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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

zurückführte, so erhebt jetzt Fürst Wladimir Petrowitsch Meschtscherski seine
Stimme. Aber wie jener, umsonst. Die Agitation ist längst aus der Presse
in die höheren und höchsten Kreise gedrungen und ihr Ziel ist die Person des
Zaren. "Dem Kaiser ist jede Agitation zuwider. Eifersüchtig behütet er seine
selbstherrliche Gewalt vor jeder Einmischung. Nur in diesem einzigen Falle
verbot und hemmte er nicht. Hierdurch entstand ein Zwiespalt zwischen der
offiziellen Politik und den angeblichen Absichten, von denen sich das hiesige und
das ausländische Publikum nach äußeren Anzeichen eine Meinung bilden konnte.
Man nahm an, daß der Kaiser durch seine offizielle Politik gebunden sei, daß
er aber tatsächlich die slavjanophilen Ideen teile und einen Krieg wünsche."

So schrieb Reutern 1877 von Alexander dem Zweiten. Heute geht durch
die Petersburger Gesellschaft die Rede, Nikolaus der Zweite habe sich zwar 1912
geweigert, seine Soldaten marschieren zu lassen, jetzt aber -- er ist nach Livadia ab¬
gereist -- sei er bereit, auch die Armee an der Führung der auswärtigen Politik
teilnehmen zu lassen.

Als einen sicheren Beweis dafür sieht man den Umstand an, daß auch
Hofkreise sich an der Agitation zugunsten militärischen Eingreifens in die Politik
beteiligen.

"Plötzlichen Impulsen." fährt Reutern fort, "seien die Hofkreise schwerlich zu¬
gänglich und würden sich diesen Stimmungen schwerlich hingeben, wenn sie
glaubten, daß es dem Kaiser nicht gefalle." Das Beispiel der dem Hofe nahe¬
stehenden Personen, so wenig ihrer auch sein mögen, hat einen ungeheuern
Einfluß auf die Stärkung der Agitation: "Die einen folgten einfach der Mode,
den anderen machte es Vergnügen, über die Politik der Regierung offen zu
schimpfen, da sie annahmen, daß es in diesem Augenblick nicht gefährlich sei,
womöglich gar gefalle . . ."

Ein Unterschied gegen die achtzehnhundertsiebziger Jahre besteht gegenwärtig
aber doch. Waren damals die Finanzen Rußlands völlig zerrüttet, so befinden
sie sich heute in recht gutem Zustande und -- Frankreich gewährt unter be¬
stimmten Voraussetzungen unbeschränkten Kredit. Auch aus diesem Grunde fühlt
sich die heutige Bureaukratie schon wieder als Herr im Lande, und zwar so
sehr, daß der Gedanke, die Duma aufzulösen und bis auf weiteres keine neue
einzuberufen, ganz offen ausgesprochen wird. Das, was von den Reformen
von 1905 unbedingt beibehalten werden soll, ist der erweiterte Reichsrat und
die Finanzkonimission, zu deren Vorsitzenden Graf Witte noch kurz vor seiner
Reise nach Paris ernannt worden ist. Es ist die Frage aufgetaucht, ob es
sich empfiehlt, die Finanzkommisfton überhaupt mit weiteren Befugnissen aus¬
zurüsten, das heißt, an die Stelle des bisher selbstherrlichen Finanzministers eine


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Russische Briefe

zurückführte, so erhebt jetzt Fürst Wladimir Petrowitsch Meschtscherski seine
Stimme. Aber wie jener, umsonst. Die Agitation ist längst aus der Presse
in die höheren und höchsten Kreise gedrungen und ihr Ziel ist die Person des
Zaren. „Dem Kaiser ist jede Agitation zuwider. Eifersüchtig behütet er seine
selbstherrliche Gewalt vor jeder Einmischung. Nur in diesem einzigen Falle
verbot und hemmte er nicht. Hierdurch entstand ein Zwiespalt zwischen der
offiziellen Politik und den angeblichen Absichten, von denen sich das hiesige und
das ausländische Publikum nach äußeren Anzeichen eine Meinung bilden konnte.
Man nahm an, daß der Kaiser durch seine offizielle Politik gebunden sei, daß
er aber tatsächlich die slavjanophilen Ideen teile und einen Krieg wünsche."

So schrieb Reutern 1877 von Alexander dem Zweiten. Heute geht durch
die Petersburger Gesellschaft die Rede, Nikolaus der Zweite habe sich zwar 1912
geweigert, seine Soldaten marschieren zu lassen, jetzt aber — er ist nach Livadia ab¬
gereist — sei er bereit, auch die Armee an der Führung der auswärtigen Politik
teilnehmen zu lassen.

Als einen sicheren Beweis dafür sieht man den Umstand an, daß auch
Hofkreise sich an der Agitation zugunsten militärischen Eingreifens in die Politik
beteiligen.

„Plötzlichen Impulsen." fährt Reutern fort, „seien die Hofkreise schwerlich zu¬
gänglich und würden sich diesen Stimmungen schwerlich hingeben, wenn sie
glaubten, daß es dem Kaiser nicht gefalle." Das Beispiel der dem Hofe nahe¬
stehenden Personen, so wenig ihrer auch sein mögen, hat einen ungeheuern
Einfluß auf die Stärkung der Agitation: „Die einen folgten einfach der Mode,
den anderen machte es Vergnügen, über die Politik der Regierung offen zu
schimpfen, da sie annahmen, daß es in diesem Augenblick nicht gefährlich sei,
womöglich gar gefalle . . ."

Ein Unterschied gegen die achtzehnhundertsiebziger Jahre besteht gegenwärtig
aber doch. Waren damals die Finanzen Rußlands völlig zerrüttet, so befinden
sie sich heute in recht gutem Zustande und — Frankreich gewährt unter be¬
stimmten Voraussetzungen unbeschränkten Kredit. Auch aus diesem Grunde fühlt
sich die heutige Bureaukratie schon wieder als Herr im Lande, und zwar so
sehr, daß der Gedanke, die Duma aufzulösen und bis auf weiteres keine neue
einzuberufen, ganz offen ausgesprochen wird. Das, was von den Reformen
von 1905 unbedingt beibehalten werden soll, ist der erweiterte Reichsrat und
die Finanzkonimission, zu deren Vorsitzenden Graf Witte noch kurz vor seiner
Reise nach Paris ernannt worden ist. Es ist die Frage aufgetaucht, ob es
sich empfiehlt, die Finanzkommisfton überhaupt mit weiteren Befugnissen aus¬
zurüsten, das heißt, an die Stelle des bisher selbstherrlichen Finanzministers eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/255>, abgerufen am 21.06.2024.