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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

Ministers Reutern aus dem September 1877, die kürzlich veröffentlicht worden
ist und die die Umstände kennzeichnet, die schließlich zum Ausbruch des Krieges
gegen die Türkei führten*).

Reutern schreibt: "Unsere Vertreter im Orient sahen (unter dem Einfluß
der Presseäußerungen und von Privatbriefen aus Hofkreisen: G. CI.) die
Zirkularnoten und Anweisungen der Regierung lediglich als eine Formalität
an, die nicht die wirklichen Absichten der Regierung wiedergab. . ., es wurde
alles nur als eine notwendige Maske angesehen, die die Eroberungslust ver¬
hüllen sollte. Ich bin durchaus überzeugt, daß der Kaiser... bis zur Mitte
des Jahres 1876 den aufrichtigsten Wunsch hatte, die Sache zu einem fried¬
lichen Ende zu führen . . ., dasselbe glaube ich von Gortschakow, wenn auch in
geringerem Maße. . . Wenn der Kaiser mit mir sprach, so geschah es mit
vollster Offenheit, aus der Seele heraus. Zweifellos wäre es möglich gewesen,
die slawophile Agitation nicht bis zu dem Umfange anschwellen zu lassen, den
sie um die Mitte des Jahres 1876 angenommen hatte... Es lag die volle
Möglichkeit vor. den Zeitungen Einhalt zu gebieten und auf diese Weise die
Verbreitung der Agitation im Publikum und im Volke zu verringern... Ich
bin niemals ein Befürworter der Unterdrückung der Presse gewesen und habe
weder zur Verteidigung meiner Maßnahmen noch zum Schutze meiner Person
zu diesem Mittel meine Zuflucht genommen. Jedes System muß aber folge¬
richtig sein; wenn eine Regierung, welche die Presse wegen ihrer Abneigung
gegen die klassische Bildung verfolgte, sie nicht daran hinderte, den Krieg gegen
die Türkei, England und Osterreich zu predigen, so konnte man daraus nur
den Schlich ziehen, daß diese Regierung selbst auf den Krieg lossteuere und
die Sympathie des Volkes für ihre Offensivpolitik gewinnen wolle. Mit einem
Wort, nur bei Fahrlässigkeit von feiten der Negierung konnte die Agitation
solchen Umfang annehmen, wie es schließlich der Fall war."

Diese vor siebenunddreißig Jahren von dem russischen Staatsmanne nieder¬
gesehriebenen Sätze sind wörtlich, nur mit Austausch der entsprechenden Namen,
zur Kennzeichnung der heutigen Lage zu verwenden. Die Parallele stimmt bis
in Einzelheiten auf den jetzigen Leiter der russischen auswärtigen Politik sowohl,
wie ans die Stimmungen am Hofe. Wie 1876 Fürst Peter Andrejewitsch
Wjasemski in seinen Briefen vor dem heraufziehenden Chauvinismus warnte
und die Zeitungsmache auf eine kleine Clique von einem halben Dutzend Personen



*) Jetzt auch deutsch erschienen in: Die finanzielle Sanierung Rußlands nach der
Katastrophe des Krimkrieges 1862 bis 1878 durch den Finanzminister Michael von Reutern,
herausgegeben bei Georg Reimer, Berlin 1914, und mit einer biographischen Skizze ver¬
sehen von W. Graf Reutern --Baron Rollen. Ein höchst beachtenswertes Dokument zur
Erkenntnis der Regierungszeit sowie der Persönlichkeit Alexanders des Zweiten!
Russische Briefe

Ministers Reutern aus dem September 1877, die kürzlich veröffentlicht worden
ist und die die Umstände kennzeichnet, die schließlich zum Ausbruch des Krieges
gegen die Türkei führten*).

Reutern schreibt: „Unsere Vertreter im Orient sahen (unter dem Einfluß
der Presseäußerungen und von Privatbriefen aus Hofkreisen: G. CI.) die
Zirkularnoten und Anweisungen der Regierung lediglich als eine Formalität
an, die nicht die wirklichen Absichten der Regierung wiedergab. . ., es wurde
alles nur als eine notwendige Maske angesehen, die die Eroberungslust ver¬
hüllen sollte. Ich bin durchaus überzeugt, daß der Kaiser... bis zur Mitte
des Jahres 1876 den aufrichtigsten Wunsch hatte, die Sache zu einem fried¬
lichen Ende zu führen . . ., dasselbe glaube ich von Gortschakow, wenn auch in
geringerem Maße. . . Wenn der Kaiser mit mir sprach, so geschah es mit
vollster Offenheit, aus der Seele heraus. Zweifellos wäre es möglich gewesen,
die slawophile Agitation nicht bis zu dem Umfange anschwellen zu lassen, den
sie um die Mitte des Jahres 1876 angenommen hatte... Es lag die volle
Möglichkeit vor. den Zeitungen Einhalt zu gebieten und auf diese Weise die
Verbreitung der Agitation im Publikum und im Volke zu verringern... Ich
bin niemals ein Befürworter der Unterdrückung der Presse gewesen und habe
weder zur Verteidigung meiner Maßnahmen noch zum Schutze meiner Person
zu diesem Mittel meine Zuflucht genommen. Jedes System muß aber folge¬
richtig sein; wenn eine Regierung, welche die Presse wegen ihrer Abneigung
gegen die klassische Bildung verfolgte, sie nicht daran hinderte, den Krieg gegen
die Türkei, England und Osterreich zu predigen, so konnte man daraus nur
den Schlich ziehen, daß diese Regierung selbst auf den Krieg lossteuere und
die Sympathie des Volkes für ihre Offensivpolitik gewinnen wolle. Mit einem
Wort, nur bei Fahrlässigkeit von feiten der Negierung konnte die Agitation
solchen Umfang annehmen, wie es schließlich der Fall war."

Diese vor siebenunddreißig Jahren von dem russischen Staatsmanne nieder¬
gesehriebenen Sätze sind wörtlich, nur mit Austausch der entsprechenden Namen,
zur Kennzeichnung der heutigen Lage zu verwenden. Die Parallele stimmt bis
in Einzelheiten auf den jetzigen Leiter der russischen auswärtigen Politik sowohl,
wie ans die Stimmungen am Hofe. Wie 1876 Fürst Peter Andrejewitsch
Wjasemski in seinen Briefen vor dem heraufziehenden Chauvinismus warnte
und die Zeitungsmache auf eine kleine Clique von einem halben Dutzend Personen



*) Jetzt auch deutsch erschienen in: Die finanzielle Sanierung Rußlands nach der
Katastrophe des Krimkrieges 1862 bis 1878 durch den Finanzminister Michael von Reutern,
herausgegeben bei Georg Reimer, Berlin 1914, und mit einer biographischen Skizze ver¬
sehen von W. Graf Reutern —Baron Rollen. Ein höchst beachtenswertes Dokument zur
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[0254] Russische Briefe Ministers Reutern aus dem September 1877, die kürzlich veröffentlicht worden ist und die die Umstände kennzeichnet, die schließlich zum Ausbruch des Krieges gegen die Türkei führten*). Reutern schreibt: „Unsere Vertreter im Orient sahen (unter dem Einfluß der Presseäußerungen und von Privatbriefen aus Hofkreisen: G. CI.) die Zirkularnoten und Anweisungen der Regierung lediglich als eine Formalität an, die nicht die wirklichen Absichten der Regierung wiedergab. . ., es wurde alles nur als eine notwendige Maske angesehen, die die Eroberungslust ver¬ hüllen sollte. Ich bin durchaus überzeugt, daß der Kaiser... bis zur Mitte des Jahres 1876 den aufrichtigsten Wunsch hatte, die Sache zu einem fried¬ lichen Ende zu führen . . ., dasselbe glaube ich von Gortschakow, wenn auch in geringerem Maße. . . Wenn der Kaiser mit mir sprach, so geschah es mit vollster Offenheit, aus der Seele heraus. Zweifellos wäre es möglich gewesen, die slawophile Agitation nicht bis zu dem Umfange anschwellen zu lassen, den sie um die Mitte des Jahres 1876 angenommen hatte... Es lag die volle Möglichkeit vor. den Zeitungen Einhalt zu gebieten und auf diese Weise die Verbreitung der Agitation im Publikum und im Volke zu verringern... Ich bin niemals ein Befürworter der Unterdrückung der Presse gewesen und habe weder zur Verteidigung meiner Maßnahmen noch zum Schutze meiner Person zu diesem Mittel meine Zuflucht genommen. Jedes System muß aber folge¬ richtig sein; wenn eine Regierung, welche die Presse wegen ihrer Abneigung gegen die klassische Bildung verfolgte, sie nicht daran hinderte, den Krieg gegen die Türkei, England und Osterreich zu predigen, so konnte man daraus nur den Schlich ziehen, daß diese Regierung selbst auf den Krieg lossteuere und die Sympathie des Volkes für ihre Offensivpolitik gewinnen wolle. Mit einem Wort, nur bei Fahrlässigkeit von feiten der Negierung konnte die Agitation solchen Umfang annehmen, wie es schließlich der Fall war." Diese vor siebenunddreißig Jahren von dem russischen Staatsmanne nieder¬ gesehriebenen Sätze sind wörtlich, nur mit Austausch der entsprechenden Namen, zur Kennzeichnung der heutigen Lage zu verwenden. Die Parallele stimmt bis in Einzelheiten auf den jetzigen Leiter der russischen auswärtigen Politik sowohl, wie ans die Stimmungen am Hofe. Wie 1876 Fürst Peter Andrejewitsch Wjasemski in seinen Briefen vor dem heraufziehenden Chauvinismus warnte und die Zeitungsmache auf eine kleine Clique von einem halben Dutzend Personen *) Jetzt auch deutsch erschienen in: Die finanzielle Sanierung Rußlands nach der Katastrophe des Krimkrieges 1862 bis 1878 durch den Finanzminister Michael von Reutern, herausgegeben bei Georg Reimer, Berlin 1914, und mit einer biographischen Skizze ver¬ sehen von W. Graf Reutern —Baron Rollen. Ein höchst beachtenswertes Dokument zur Erkenntnis der Regierungszeit sowie der Persönlichkeit Alexanders des Zweiten!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/254>, abgerufen am 21.06.2024.