Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Kommisston zu setzen. Zwei Fliegen sollen mit dieser Klappe erlegt werden:
dem Auslande,' aber auch dem russischen Volke soll gezeigt werden, daß die
Bureaukratie durchaus nicht wünsche, zu den früheren Verhältnissen zurückzu¬
kehren, unter denen sie mit den Steuergroschen des Landes unkontrolliert
wirtschaften konnte, und dann: der Zar scheint sich doch die Dienste des
Grafen Witte sichern zu wollen; zum Ministerpräsidenten konnte er ihn, an"
gesichts der allgemeinen Unbeliebtheit des Grafen, ja, der Wut, die gegen
ihn in allen Kreisen herrscht, noch nicht wieder machen; der Posten eines Finanz¬
ministers unter Goremykin mag Witte nicht mehr begehrenswert erscheinen. So geht
meine Ansicht dahin, daß die Rolle des Grafen Witte in Rußland noch nicht
ausgespielt ist, so sehr auch der Schein dagegen spricht: Witte genießt in den
maßgebenden Finanzkreisen in Berlin und Paris eine solche Fülle persönlichen
Vertrauens, daß eine Regierung, die, wie eben die russische, ihre sämtlichen
politischen Kräfte zusammenfaßt, um eine bestimmte, wenn auch noch nicht deutlich
sichtbare Aufgabe durchzuführen -- daß eine solche Regierung unmöglich eine Per¬
sönlichkeit wie Witte außerhalb stehen lassen kann. Für meine Auffassung von
Wildes Zukunft spricht auch noch ein Umstand, den ich doch nicht unerwähnt
lassen möchte: Graf Witte hat, scheinbar ohne jede äußere Veranlassung, seine
Denkschrift gegen die Sjemstwo-Organisation aus dem Jahre 1899, ein geheimes
Dokument, das bisher nur in der illegaler und unvollständigen Ausgabe von Peter
Struve (1901) bekannt war, in Petersburg in Buchform erscheinen lassen. Im
Schluß dieser Denkschrift nun finden sich folgende Sätze: "Man kann dem Glauben
huldigen, daß jeder Staat im Zuge seiner politischen Entwicklung unvermeidlich
zur Konstitution, als zu einer höheren Regierungsform gelangen muß ... Ich
persönlich teile solche Anschauung nicht, aber ich verstehe sie. . . . Aber man
kann auch anderer, entgegengesetzter Ansicht sein. Man kann glauben -- und
ich selbst bekenne mich zu dieser Überzeugung -- daß die Konstitution ganz
allgemein die "große Lüge unserer Zeit" ist, und daß insbesondere für Rußland
mit seinen verschiedenen Zungen und Stämmen die Anwendung dieser Regie¬
rungsform die Auflösung der staatlichen Einheit bedeuten würde." Und Witte
zitiert daran anschließend Pobjedonoszews Wort: "Schrecklich ist es zu denken,
was bei uns geschehen müßte, wenn uns das Geschick einmal das verhängnis¬
volle Geschenk eines -- altrussischen Parlaments zuteil werden lassen sollte!
Möge es niemals geschehen!*)"

Sollte zwischen dieser ungewöhnlichen Veröffentlichung gerade zu dieser Stunde
und der neuerlichen Annäherung zwischen dem Zaren und dem Schöpfer des Oktober-



") Graf S. I. Witte, ?o povoäu njepnlosknosti sskonov xossjuäsrstwennoj
stiisni IV 376 S, Se. Petersburg 1914 bei Brockhaus-Esron, S. 212.

Kommisston zu setzen. Zwei Fliegen sollen mit dieser Klappe erlegt werden:
dem Auslande,' aber auch dem russischen Volke soll gezeigt werden, daß die
Bureaukratie durchaus nicht wünsche, zu den früheren Verhältnissen zurückzu¬
kehren, unter denen sie mit den Steuergroschen des Landes unkontrolliert
wirtschaften konnte, und dann: der Zar scheint sich doch die Dienste des
Grafen Witte sichern zu wollen; zum Ministerpräsidenten konnte er ihn, an»
gesichts der allgemeinen Unbeliebtheit des Grafen, ja, der Wut, die gegen
ihn in allen Kreisen herrscht, noch nicht wieder machen; der Posten eines Finanz¬
ministers unter Goremykin mag Witte nicht mehr begehrenswert erscheinen. So geht
meine Ansicht dahin, daß die Rolle des Grafen Witte in Rußland noch nicht
ausgespielt ist, so sehr auch der Schein dagegen spricht: Witte genießt in den
maßgebenden Finanzkreisen in Berlin und Paris eine solche Fülle persönlichen
Vertrauens, daß eine Regierung, die, wie eben die russische, ihre sämtlichen
politischen Kräfte zusammenfaßt, um eine bestimmte, wenn auch noch nicht deutlich
sichtbare Aufgabe durchzuführen — daß eine solche Regierung unmöglich eine Per¬
sönlichkeit wie Witte außerhalb stehen lassen kann. Für meine Auffassung von
Wildes Zukunft spricht auch noch ein Umstand, den ich doch nicht unerwähnt
lassen möchte: Graf Witte hat, scheinbar ohne jede äußere Veranlassung, seine
Denkschrift gegen die Sjemstwo-Organisation aus dem Jahre 1899, ein geheimes
Dokument, das bisher nur in der illegaler und unvollständigen Ausgabe von Peter
Struve (1901) bekannt war, in Petersburg in Buchform erscheinen lassen. Im
Schluß dieser Denkschrift nun finden sich folgende Sätze: „Man kann dem Glauben
huldigen, daß jeder Staat im Zuge seiner politischen Entwicklung unvermeidlich
zur Konstitution, als zu einer höheren Regierungsform gelangen muß ... Ich
persönlich teile solche Anschauung nicht, aber ich verstehe sie. . . . Aber man
kann auch anderer, entgegengesetzter Ansicht sein. Man kann glauben — und
ich selbst bekenne mich zu dieser Überzeugung — daß die Konstitution ganz
allgemein die »große Lüge unserer Zeit« ist, und daß insbesondere für Rußland
mit seinen verschiedenen Zungen und Stämmen die Anwendung dieser Regie¬
rungsform die Auflösung der staatlichen Einheit bedeuten würde." Und Witte
zitiert daran anschließend Pobjedonoszews Wort: „Schrecklich ist es zu denken,
was bei uns geschehen müßte, wenn uns das Geschick einmal das verhängnis¬
volle Geschenk eines — altrussischen Parlaments zuteil werden lassen sollte!
Möge es niemals geschehen!*)"

Sollte zwischen dieser ungewöhnlichen Veröffentlichung gerade zu dieser Stunde
und der neuerlichen Annäherung zwischen dem Zaren und dem Schöpfer des Oktober-



") Graf S. I. Witte, ?o povoäu njepnlosknosti sskonov xossjuäsrstwennoj
stiisni IV 376 S, Se. Petersburg 1914 bei Brockhaus-Esron, S. 212.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0256" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328356"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1132" prev="#ID_1131"> Kommisston zu setzen. Zwei Fliegen sollen mit dieser Klappe erlegt werden:<lb/>
dem Auslande,' aber auch dem russischen Volke soll gezeigt werden, daß die<lb/>
Bureaukratie durchaus nicht wünsche, zu den früheren Verhältnissen zurückzu¬<lb/>
kehren, unter denen sie mit den Steuergroschen des Landes unkontrolliert<lb/>
wirtschaften konnte, und dann: der Zar scheint sich doch die Dienste des<lb/>
Grafen Witte sichern zu wollen; zum Ministerpräsidenten konnte er ihn, an»<lb/>
gesichts der allgemeinen Unbeliebtheit des Grafen, ja, der Wut, die gegen<lb/>
ihn in allen Kreisen herrscht, noch nicht wieder machen; der Posten eines Finanz¬<lb/>
ministers unter Goremykin mag Witte nicht mehr begehrenswert erscheinen. So geht<lb/>
meine Ansicht dahin, daß die Rolle des Grafen Witte in Rußland noch nicht<lb/>
ausgespielt ist, so sehr auch der Schein dagegen spricht: Witte genießt in den<lb/>
maßgebenden Finanzkreisen in Berlin und Paris eine solche Fülle persönlichen<lb/>
Vertrauens, daß eine Regierung, die, wie eben die russische, ihre sämtlichen<lb/>
politischen Kräfte zusammenfaßt, um eine bestimmte, wenn auch noch nicht deutlich<lb/>
sichtbare Aufgabe durchzuführen &#x2014; daß eine solche Regierung unmöglich eine Per¬<lb/>
sönlichkeit wie Witte außerhalb stehen lassen kann. Für meine Auffassung von<lb/>
Wildes Zukunft spricht auch noch ein Umstand, den ich doch nicht unerwähnt<lb/>
lassen möchte: Graf Witte hat, scheinbar ohne jede äußere Veranlassung, seine<lb/>
Denkschrift gegen die Sjemstwo-Organisation aus dem Jahre 1899, ein geheimes<lb/>
Dokument, das bisher nur in der illegaler und unvollständigen Ausgabe von Peter<lb/>
Struve (1901) bekannt war, in Petersburg in Buchform erscheinen lassen. Im<lb/>
Schluß dieser Denkschrift nun finden sich folgende Sätze: &#x201E;Man kann dem Glauben<lb/>
huldigen, daß jeder Staat im Zuge seiner politischen Entwicklung unvermeidlich<lb/>
zur Konstitution, als zu einer höheren Regierungsform gelangen muß ... Ich<lb/>
persönlich teile solche Anschauung nicht, aber ich verstehe sie. . . . Aber man<lb/>
kann auch anderer, entgegengesetzter Ansicht sein. Man kann glauben &#x2014; und<lb/>
ich selbst bekenne mich zu dieser Überzeugung &#x2014; daß die Konstitution ganz<lb/>
allgemein die »große Lüge unserer Zeit« ist, und daß insbesondere für Rußland<lb/>
mit seinen verschiedenen Zungen und Stämmen die Anwendung dieser Regie¬<lb/>
rungsform die Auflösung der staatlichen Einheit bedeuten würde." Und Witte<lb/>
zitiert daran anschließend Pobjedonoszews Wort: &#x201E;Schrecklich ist es zu denken,<lb/>
was bei uns geschehen müßte, wenn uns das Geschick einmal das verhängnis¬<lb/>
volle Geschenk eines &#x2014; altrussischen Parlaments zuteil werden lassen sollte!<lb/>
Möge es niemals geschehen!*)"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1133" next="#ID_1134"> Sollte zwischen dieser ungewöhnlichen Veröffentlichung gerade zu dieser Stunde<lb/>
und der neuerlichen Annäherung zwischen dem Zaren und dem Schöpfer des Oktober-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_28" place="foot"> ") Graf S. I. Witte, ?o povoäu njepnlosknosti sskonov xossjuäsrstwennoj<lb/>
stiisni IV   376 S, Se. Petersburg 1914 bei Brockhaus-Esron, S. 212.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0256] Kommisston zu setzen. Zwei Fliegen sollen mit dieser Klappe erlegt werden: dem Auslande,' aber auch dem russischen Volke soll gezeigt werden, daß die Bureaukratie durchaus nicht wünsche, zu den früheren Verhältnissen zurückzu¬ kehren, unter denen sie mit den Steuergroschen des Landes unkontrolliert wirtschaften konnte, und dann: der Zar scheint sich doch die Dienste des Grafen Witte sichern zu wollen; zum Ministerpräsidenten konnte er ihn, an» gesichts der allgemeinen Unbeliebtheit des Grafen, ja, der Wut, die gegen ihn in allen Kreisen herrscht, noch nicht wieder machen; der Posten eines Finanz¬ ministers unter Goremykin mag Witte nicht mehr begehrenswert erscheinen. So geht meine Ansicht dahin, daß die Rolle des Grafen Witte in Rußland noch nicht ausgespielt ist, so sehr auch der Schein dagegen spricht: Witte genießt in den maßgebenden Finanzkreisen in Berlin und Paris eine solche Fülle persönlichen Vertrauens, daß eine Regierung, die, wie eben die russische, ihre sämtlichen politischen Kräfte zusammenfaßt, um eine bestimmte, wenn auch noch nicht deutlich sichtbare Aufgabe durchzuführen — daß eine solche Regierung unmöglich eine Per¬ sönlichkeit wie Witte außerhalb stehen lassen kann. Für meine Auffassung von Wildes Zukunft spricht auch noch ein Umstand, den ich doch nicht unerwähnt lassen möchte: Graf Witte hat, scheinbar ohne jede äußere Veranlassung, seine Denkschrift gegen die Sjemstwo-Organisation aus dem Jahre 1899, ein geheimes Dokument, das bisher nur in der illegaler und unvollständigen Ausgabe von Peter Struve (1901) bekannt war, in Petersburg in Buchform erscheinen lassen. Im Schluß dieser Denkschrift nun finden sich folgende Sätze: „Man kann dem Glauben huldigen, daß jeder Staat im Zuge seiner politischen Entwicklung unvermeidlich zur Konstitution, als zu einer höheren Regierungsform gelangen muß ... Ich persönlich teile solche Anschauung nicht, aber ich verstehe sie. . . . Aber man kann auch anderer, entgegengesetzter Ansicht sein. Man kann glauben — und ich selbst bekenne mich zu dieser Überzeugung — daß die Konstitution ganz allgemein die »große Lüge unserer Zeit« ist, und daß insbesondere für Rußland mit seinen verschiedenen Zungen und Stämmen die Anwendung dieser Regie¬ rungsform die Auflösung der staatlichen Einheit bedeuten würde." Und Witte zitiert daran anschließend Pobjedonoszews Wort: „Schrecklich ist es zu denken, was bei uns geschehen müßte, wenn uns das Geschick einmal das verhängnis¬ volle Geschenk eines — altrussischen Parlaments zuteil werden lassen sollte! Möge es niemals geschehen!*)" Sollte zwischen dieser ungewöhnlichen Veröffentlichung gerade zu dieser Stunde und der neuerlichen Annäherung zwischen dem Zaren und dem Schöpfer des Oktober- ") Graf S. I. Witte, ?o povoäu njepnlosknosti sskonov xossjuäsrstwennoj stiisni IV 376 S, Se. Petersburg 1914 bei Brockhaus-Esron, S. 212.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/256
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/256>, abgerufen am 21.06.2024.