird zugreifen können, wo es ihr von ihrem
besonderen Standpunkt aus nützlich erscheinen mag.




Russische Lnofe

denen über Heeres- und Eisenbahnbedarf gesprochen wird, energisch betonen:
keine Aufträge an Deutschland I ohne sich deshalb graue Haare darüberwachsen
lassen zu brauchen, ob eine solche Parole praktisch überhaupt durchführbar ist.
Sie muß schließlich die scharfe Agitation gegen den Handelsvertrag mit Deutsch¬
land dulden, um die Gedanken von den Fragen der inneren Politik abzu¬
lenken, und es ist vielleicht nicht einmal ein Zufall, daß es gerade einer jener
Nationalökonomen, die Graf Witte herangebildet und seinerzeit geschickt in der
internationalen Presse benutzt hat, daß es Herr Professor Goldstein ist, der als
Rufer im Streit gegen den deutschen Handelsvertrag an der Spitze steht.
Herr Ssasonow wäre nicht der hervorragende Staatsmann und Diplomat,
wenn er solche Stimmung nicht nach Kräften benutzen wollte, ohne daß des¬
halb seine persönliche Loyalität Deutschland gegenüber und seine aufrichtige
Friedlichkeit auch nur eine Sekunde bezweifelt zu werden brauchte.

Anders liegt die Frage, die ich schon am 1./14. April in meinem Brief
(Grenzboten Ur. 17, S. 151) gestreift habe, die Frage, ob eine Macht wie
das Deutsche Reich sich, ohne empfindlichen Schaden für sein Ansehen befürchten
zu müssen, die Verwendung als Blitzableiter fremder Stimmungen über
ein gewisses Maß hinaus wird gefallen lassen dürfen. In jedem Falle möchte
ich meinen Landsleuten peinlichste Aufmerksamkeit allen innerrussischen Vorgängen
gegenüber empfehlen, auch wenn sie weder direkt noch indirekt ein Interesse sür
uns zu haben scheinen. Aber ohne Empfindlichkeit, ohne Gereiztheit! Die
Beantwortung der Frage, was aus der innerrussischen Krise mit ihren Aus¬
strahlungen wird, oder auch nur werden kann, möchte ich einigen Untersuchungen
vorbehalten, die sofort nach meiner Rückkehr in Angriff genommen werden sollen.
Die russische Bureaukratie scheint es heute selbst noch nicht zu wissen; aber man
muß ihr zugestehen, daß sie nicht unter der Devise des verderblichen Nitschewo
arbeitet: sie ist emsig bemüht, Heer und Finanzen und Stimmung so zu gestalten,
daß sie im gegebenen Augenblick da wird zugreifen können, wo es ihr von ihrem
besonderen Standpunkt aus nützlich erscheinen mag.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/258>, abgerufen am 21.06.2024.